Nationale Erinnerungsorte hinterfragt: Neue methodische, interdisziplinäre und transnationale Ansätze

Nationale Erinnerungsorte hinterfragt: Neue methodische, interdisziplinäre und transnationale Ansätze

Organisatoren
Universität Luxemburg, Projekt "Histoire, Mémoire, Identités" (Fonds National de la Recherche, Programme Vivre 02/0/04), Prof. Michel Margue, Sonja Kmec, Benoît Majerus und Pit Péporté
Ort
Luxemburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.11.2006 - 10.11.2006
Url der Konferenzwebsite
Von
Nicole L. Immler, Kulturwissenschaftlerin, Wien

Europa: Erbe und Projekt.
Pierre Noras Konzept der Erinnerungsorte auf dem Prüfstand.

Der Plattenbau, einst Symbol des Erfolgs der sozialistischen Arbeiterklasse ist heute paradigmatisch für das Scheitern der DDR. Ein Erinnerungsort, der nach 1989 eine komplette Umdeutung erfahren hat und nicht zuletzt zu einem Symbol für das Unverständnis zwischen ost- und westdeutscher Erinnerung wurde. Welchen Beitrag kann hier die Debatte um Erinnerungsorte leisten?

Erinnerungsort – in den Diskussionen der 1990er Jahre um Gedenkstätten und Denkmäler hat sich dieser Begriff fest etabliert; trotz oder vielleicht gerade wegen seines metaphorischen und vagen Charakters. Dessen Erfinder, der Soziologe Pierre Nora, schuf eine siebenbändige Sammlung von Orten französischer Selbstvergewisserung, Les lieux de mémoire (1984-1992). Damit setzte er die Nation – in Zeiten ihrer Auflösung im EU-Prozess – neu auf die Agenda. Insbesondere in der Folge der Umbrüche von 1989 haben zahlreiche Länder das populäre Konzept übernommen und modellierten ihre eigenen nationalen Gedächtnisorte, ob in Deutschland, Italien, den Niederlanden oder Ungarn. Kritiker konstatierten eine Renationalisierung der Geschichtsschreibung, einen Exzess von Referenz, der die Komplexität der Gesellschaft vernachlässige, bemängelten die Aussparungen von Minderheiten, Brüchen und Mehrdeutigkeiten und forderten mehr transnationale Perspektiven ein.

Diesen Einwänden will sich ein neues, in Luxemburg konzipiertes Projekt der Erinnerungsorte stellen. Das war der Anlass für ein an der Luxemburger Universität veranstaltetes internationales Kolloquium zum Thema “Nationale Erinnerungsorte hinterfragt: Neue methodische, interdisziplinäre und transnationale Ansätze”. Luxemburg ist eine Grenzregion mit permanent wechselnden Bezügen und widerstreitenden Erinnerungen, mit hohen Immigrationsraten und der Gefahr, in der “europäischen Suppe” verloren zu gehen. Deshalb ist das Projekt auf die Veränderungen und Entwicklungen von Erinnerungsorten ausgerichtet und auf transnationale Gegebenheiten, mit der Frage, so Mitinitiator Michel Margue: Kann eine Analyse von europäischen Gedächtnisorten zu einer europäischen Erinnerung beitragen oder nur zur Dekonstruktion der nationalen Erinnerungstopoi führen?

An theoretischer und programmatischer Literatur fehlt es dazu nicht, jedoch an konkreten empirischen Studien, meint Etienne François. Der Nationalstaat hat zwar in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht an Bedeutung verloren, nicht jedoch als Deutungsparadigma für kollektive Erinnerungen. Um so dringender stellt François die Frage nach dem europäischen Gedächtnis: Es gilt ein Erbe zu identifizieren, jedoch eines, das dem Projekt Europa nutzbar sei, denn Europa sei Erbe und Projekt zugleich.

National versus Europäisch

Was Europa eint und entzweit, sind seine nationalen Mythen, quer durch Europa austauschbare Geschichtsvariationen mit der gleichen Struktur. Wie schnell bei der politischen Verwendung von Erinnerungsorten nationalistische Trugschlüsse nahe liegen, zeigt Martin Reisigls Analyse von politischen Reden: „Ostarrichi“, eine Namensnennung in einer Urkunde aus dem Jahr 996, wurde 1946 (und 1996) in Österreich zur Konsolidierung des angeschlagenen nationalen Selbsbewusstseins ausgiebig gefeiert, obwohl der Name Österreich weder so alt ist, noch das Gebiet des heutigen Österreichs oder Formen von Eigenständigkeit meinte. Ob begriffliche Differenzierungen, wie sie Reisigl einfordert, solchen Mythologisierungen entgegen wirken, ist zu bezweifeln, liegt das Problem doch vor allem in der Anwendung: darin, dass das soziale Gedächtnis auch ohne Fakten auskommt und oft Unvereinbares miteinander verknüpft. Zudem ist es der Anlass, der den erinnerten Gegenstand formt.

Die Gedenktage der 1990er Jahre revitalisierten die Erinnerungsdiskurse, insbesondere die Opferdiskurse, in ganz Europa. Wenn 70 Jahre nach Ausbruch des Bürgerkriegs im spanischen Parlament über ein „Gesetz zur Erinnerung“ zu Gunsten der Opfer diskutiert wird, sind das Signale einer deutlichen Veränderung in der Gesellschaft. Zugleich wird jedoch im Hinblick auf Europa das islamische Erbe bewusst entsorgt, kritisiert Antonio Saez-Arance mit Blick auf den Buchmarkt.
Auch in Polen beobachtet Anne-Sophie Krossa eine starke Auseinandersetzung mit inneren Konflikten. Der Blick auf Europa bleibt ein randständiger ethisch-moralischer, denn die Erinnerung steht im Zentrum der Gesellschaft und polarisiert entlang der politischen Lager. Einen Ausweg sieht Krossa in der Ausrichtung der Erinnerung auf Brüche, Akteure und Konfliktlinien.
Ein Weg den jüngst auch einige Erinnerungstheoretiker eingeschlagen haben. Von einer „Harmoniesüchtigen europäischen Sonntagsrhetorik“ hin zu einer Konfliktkultur, beschreibt Birgit Schwelling den Trend. Statt gemeinsame Symbole zu suchen, plädiere beispielsweise Aleida Assmann „Regeln des verträglichen Umgangs miteinander“ festzulegen, mit deren Hilfe eine Verständigung über eine konfliktreiche Erinnerung gelingen kann. Tony Judt sehe die überstrapazierte Erinnerung sogar grundsätzlich als wenig dienlich für die Zukunft Europas und plädiere für eine einfache Geschichtsschreibung. Nur, wie soll jene aussehen?

Diverse Eurobarometer oder das Verfassungsdebakel haben deutlich gezeigt, dass Europa ‚unten’ nicht angekommen ist. Es ist die breite Masse, die bei der Auseinandersetzung mit Erinnerung oft vergessen wird, kritisiert Maarten van Ginderachter den Fokus auf den Staat, dessen Elite und Institutionen. Dementsprechend groß sei das Wissen über die Produktion von Nationalismus, gering jedoch über dessen Konsumation, also die Identifikationsmuster von unteren Klassen. Es braucht einen Paradigmenwechsel vom Text hin zum Publikum, fordert Ginderachter eine Perspektive „von unten“. In der Denkmallandschaft versuchen Industriedenkmäler solche Lebensrealitäten zu repräsentieren. Hier engagiert sich eine Kinder- oder Enkelgeneration, die verlorenen Arbeitswelten der Väter (Stahlerzeugung, Bergbau) zu erhalten. Nach Jean-Louis Tornatore zeigt es ein Ringen um eine geteilte Erinnerung in den Familien – ähnlich wie es am Buchmarkt in Form der Familienbiographien zu sehen ist – auch ein Ringen um Anerkennung, um Eintritt in die Welt der Erinnerungsorte, die Welt der Bildungsbürger.

Ihr Erinnerungsort par excellence ist das Museum. Auch hier haben die globalen Veränderungen vielerorts bereits einen Wandel ausgelöst, eine Redefinition von nationalen, regionalen oder ethnologischen Museen als Europamuseen, Museen der Kulturen und ähnlichem. Das erfordert interdisziplinäre Zugänge, andere Erinnerungsformen und neue Erzählungen – doch die Mitarbeiter bleiben zumeist die selben, verrät Camille Maze, wie auch die Objekte: der ‚Landarbeiter’ wird zum ‚Immigranten’. Die Betrachtungsweise ist eine neue. Neu ist auch ein europäisches Museumsnetzwerk, gegründet um sich den Herausforderungen Europas zu stellen. Dass dies bisher ein West- und Mitteleuropazentriertes Projekt ist, liegt in den Netzwerken begründet. Da wird nur erneut sichtbar: Die Debatten um europäische Erinnerung sind noch ein weitgehend west- bzw. mitteleuropäisches Projekt, das in Wissenschaft und Politik einem Europa-Diskurs folgt, der die neuen Mitgliedstaaten noch kaum enthält.

Etienne François sieht vor allem in “geteilten Erinnerungsorten” (wie Willy Brandts Kniefall vor dem Denkmal für den Ghetto-Aufstand in Warschau), die als Schnittstelle zwischen Ländern oft ehemalige Freund-Feind-Verhältnisse kristallisieren, das Potential dafür, Verflechtungen zwischen länderspezifischen Gedächtniskulturen und transnationalen Entwicklungen besser zu verstehen. Den Versuch „geteilte Erinnerungen“ zu kreieren, sieht Birgit Schwelling hingegen vielfach als gescheitert an und führt das Beispiel Holocaust an. Jenen als negativen Gründungsmythos ins Zentrum einer europäischen Gedächtnispolitik zu stellen, wurde beantwortet mit einem konkurrierenden Gulag-Gedächtnis. Es folgte der Streit zwischen partikularem (jüdische Opfer) und integrationistischem Opfermodell (alle Opfergruppen). Wo liegt die Zukunft des Konzepts Erinnerungsorte?

Zukunft

Transnationalität, das neue „Zauberwort und Allheilmittel in der gegenwärtigen Geschichtswissenschaft“, sei zu wenig, konstatiert Jacob Vogel und fordert eine stärkere Analyse der „Amalgamierung“ von regionalen und externen Elementen. Horst Carl vermisst vor allem vergleichende Studien, die gerade bei transnationalen Phänomen, wie dem Niedergang der Stahlerzeugung lohnender seien als regional fokussierte Studien. Vernachlässigte Fragen seien auch die zur Vermittlung (Medialität) von Erinnerung oder warum Erinnerungsorte scheitern. Um gewisse Erinnerungsblockaden aufzulösen empfiehlt Rainer Hudemann einen Vergleich zwischen dem Konzept der Erinnerungsorte und dem der Erinnerungskulturen (Assmanns) und ein stärkeres Einbeziehen gruppenspezifischer Erinnerungen (G.O. Oexle).

Ein Beispiel zeigt, worin die Zukunft von Erinnerungsorten liegen könnte. Der „Friede von Utrecht“(1713) ist ein in der Öffentlichkeit vergessener historischer Fakt, nämlich der Beginn des europäischen Einigungs- und Friedensprozesses. Er wurde von einem Künstlerkommitee zum Anlass genommen, das Thema ‚Konfliktbewältigung in Europa’ in Form von Theater, Diskussionen und Konzerten in einem mehrjährigen Zyklus zu thematisieren. Dadurch wurde die Lokalpolitik ebenso beeinflusst wie kulturelle Gruppierungen – und als langfristiger Erfolg wird das „Haus des Dialogs“ bald eröffnet. Durch die Internationalisierung des regionalen Events (Gastspiele) und zugleich einer Relokalisierung von europäischen Themen (Zypern) wird hier unternommen, was Carol Bergami auch für die Grenzregion Luxemburg als Tendenz beschreibt, statt geteilte gemeinsame Bezugspunkte zu schaffen.

Es bleibt zu summieren: Ein Verdienst des Noraschen Konzept war es zweifellos, dass WissenschaftlerInnen quer durch Europa über Erinnerungsorte diskutieren und damit nicht nur über vermeintliche Inhalte, sondern auch über ein Konzept, welches ermöglicht über den prozessualen und konstruktiven Charakter von Erinnerung laut nachzudenken.


Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Klassifikation
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts