Alterskulturen des Mittelalters und der frühen Neuzeit

Alterskulturen des Mittelalters und der frühen Neuzeit

Organisatoren
Institut für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit (IMAREAL) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
Ort
Krems
Land
Austria
Vom - Bis
16.10.2006 - 18.10.2006
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Von
Matthias Johannes Bauer, Paderborn

Alter, Alte und Altes umgeben den Menschen, jung wie alt, heute wie damals, allgegenwärtig. Dabei ist der Umgang mit dem Phänomen des Alterns, in dem sich Vergänglichkeit ebenso wie langes Leben widerspiegelt, in hohem Maße ambivalent. Das Institut für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit (IMAREAL) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften thematisierte dieses Spannungsfeld in seiner Tagung „Alterskulturen des Mittelalters und der frühen Neuzeit“, die vom 16. bis 18. Oktober 2006 an der Donau-Universität in Krems stattfand.

Den thematischen Einstieg in die Tagung bot der Vortrag von Hans-Werner Goetz, Hamburg. In Stichproben befragte der Referent ausgewählte Quellenbeispiele vor allem zum frühen und hohen Mittelalter. Er setzte das Alter als Realität im Sinne der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Verhältnis zur Mentalität des Menschen dieser Zeitepoche. Altersbeschwerden beispielsweise wurden selbstverständlich als negativ empfunden, während normative Vorstellungen das Alter positiv sahen. Das von Goetz angedeutete Spannungsfeld zwischen Alter und Jugend in Norm und Realität forderte einen differenzierten Blick auf das Tagungsthema: Von „dem“ Alter kann also kaum gesprochen werden.

Über Lebenserwartung und Lebensqualität referierten Martin Illi, Zürich, und Susi Ulrich-Bochsler, Bern. Im ersten Teilreferat wurden schriftliche Aufzeichnungen aus Schweizer Kirchen untersucht. Da vor der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts diese Quellen weitgehend fehlen, ist die Geschichtswissenschaft auf die Hilfe der Anthropologen angewiesen, die vergleichbare Erkenntnisse nur liefern können, wenn bei einer Ergrabung die Belegdauer des Friedhofs und seine Sozialtopographie bekannt sind. Auf die Möglichkeiten der Anthropologie ging Susi Ulrich-Bochsler im zweiten Teil ein. Die Zusammenschau der Methodik eines Historikers und einer Anthropologin zeigte, dass kalendarisches und biologisches Alter zwar in Zusammenhang gebracht werden können, aber wegen externer Einflüsse nicht identisch sein müssen. Lebenserwartungen und Lebensqualitäten hingen von vielerlei Faktoren ab, Einzelschicksale sind stets im Verhältnis zur gesellschaftlichen Position zu bewerten.

Von Seiten der Philosophiegeschichte beleuchtete Alexander Brungs, Zürich, die philosophische Diskussion des Alters vor allem im Kontext der Aristoteles-Rezeption des 13. Jahrhunderts. Er kam zu dem Schluss, dass das Alter an und für sich kein philosophisches Thema war, da Altsein im Wesentlichen als Nachteil gewertet wurde; die mit dem Altern einhergehenden positiven Eigenschaften erwiesen sich nämlich als eine Erscheinung der erlangten Weisheit, nicht des erreichten Alters.

Zur Wahrnehmung und Darstellung von Alter in hagiographischen Quellen referierte Christian Krötzl, Tampere, der vor allem Niederschriften von Zeugenberichten spätmittelalterlicher Kanonisationsprozesse auswertete. Neben der Ungenauigkeit bei der Selbsteinschätzung des Alters beim Einzelnen, zeigte sich vor allem, dass Alter im Allgemeinen nicht als Hindernis in der persönlichen Aktivität gesehen wurde. Eine Normalität des Alters im Sinne der Berufsausübung und Integration in die Gesellschaft wurde sichtbar.

Detlef Goller, Halle-Wittenberg, untersuchte, inwieweit Alter im Minnesang thematisiert wurde. Weibliches und männliches Alter inszenierten als antizipierte Zukunft eine Aufwertung der Gegenwart. Diese, wohl gemerkt gattungsbezogene Sicht auf das Alter ist jedoch ausschließlich eine männliche. Bei Neidhart dagegen wird Alt und Jung synchron in der erzählten Gegenwart als Motiv verwendet. Ob Weisheit und damit verbundene sexuelle Zurückhaltung in der Minnedichtung allgemein eine Tugend aus der Not machte, sei dahingestellt. Ein Altersdiskurs in dieser volkssprachlichen Textgattung lässt sich deutlich beobachten.

Weil sich funktionierende Sprichwörter von der Gesellschaft kollektiv dechiffrieren lassen müssen, sah Wernfried Hofmeister, Graz, darin ein großes Potenzial, um Rückschlüsse auf damalige Verhältnisse zuzulassen. Anhand einiger Parömien aus Freidanks Bescheidenheit zeigte er vor dem Hintergrund „unangenehmer“ Lehrsätze, dass das Alter in dieser stark normativen Literatur nicht frei von ironischer Brechung ist.

Ruth-E. Mohrmann, Münster, verfolgte das Kongressthema anhand frühneuzeitlicher Gemälde. Weil Lebensstufen wandelbare Konstrukte sind, die gesellschaftlich bedingt sind, wurden die herangezogen Quellen jedoch nicht als Spiegel der Realität befragt. Vielmehr stand im Fokus der Betrachtung die Körperhaltung vor allem sitzender Menschen und ihre Lesbarkeit hinsichtlich der Einstellung zum (eigenen) Alter. Dabei bildeten Würde durch Weisheit und das Laster der Krankheit die beiden Pole, die sich in den Bildern erkennen ließen.

Altersstufen sind in der volkssprachlichen Epik in hohem Maße präsent, doch blenden sie vor allem im Alter die Zeit aus, wie Claudia Brinker-von der Heyde, Kassel, darstellte. Dabei gibt es zwei vorherrschende Modelle: eine allgemeine Zeitlosigkeit einerseits und ein zeitliches Kontinuum andererseits, das einhält beim Umschlagspunkt vom Aufwärts- zum Abwärtstrend der individuellen menschlichen Entwicklung. Alter ist in der höfischen Epik also kein kalendarisches System, sondern ein Zustand im Sinne des literarischen Motivs.

Ingrid Bennewitz, Bamberg, spürte in der lehrhaften deutschen Literatur des Mittelalters über weite Teile eine hohe Wertschätzung der Kategorie „Alter“ auf – sofern sich die jeweiligen Repräsentanten auch regel- und „alters“-gemäß verhielten. Die Verschränkung von weisen Jungen und unreifen Alten wird ebenso wie eine Parallelführung der Attribute in normativen Texten stilisiert und inszeniert ein Ideal der Weiblichkeit in Jugend und Alter.

Einer durchweg positiven und eben nicht „bösen“ Repräsentation alter Frauen war Lucie Dolezalova, Prag, auf der Spur. Es gibt einige heilige Großmütter, wie beispielsweise die Hl. Ludmilla (Großmutter des hl. Wenzel) oder die Hl. Olga (Großmutter des Hl. Vladimir) oder die vielleicht prominenteste Vertreterin, die Hl. Anna (Mutter Marias). In der verehrungswürdigen Darstellung dieser alten Frauen wurde die Natur transzendiert, indem bspw. in bildlichen Darstellungen eine Großmutter ihr Enkelkind stillt.

Wolfgang Dinkelacker, Göttingen, untersuchte den kulturhistorischen Quellenwert anhand von Belegen aus der mittelalterlichen Heldendichtung. Die herausgegriffenen Helden sind alt und alterslos zugleich; ihnen werden Kompetenzen aus der Jugend gelassen und ebenso Erfahrung und Lebensklugheit zugesprochen. Doch sie leben dieses Alter in einer literarischen Welt.

Ob es Altentötung als Sitte oder Institution im späten Mittelalter gab und wie das Altwerden nach Volkserzählungen thematisiert wurde, prüfte Dietz-Rüdiger Moser, München. Alte Menschen stellten im Untersuchungszeitraum prinzipiell (noch) keine Bedrohung für die jungen Menschen dar. Man kann deshalb und nach einer genauen Durchmusterung einschlägiger „Belege“ die vorgebliche „Altentötung“ selbst als Märchen im Sinne einer „unwahren, aber vergnüglich anzuhörenden Geschichte“ ansehen. In Wahrheit, so Moser, bestand die Auseinandersetzung mit Alten stets im Sinne des 4. Gebots.

Albert Classen, Tucson, zeigte, dass in spätmittelalterlichen Maeren das Thema Alter durchaus komplex behandelt wurde. Die Protagonisten sind zwar selten alte Menschen, doch tauchen Alte oft als Nebenfiguren mit großem Einfluss auf die Jungen auf. Ein Diskurs über diese wichtige, nicht unproblematische Stufe im Leben eines Menschen ist in der spätmittelalterlichen Maerendichtung deutlich wahrnehmbar.

Den stereotypen, aber bipolaren Umgang mit dem Alter in niederländischen Gemälden und Drucken aus dem 16. und 17. Jahrhundert schenkte Anouk Janssen, Amsterdam, Beachtung. Die meisten Traditionen, in denen diese Kunstwerke stehen, gehen auf Vorbilder der Antike zurück.

Katalin Szende, Budapest, beleuchtete Ruhestands-Verträge in ungarischen Städten des Mittelalters. Im Unterschied zum übrigen Europa, wo völlig fremde Personen im Sinne eines Geschäftsaktes in einen Ruhestands-Vertrag eintreten konnten, waren in Ungarn in erster Linie nahe Verwandte, wie bspw. Neffen, involviert.

Albrecht Dürers Blick auf das Alter untersuchte Sünje Prühlen, Hamburg. In ihrem Ansatz verband sie die historische Bildwissenschaft mit der Einbeziehung möglichst vieler anderer Quellen. Dürers Blick auf das Alter war facettenreich und thematisierte die Würde des Alters, das geistige Leben im Alter oder das aktive Leben alter Menschen.

Josef Ehmer, Wien, brachte Alter und Arbeit bei der „kreativen Elite“ der Renaissance in ein wechselseitiges Verhältnis; beide Aspekte sind heute deutlich voneinander getrennt. Bei den Künstlern der Renaissance-Zeit dagegen ist ein altersbedingter Wandel der Lebensphase von der „vita activa“ zur „vita contemplativa“ nur bei einer Minderheit erkennbar.

Männliche Autobiographien aus der Mittelschicht des 16. Jahrhunderts überprüfte Otto Ulbricht, Kiel, exemplarisch auf die Aussagen über körperliche Veränderungen und Identität im Alter. Die Fallbeispiele zeigten vier unterschiedliche Alterungsprozesse (schnelles Altern – langsames Altern; biologisches Altern – pathologisches Altern) und den Umgang mit dem Altwerden als Einzelschicksale der damaligen Zeit.

Alte Einzelgegenstände im Vermögen des Niederadels und des Bürgertums in Polen im 17. Jahrhundert untersuchte Andrzej Klonder, Warschau. Er erarbeitete dabei ein Überkreuzmodell: Während „alte Dinge“ beim Bürgertum (durch Verkauf) vermögensstiftend waren, waren sie abhängig von der Bedeutung der jeweiligen Genealogie beim Niederadel identitätsstiftend. Darüber hinaus konnte der Faktor Reichtum dieses Modell auf beiden Seiten entscheidend beeinflussen.

Emanuel Braun, Eichstätt, beleuchtete das mittelalterliche Spitalwesen anhand ausgewählter Quellen unter Ausblendung christlicher Ikonographie. Nicht Alte und Kranke, sondern Bedürftige allgemein wurden dort versorgt. Vor allem Spitalabbildungen wurden in Brauns Vortrag in ein Verhältnis mit anderen Quellen gesetzt.

Dem Arzneimittel als ein langes Leben versprechendes Mittel widmete Peter Dilg, Marburg, sein Referat. Altern ist ein biologisches Phänomen und damit ein medizinisches Problem. Eine Erhöhung der Lebenserwartung kann als Erfolg der seriösen Medizin gewertet werden. Aber auch quacksalberische Arzneimittel zur Lebensverlängerung konnten Erfolge verbuchen: Denn vor allem diesen Arzneien war mehr als dem Patienten selbst aus dessen Wunsch nach langem Leben heraus ein ebensolches vergönnt.

Den Abschluss der Tagung bildeten die naturwissenschaftlichen Prozesse des Alterns biologischer Systeme, die Günter Lepperdinger, Innsbruck, vorstellte. Aus dem Verhältnis von maximaler zu mittlerer Lebenserwartung abgeleitet, heißt Altern für Lepperdinger, „über die Garantiezeit zu leben“. Als „wirkliches Merkmal“ für Leben bzw. Tod betrachtete die Naturwissenschaft die Fähigkeit zum Stoffwechsel. Innerhalb der Lebensspanne zwischen Geburt und Tod ist das Altern in einen chronologischen und biologischen Prozess zu differenzieren; es ist (zufälligen) Schädigungen des Organismus und dessen genetischen Grundlagen unterworfen. Dass dieses naturwissenschaftliche Phänomen unabhängig von Epochen, Gesellschaftsschichten und kulturellen Ausdrucksmedien einem regen und ambivalenten Diskurs im Mittelalter und der frühen Neuzeit unterworfen war, zeigte die fruchtbare Tagung des IMAREAL überaus deutlich.

Die Ergebnisse werden in den „Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde“ im Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften erscheinen.


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