Armut und ländliche Gesellschaften zwischen Tradition und Moderne: Philanthropie und Selbsthilfe in Europa, 1850-1930

Armut und ländliche Gesellschaften zwischen Tradition und Moderne: Philanthropie und Selbsthilfe in Europa, 1850-1930

Organisatoren
Teilprojekt B5 „Armut im ländlichen Raum im Spannungsfeld zwischen staatlicher Wohlfahrtspolitik, humanitär-religiöser Philanthropie und Selbsthilfe im industriellen Zeitalter (1860-1975)“ des SFB 600 „Fremdheit und Armut. Wandel von Inklusions- und Exklusionsformen von der Spätantike bis zur Gegenwart“
Ort
Trier
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.10.2006 - 14.10.2006
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Von
Martin Krieger, Universität Trier

In der „Ökonomie des Notbehelfs“ armer Menschen stellte die öffentliche Armenfürsorge nur eine von mehreren Formen der Existenzsicherung dar. Vor allem auf dem Land lag die Versorgung von Armen und Kranken im 19. und weit bis ins 20. Jahrhundert hinein zu einem großen Teil in der Trägerschaft privater, insbesondere konfessioneller Vereinigungen. Die häufig unzulängliche kommunale Armenfürsorge war auf Stiftungsgelder, philanthropische Vereine und private Hilfsmaßnahmen angewiesen. Die Herausbildung eines dualen Systems öffentlicher und privater Fürsorge und der verschiedenen Formen von Privatwohltätigkeit ist für ländliche Gebiete anders als für Städte erst in Ansätzen untersucht worden.

Diese Forschungslücke zumindest teilweise zu füllen, war die Absicht der vom Teilprojekt B5 „Armut im ländlichen Raum im Spannungsfeld zwischen staatlicher Wohlfahrtspolitik, humanitär-religiöser Philanthropie und Selbsthilfe im industriellen Zeitalter (1860-1975)“ des SFB 600 „Fremdheit und Armut. Wandel von Inklusions- und Exklusionsformen von der Spätantike bis zur Gegenwart“ an der Universität Trier veranstalteten Tagung. Diese sollte vor allem Formen der Privatwohltätigkeit und deren Zusammenwirken mit kommunalen und staatlichen Fürsorgeformen auf lokaler und regionaler Ebene in den Blick nehmen.

Vom 12.-14.10.2006 kamen im Studienzentrum Karl-Marx-Haus der Friedrich-Ebert-Stiftung in Trier rund 25 Teilnehmer aus sieben europäischen Ländern zusammen, um den damit verbundenen Fragen in insgesamt vier Sektionen nachzugehen.

Eine einleitende Sektion war dem „Zusammenspiel öffentlicher und privater Fürsorge auf dem Land“ gewidmet. Hierbei ging es darum, den Stellenwert der privaten Wohltätigkeit im Spektrum der jeweils vorhandenen Fürsorgeeinrichtungen zu bestimmen und Determinanten dieser Stellung in Gestalt von politischen Prägungen, gesellschaftlichen Veränderungsprozessen oder gesetzlichen Rahmenbedingungen aufzuzeigen.

Stijn van de Perre (Brüssel) berichtete in seinem Beitrag „Charitable Organizations in Rural Belgium, A Global Overview, 1850-1914“ über erste Ergebnisse einer systematischen Untersuchung belgischer Verzeichnisse von privater und öffentlicher Wohlfahrtseinrichtungen. Ein wesentliches Motiv privater Wohltätigkeit war demnach stets auch deren Gebrauch als Instrument des Machterhalts in ökonomischer, sozialer oder auch moralischer Hinsicht. Dabei nahm die Entwicklung, Differenzierung und Spezialisierung der Einrichtungen immer weiter zu, wobei das Ausmaß dieser Diversifikation im städtischen Bereich generell größer war. In Bezug auf das Verhältnis der privaten Einrichtungen zueinander zeigte sich eine weitreichende personelle und finanzielle Verbindung verschiedener Initiativen auf lokaler Ebene. Die Unterstützung durch kommunale oder staatliche Stellen war hingegen deutlich durch die jeweiligen politischen Präferenzen (liberal, katholisch) der Verwaltungen gekennzeichnet.

Anschließend untersuchte Norbert Franz (Nancy) in seinem Vortrag „Private Stiftungen als tragende Säule kommunaler Fürsorge ländlicher Gemeinden im 19. Jahrhundert: französische und luxemburgische Beispiele“ die Bedeutung einer zunehmenden administrativen Integration der Kommunen in den Gesamtstaat und einer stetigen Ausweitung staatlicher Handlungsfelder für die kommunale Armenfürsorge und die lokale Privatwohltätigkeit. Seine parallele Untersuchung der Aufwendungen direkter kommunaler Armenfürsorge und privater wohltätiger Stiftungen in vier französischen und luxemburgischen Gemeinden ergab, dass die kommunale Armenfürsorge – bei geringem Anteil am Gesamtniveau der kommunalen Ausgaben – erst seit den 1840er Jahren in nennenswerter Größenordnung sichtbar wurde. Norbert Franz konnte zeigen, dass sich kommunale und private Wohltätigkeit in ähnlicher Weise mit einer gesamtstaatlichen vorgegebenen Reglementierung und Organisation nach bürokratischen Prinzipien konfrontiert sahen und immer stärker in den Gesamtstaat integriert wurden.

Mit dem dringenden Bedarf an privater Wohltätigkeit zur Ergänzung staatlicher und kommunaler Leistungen im ländlichen Raum setzte sich unter dem Titel „Unzulänglichkeiten kommunaler Armenfürsorge und die Notwendigkeit privater Wohltätigkeit und Selbsthilfe: Das Beispiel zweier ländlicher Kreise in der Rheinprovinz (Ende 19. Jahrhundert bis 1933)“ Katrin Marx (Trier) auseinander. Ausgehend von der widersprüchlichen Beobachtung einer geringen Inanspruchnahme öffentlicher Unterstützung im ländlichen Raum bei gleichzeitiger zeitgenössischer Attestierung verbreiteter Armut im Untersuchungsgebiet konnte sie mittels einer begrifflichen Differenzierung von Armut und Bedürftigkeit zeigen, dass eine späte Unterstützung von kommunaler Seite mit einem dichten System gegenseitiger Hilfe auf Seiten der Betroffenen korrespondierte. Diesen Befund interpretierte sie jedoch überzeugend nicht als Ausdruck erhöhter ländlicher Solidarität; Unterstützung durch Familie und Nachbarn stellte vielmehr aufgrund einer besonders restriktiven Gewährpraxis der kommunalen Fürsorge im ländlichen Raum eine ständige Notwendigkeit dar. Die Kommunen kamen ihrer originären Aufgabe der Versorgung Bedürftiger nicht ausreichend nach, wenn sie die Messlatte der Bedürftigkeit extrem hoch anlegten und auch private Wohltätigkeit nur mangelhaft unterstützten. Die tatsächliche Versorgung der Armen konnte daher nur als „patchwork“ verschiedener Einkommensquellen im Rahmen einer „economy of makeshifts“ erfolgen.

Im letzten Beitrag dieser Sektion untersuchte Thomas Küster (Münster) die Bedeutung rechtlicher (Neu-)Regelungen und übergreifender technischer und politischer Entwicklungen für die lokalen Fürsorgeverhältnisse am Beispiel der Einführung des Gesetzes über den Unterstützungswohnsitz (USWG) 1870 im Münsterland. Dieses Gesetz habe von seinen Urhebern her im Sinn einer Modernisierung auf die Vereinheitlichung der Fürsorge in Stadt und Land abgezielt, indem der Erhalt eines neuen Wohnsitzes und Fürsorgeanspruchs vom „Willensakt der Gemeinde“ losgelöst und die Mobilität der Landbevölkerung gefördert werden sollte. In der Praxis belastete das Gesetz jedoch die ländlichen Regionen über Ausgleichszahlungen der Provinzialverbände an die Städte überdurchschnittlich. Hinzu trat mit Fortschritten in Medizin und Gesundheitswesen und dem Ausbau der Sozialversicherungen eine zweite Entwicklung, die zusammen mit dem USWG vor allem in den Übergangsgebieten zwischen ländlichen und städtischen Räumen zur vermehrten Niederlassung Bedürftiger und zur Erosion traditionaler Strukturen der Unterstützung führte.

In seinem Kommentar zu dieser Sektion griff Josef Mooser (Basel) die Beiträge vor allem unter dem Blickwinkel der Staatlichkeit von Sozialpolitik auf. Angesichts der politischen Favorisierung privater Wohlfahrt in der aktuellen Diskussion sei in der historischen Rückschau kritisch auf die vielgestaltige und zugleich diffuse Form privater Wohltätigkeit zu verweisen, deren tatsächliche Wirksamkeit nur schwer fassbar sei. Während die Kommunen erst spät als eigentlicher Akteur in der Fürsorge aufgetreten seien, habe sich staatliches Handeln vor allem als Organisationspolitik manifestiert, die vor allem über das Mittel des Verwaltungsrechts Druck auf die Gemeinden ausgeübt habe. Die Abwehrhaltung der Kommunen gegenüber Fürsorgeverpflichtungen sei vor allem Resultat der „traumatischen Erfahrung“ eines ländlichen Pauperismus in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewesen. Die Binnenmigration in städtische Räume habe zudem zu einer gesellschaftlichen Desensibilisierung gegenüber ländlicher Armut geführt, die in der Forschung bis heute nachwirke. Die wirtschaftliche Lage der Betroffenen ließ eine „economy of makeshifts“ als einzige Möglichkeit der Lebensfristung erscheinen. Zwar habe die Sozialversicherung einen strukturellen Einschnitt bedeutet, eine tatsächliche Änderung der Lage habe sich allerdings erst im Zuge eines allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwungs ergeben. Bezogen auf Inklusion und Exklusion im Feld ländlicher Armenfürsorge überwögen in der Praxis eindeutig die exkludierenden Aspekte, eine Änderung sei in erster Linie von städtischen Kräften ausgegangen.

In der Diskussion stand zunächst der Begriff der Privatwohltätigkeit im ländlichen Kontext im Mittelpunkt. Zu fragen sei, so Ewald Frie, ob der Begriff des "Privaten" nicht zu sehr Ausdruck einer bürgerlichen Wahrnehmung und im Kontext ländliche Wohlfahrt nur vorsichtig zu verwenden sei. Zudem wurde von mehreren Teilnehmern darauf hingewiesen, dass angesichts ihrer breiten Notwendigkeit im ländlichen Raum vor allem die konfessionellen Formen 'privater' Wohltätigkeit eher als öffentliche Wohlfahrt begriffen werden müssten. Die erkennbaren Veränderungen der ländlichen Fürsorgepraxis regten zudem Überlegungen zur 'Modernität' des Landes im Lichte der zahlreichen historischen Veränderungsprozesse der Zeit an. Die aufkommende Frage nach einem entstehenden Klassencharakter der ländlichen Gesellschaft wurde allgemein zurückhaltend bewertet, stärker als eine allgemeine "traditionale" Haltung der ländlichen Gesellschaft müsse eine stärker lokal orientierte "dörfliche" Position in ihrem jeweiligen Kontext untersucht werden.

In einem Abendvortrag über „Die statistische Erfassung ländlicher Armut als sozialpolitisches Anliegen im alten Österreich (vor 1914)“ stellte Ernst Bruckmüller Bedingungen und Wahrnehmungen ländlicher Armut in Österreich dar. Ausgehend von der sehr heterogenen geographischen, klimatischen, politischen und sozialen Zusammensetzung der Gebiete der k. u. k. Monarchie konnte er zeigen, dass auch die Erscheinungen und Wahrnehmungen ländlicher Armut in einem breiten Spektrum variierten, wobei die Schwelle einer öffentlichen Skandalisierung ländlicher Armut generell erst sehr spät erreicht wurde. Die geringe Aufmerksamkeit für Armutszustände im ländlichen Raum wurde in der anschließenden Diskussion als europaweit erkennbares Phänomen deutlich.

Nachdem in der einleitenden Sektion Position und relative Bedeutung privater Wohltätigkeit erörtert worden war, richteten die Beiträge der Sektion I „Wohltätige Stiftungen, Stifterfamilien und die kommunale Armenfürsorge“ ihren Blick auf die privaten Wohltäter selbst. Im Mittelpunkt stand hierbei die Tätigkeit adliger Stifter und Stiftungen, die eine der wichtigsten Träger von Wohlfahrt und Wohltätigkeit im ländlichen Raum darstellten. Gefragt wurde hier nach spezifischen Profilen adliger Stifter, nach der Bedeutung religiösen Selbstverständnisses oder politischer Profilierung für die Motivation der Akteure.

Zu Beginn der Sektion spürte Tatjana Tönsmeyer (Berlin) in ihrem Beitrag „Adel und Armenfürsorge in Böhmen, 1848-1914“ am Beispiel der Grafen Czernin den Bemühungen böhmischer Hochadliger nach, Wohltätigkeit als Mittel des Autoritäts- und Herrschaftserhalts zu nutzen. Der Verlust rechtlicher Herrschaftsprivilegien und die Ausbreitung staatlicher Behördenstrukturen im 19. Jahrhundert stellten die lokale Herrschaft großgrundbesitzender Adliger in Böhmen in Frage. Zudem waren diese aus ökonomischen Motiven gehalten, potenzielle Arbeitskräfte zur Bewirtschaftung der Güter über Anreize vor Ort zu halten. Wohltätigkeit in Form von Stiftungen oder direkten Unterstützungen Bedürftiger aus dem adligen Vermögen war vor diesem Hintergrund ein probates Mittel. Die Beschränkung auf die eigenen Besitzgebiete sowie die individualisierenden und auf Permanenz gerichteten Akte der Wohltätigkeit lassen sich so als Techniken der wirtschaftlichen und politischen Einfluss- und Herrschaftssicherung begreifen.

In ihrem Beitrag zu „Adelige[n] Armenhausstiftungen im Münsterland“ verwies Kirsten Bernhardt (Münster) auf die hohe praktische Bedeutung zahlreicher adligen Armenstiftungen im Münsterland zwischen 1550 und 1800 vor allem in Form der Institution der Armenhäuser und fragte dann nach den Gründen für eine erkennbare Krise und Auflösungserscheinungen derselben am Ende des 19. Jahrhunderts. Dabei zeigte sie, dass unter den Bedingungen völlig neuer Instrumente der sozialen Sicherung (Sozialversicherungen) und einer prinzipiellen Verbesserung ländlicher Lebensverhältnisse die bisherige Praxis einer zeitgemäßen Interpretation und Adaption der Stiftungsregularien nicht mehr ausreichte, um Attraktivität und Leistungsfähigkeit der Armenhausstiftungen zu erhalten. Als zeitgemäße Nachfolgeinstitutionen der Armenhäuser erwiesen sich – oft unter Übernahme der Kapitalien – kleine von Ordensschwestern geleitete Krankenhäuser, die sich auf die Fortführung einer Teilfunktion der alten Armenhäuser spezialisierten.

Eine europäische Dimension adliger Armenfürsorge präsentierte Bertrand Goujon (Lyon), der unter dem Titel „Re-inventing Seignoral Charity in 19th Century Europe: The Example of the Dukes and Princes of Arenberg” das weitverzweigte Adelshaus der Arenberger und ihre Nutzung von Wohltätigkeit im Bemühen um die Wiederherstellung ihrer früheren sozialen und politischen Autorität nach den revolutionären Umbrüchen des 18. Jahrhunderts vorstellte. Ihre Motive lagen dabei zum einen in einem modernisierenden Wiederaufbau der eigenen Güter und dem Erhalt einer eigenen „ruralisierten“ Lebensführung, auf dem im Vergleich zu den politisch unruhigen Städten als friedlich geltenden Land. Hinzu kam noch eine verstärkte, ultramontan orientierte Religiosität der Arenberger und ein Bewusstsein um familiäre Reputation und nobilitäre Tradition. Ihre Wohltätigkeit übten die Arenberger in vielfältigen Formen (etwa Schul- oder Hospitalbau) aus, wobei die Einschaltung von Mediatoren wie Geistlichen und Wohlfahrtsbüros und die zunehmende Institutionalisierung der Wohltätigkeit kennzeichnend waren. Die Auswahlkriterien für den Empfang von Hilfen – Bedürftigkeit, Leben auf arenberg’schem Gebiet und mögliches Stimmpotenzial bei Wahlen – lassen Prestige und den Gewinn von politischem Einfluss als wesentliche Triebkräfte ihrer Wohltätigkeit sichtbar werden.

In seinem Kommentar kennzeichnete Ewald Frie (Essen) wesentliche Begriffe, Akteure und Triebkräfte der adligen Wohltätigkeit: „Re-Invention“, die Anpassung von Wohltätigkeitsformen an die historischen Gegebenheiten, „Ruralisierung“, die ländliche Verortung des Adels mit der Konsequenz eines direkten Kontaktes zur Bevölkerung und „Territorialisierung“ im Sinne der Bildung informeller Herrschaftsbereiche über die Etablierung affektiver und persönlicher Bindungen zwischen Wohltäter und Empfänger kennzeichneten die Entwicklungen der adligen Wohltätigkeit. Als Akteure erschienen eine höchst heterogene Nobilität mit unterschiedlichem Verhältnis zur jeweiligen Gesellschaft, eine Konkurrenz in Gestalt staatlicher Stellen der Armenfürsorge, welche zunehmende Aufwendungen zur erfolgreichen Durchsetzung der Absichten adliger Wohltäter erforderte, und schließlich die Armen selber, die, obwohl wenig direkt zu beobachten, dennoch allmählich eine aktivere Rolle einnahmen. Als treibende Kräfte adliger Wohltätigkeit seien die Angst vor Unruhe und Umwälzung, der Machterhalt oder –gewinn mittels Wohltätigkeit sowie eine gesteigerte institutionalisierte Religiosität identifizierbar. Letztere ließ religiöse Wohltätigkeit zunehmend als Unterstützung einer Organisation erscheinen, welche oft in Konflikt mit dem modernen, liberalen Staat stand.

Die „Re-Invention“ adliger Wohltätigkeit und ihre Religiosität bildeten auch die wesentlichen Bezugspunkte der anschließenden Diskussion. Erster Begriff erwies sich in seiner Konnotation des „Neuen“ als schwierig, im Verlauf der Debatte zeigte sich, dass er weniger als Neuschöpfung, denn als zeitgemäße Adaption älterer Praktiken an veränderte soziale und politische Rahmenbedingungen verstanden werden muss. In der Frage nach Interpretationen von Wohlfahrt und ihrer gesellschaftlichen Bedeutung konzentrierten sich die Diskutanten vor allem auf die Frage der religiösen Begründung, Ansätze etwa sozialistischer oder liberaler Strömungen blieben außen vor. Für die angeführten Begründungen von Wohltätigkeit wurde dabei eine "innereuropäische Phasenverschiebung" erkennbar. Während in ost-mitteleuropäischen Kontexten noch der alte Tausch von Stiftung und Gebetsleistung für den Stifter verwendet werden konnte, waren vor allem adlige Stifter in den westeuropäischen Ländern und Regionen zunehmend an Gegenleistung in politischer Währung, etwa der Wahlstimmenabgabe im Sinne des Stifters, interessiert.

Die Verbindung von Religion und Wohltätigkeit stand auch in der folgenden Sektion II „Katholische Kongregationen und Vereine im Rahmen der kommunalen Armutsbewältigung“ im Mittelpunkt, in der neben theoretischen Konzepten der katholischen Armenfürsorge auch nach der missionarischen Funktion und dem konkurrierenden Verhältnis zu staatlichen Wohlfahrtskonzepten gefragt wurde.

Die Sektion leitete Patrick Bircher (Trier) mit seinem Vortrag über „Armut und Caritas – Konzepte, Kontroversen und Strategien im katholischen Diskurs des 19. Jahrhunderts zu Fürsorge und Wohltätigkeit in Deutschland“ ein. Gegenstand seiner Betrachtungen waren am Beispiel des Konstanzer „Archiv für die Pastoralkonferenzen“ Überlegungen kirchlicher Vertreter zu Ursachen der Massenarmut in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und Maßnahmen gegen dieselbe. Der spätaufklärerisch beeinflusste Armutsdiskurs argumentierte dabei zunächst auf Grundlage einer einzugehenden Kooperation von Staat und Kirche. Die daraus entstehenden Vorschläge waren bei allen Unterschieden im Detail durch einen strukturierten institutionellen Rahmen der Hilfseinrichtungen und eine grundlegende Differenzierung von bedürftigen und nichtbedürftigen Armen gekennzeichnet. Erkennbar wurden aber bereits Übergangspositionen zu späteren Debatten, die sich stärker an römisch-kurialen Vorstellungen und Weisungen zur Gestalt der Armenfürsorge orientierten und auf einen größeren Handlungsspielraum kirchlicher Caritas abzielten. Einigkeit bestand übereinstimmend über den Zusammenhang von Armut und sittlicher Gefährdung der Betroffenen, der moralischen Beistand und Hilfe auf Grundlage christlicher Werte zu einem integralen Teil aller Konzepte werden ließ.

Das folgende Papier von Yvonne Werner (Lund) „Female Counter-Culture and Catholic Mission: The St. Josephs Sisters in Scandinavia“ behandelte anhand der Aktivitäten der katholischen St.-Josephs-Schwestern in Dänemark von 1856 bis zum Zweiten Vaticanum „weibliche“ Tätigkeitsbereiche und den missionarischen Charakter konfessioneller Wohltätigkeit.

Die missionarische Tätigkeit der Schwestern erstreckte sich vor allem auf die Bereiche von Schule und Erziehung einerseits und Krankenversorgung und Krankenpflege andererseits. Die erste Phase ihrer Tätigkeit zeichnete sich durch vielfache Konflikte mit der mehrheitlich protestantischen Bevölkerung und dem liberal orientierten Staat gegenüber der missionarischen Tätigkeit der Schwestern aus. Erst allmählich – und erleichtert durch ein zunehmendes Verständnis von Religion als Privatsache – wandelte sich dieses Verhältnis in dem Maße von Konfrontation zu Kooperation, wie auf lokaler Ebene das Engagement der Schwestern im Bildungs- und Gesundheitsbereich auf Bedürfnisse der lokalen Verwaltung und Bevölkerung nach preiswerter Versorgung traf. Y. Werner deutete die Kongregation in Skandinavien als Gegenkultur in doppelter Hinsicht. Neben dem Katholizismus als generell fremdem Glaubenssystem in der protestantischen Umgebung, bedeutete die Lebensform der katholischen Kongregation gerade für Frauen gegenüber dem protestantischen Frauenideal der Hausfrau und Mutter zumindest partiell mehr Möglichkeiten einer eigenständigen Verwirklichung und wirkte damit teils sehr attraktiv.

Kristin Suenens und Maarten van Dijck (Löwen) betrachteten im letzten Vortrag dieser Sektion „Competition and Collaboration of Public and Private Poor Relief in West- and East-Flanders, 1830-1880“ Konflikte um die Formen von Wohltätigkeit vor dem Hintergrund der andauernden Auseinandersetzungen zwischen politischem Katholizismus und Liberalismus auf nationaler Ebene. In einer zweigeteilten Studie gaben sie zunächst einen Überblick über die religiösen Wohlfahrtsinstitutionen, den sie in einem zweiten Schritt mittels einer Fallstudie anhand der Marienschwestern von Pittem um die lokale Perspektive erweiterten. Als Hauptkonfliktfeld auf der nationalen Ebene identifizierten sie dabei das Erziehungswesen im liberal regierten städtischen Raum Belgiens. Die Lokalstudie konnte zeigen, dass im Schatten dieser Auseinandersetzungen das Wohlfahrtswesen der lokalen ländlichen Ebene eher von Kooperation statt Konfrontation geprägt war, was zuvorderst darauf zurückzuführen war, dass die Kommunen vor allem finanziell vom privaten Engagement profitierten. Auch generell ist K. Suenens und M. van Dijck zufolge zu erkennen, dass in den eher katholisch regierten ländlichen Gebieten weniger politische Auseinandersetzungen herrschten und Kooperationen auch über den Fall der prokatholischen Regierung 1857 hinweg fortgeführt wurden.

In seinem Kommentar reflektierte Tobias Dietrich (Trier) vor allem die unterschiedlichen Zugangsweisen und methodischen Ansätze der Beiträge, die aber in Bezug auf Inhalte und Erkenntnisinteressen ein hohes Synthesepotenzial besäßen. Während die Beiträge von Patrick Bircher und Yvonne Werner die Innen- bwz. Außenperspektive katholischer Fürsorge im Detail betrachteten, nähmen Kirsten Suenens und Maarten van Dijck über eine Variierung ihres Beobachtungsmaßstabes zwei Ebenen der untersuchten Konflikte zugleich in den Blick. Ausgehend von der Frage nach der gegenkulturellen Deutung der katholischen Kongregationen in Werners Beitrag stellte Tobias Dietrich im Anschluss die Frage nach dem Nutzen einer am Marktmodell orientierten Deutung der religiösen Armenfürsorge. Der erkenntnissteigernde Wert eines solchen Vorgehens läge vor allem in der expliziten Handlungs- und Entscheidungskompetenz aller Marktteilnehmer, die vor allem auf Seiten der betroffenen Armen oft nicht genügend berücksichtigt werde. Dieser Gedanke wurde in der nachfolgenden Diskussion unter den Gesichtspunkten der Bedürfnisentstehung und Bedürfnisartikulation sowie der Frage nach einem Recht auf Unterstützung beleuchtet. Lutz Raphael plädierte an dieser Stelle dafür, die „Alltagskultur des Rechts auf Unterstützung“ zu einem Gegenstand der Forschung zu machen, auch wenn eine Operationalisierung dieser Frage schwierig erscheine.

Die abschließende Sektion III zum Thema „Devianz und Fürsorge“ wandte den Blick der Zielgruppe philanthropischer Bemühungen zu, mit besonderem Fokus auf die verletzlichsten Gruppen der ländlichen Bevölkerung, umherziehende, wohnsitzlose Männer und Frauen der untersten Gesellschaftsschicht. Maria Luddy (Warwick) betrachtete in ihrem Beitrag „Deviancy and welfare. A case study of Magdalen Asylums in Ireland, 1850-1930“ ausgehend von dem Film „The Magdalen Sisters“ (UK/Irland 2002, Regie: Peter Mullan) zunächst die kritische Wahrnehmung dieser Fürsorgeeinrichtungen in der aktuellen Literatur, Film und Kunst dar. Vor dem Hintergrund der vorherrschenden, auf die Situation des 20. Jahrhunderts rekurrierenden Darstellung einer äußerst rigiden Betreuungs- und Fürsorgepraxis in diesen Anstalten war es ihre Absicht, diese Institution stärker in den Kontext ihrer Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte zu stellen. Die Magdalen Asylums entstanden am Ende des 18. Jahrhunderts im Kontext der Prostitutionsbekämpfung und waren lange durch eine freiwillige Zugangs- und Abgangspraxis, eine sozial gemischte Population und durch gegenseitige Beobachtung als dem wesentlichen Mittel der Disziplinierung gekennzeichnet. Erst zwischen 1900 und 1920 wurden die Praktiken in ihrer Qualität rigider und führten zu einem entsprechenden Wechsel in der öffentlichen Wahrnehmung der Einrichtungen. Die Gründe für diesen Wandel seien, so Maria Luddy, noch offen, ebenso wie die Erforschung der Asylums insgesamt erst am Anfang stünde.

Juliane Hanschkow (Trier) untersuchte in ihrem Beitrag „Marginalisierung und Kriminalisierung von Zigeunern in der preußischen Rheinprovinz“ die Verfolgung dieser Gruppe von Seiten preußischer Behörden, mit dem Fokus auf der ärmsten und strukturell am schlechtesten entwickelten Region der preußischen Rheinprovinz, dem Regierungsbezirk Trier. Dabei identifizierte sie als wesentliche Schwierigkeiten in der Beschäftigung mit diesem Thema die ungeklärte Terminologie des „Zigeuner“-Begriffs und die verwaltungsinternen Konflikte über die behördlichen Maßnahmen gegenüber dieser Gruppe. Ihre Untersuchung der Polizeiberichte des Trierer Regierungsbezirks zeigte, dass die Einordnung der Betroffenen als Zigeuner bis zum Ende des Untersuchungszeitraums im wesentlichen auf einer willkürlichen Einschätzung der lokalen Beamten basierte. Das Fehlen einer einheitlichen Linie in der preußischen Zigeunerpolitik führte über das Bestreben der einzelnen Lokalbehörden, das Problem aus dem eigenen Zuständigkeitsbereich zu verdrängen zu einer Politik der Vertreibung, die das erklärte Ziel des Staates, alle Zigeunerfamilien einer sesshaften Lebensweise zuzuführen, in der Praxis konterkarierte. Im Verlaufe der Weimarer Republik erstreckte sich diese Vertreibung zunehmend auf alle Lebensbereiche, nicht nur in räumlicher, sondern auch in ökonomischer und rechtlicher Hinsicht, und bildete schließlich die Basis für die nationalsozialistische Zigeunerverfolgung und den daraus resultierenden Massenmord.

Im abschließenden Vortrag von Aoife Bhreatnach (Maynooth) zu „Tramps, tinkers and beggars: alms and welfare in 1930s County Cork“ untersuchte die Referentin den alltäglichen Umgang der irischen Landbevölkerung mit verschiedenen Gruppen wandernder Armer. Die Analyse verschiedener Materialien der Irish Folklore Comission, wie beispielsweise Schulaufsätzen, erlaubten einen Blick auf die Praktiken der Almosengabe, wobei sich drei unterschiedliche Gruppen von wandernden Armen identifizieren ließen. Unter „tramps“ waren diejenigen zu verstehen, denen mit Kost und Logis für eine oder mehrere Nächte Hilfe gewährt wurde, oft im Ausgleich gegen Nachrichtenübermittlung oder ähnliche Dienste. Als „tinkers“ erscheinen diejenigen, die ihren Unterhalt durch den Verkauf und Handel von Kleinwaren erhielten und „beggars“ bezeichnete schließlich diejenigen, die sich durch Betteln durchzubringen suchten. Der differenzierte Umgang mit den verschiedenen Gruppen erscheint als in der irischen Volkskultur tief verankert und führte dazu, dass sozialstaatliche Instrumente lange Zeit eine marginale Rolle in der Armenfürsorge spielten.

Inga Brandes (Trier) betonte in ihrem Kommentar vor allem den Wert der Untersuchung von Praktiken und Aktivitäten der Betroffenen, der angesichts eines weitgehenden Quellenmangels den Blickwechsel hin zu einer Perspektive der Betroffenen ermögliche. Dafür sei es notwendig, Ausdrucksweisen und Kategorisierungen der Zeitgenossen und ihre semantischen Unterschiede ernst zu nehmen. So ermögliche der Blick auf den Akt des Gebens und die Herausarbeitung der jeweiligen Interpretation durch die Beteiligten, die Beziehungen zwischen Geber und Nehmer, Wohltäter und Empfänger nachzuvollziehen und zu analysieren. Es lasse sich auf diese Weise zeigen, dass die tiefe Verankerung einer Akzeptanz umherziehender Lebensweisen in der irischen Volkskultur dazu beitrug, dass irische Travellers von den staatlichen Stellen um ein Vielfaches liberaler behandelt wurden, als etwa Zigeuner unter der rigiden Verfolgungspraxis preußischer Behörden.

In der anschließenden Diskussion waren vor allem die Konstruktion der Begriffe und Kategorisierungen von Fahrenden und die Veränderungen derselben im Laufe der Zeit Gegenstand der Erörterungen. Von hoher Bedeutung erwies sich dabei das Eigeninteresse der Umwelt an den Kategorien. In Irland stand dem geringen staatliche Interesse an den Wandernden eine vergleichsweise präzise volkskulturelle Differenzierung von „Typen“ von Wanderern und entsprechenden Verhaltenspraktiken der Bevölkerung gegenüber. In Preußen hingegen lag eine diffuse Definition des „Zigeuners“ durchaus im Interesse der handelnden Behörden, eröffnete sie diesen doch einen weiten Ermessensspielraum im Verwaltungshandeln. Veränderungen des Umgangs lassen sich quellenmäßig im irischen Fall bisher nur schwer erfassen. In Deutschland hingegen wurde die Freizügigkeit der als deviant begriffenen Gruppe Zigeuner zunächst immer stärker eingeschränkt bis die als „Reinigungsbemühungen“ semantisch zum Ausdruck gebrachte Randstellung in eine physische Vernichtung umgesetzt werden sollte.

Die abschließende Diskussion stand unter dem Thema „Ein unbeackertes Feld“? Selbsthilfe und ländliche Armut“ und setzte sich mit der geringen Bedeutung von Selbsthilfe der Armen in betrachteten historischen Zeitraums ebenso wie in der modernen Forschung auseinander. In der historischen Forschung, so Lutz Raphael, würden die Themen Armut und Selbsthilfe immer noch eher unverbunden nebeneinander betrieben, würde Selbsthilfe vor allem unter dem Blickwinkel von Demokratisierung oder Solidarität bewertet, nicht aber als Mittel der Armutsbewältigung. Von verschiedener Seite wurde darauf hingewiesen, dass sich in landwirtschaftlich geprägten Regionen zwar durchaus (Klein-)Bauern zur Abwehr der Armut breiter Bevölkerungsschichten in Vereinen und Genossenschaften zusammenschlossen, die Initiative zu derartigen Selbsthilfeeinrichtungen soweit erkennbar aber fast immer nicht von den Armen selber, sondern von wohlhabenderen Ideenträgern ausging. Auch profitierten selten die Angehörigen der untersten Schichten, sondern vor allem diejenigen, die zumindest über kleine Besitztümer verfügten.

Nach drei Tagen intensiver Diskussion ließ die Tagung den Beobachter mit dem Eindruck einer höchst disparaten Erkenntnislage zurück. Armut und Wohltätigkeit in der ländlichen Gesellschaft zeigten sich geprägt von tiefgreifenden regionalen oder gar lokalen Unterschieden. Den wetteifernden Wohlfahrtsanstrengungen staatlicher und adliger Akteure in Konkurrenz um die politische und soziale Herrschaft im Böhmen des 19. Jahrhunderts etwa stand eine weitgehend restriktive Gewährpraxis kommunaler Stellen gegenüber Antragstellern im Moselgebiet gegenüber, welche eine konfessionell getragene Fürsorge für das Auskommen der Betroffenen unentbehrlich werden ließ. Die massiven sozialen und gesellschaftlichen Veränderungen des 19. und 20. Jahrhunderts führten auch auf dem Feld der Wohlfahrt und Wohltätigkeit zu großen Veränderungen. Traditionelle Akteure wie Adlige sahen sich veranlasst, überkommene Praktiken den neuen Notwendigkeiten anzupassen, gleichzeitig ging aus einem zunehmenden Gestaltungsanspruch des Staates ein völlig neuer Akteur im Wohlfahrtsbereich hervor.

Für die zukünftige Forschung resultiert daraus ein umfangreiches Arbeitsprogramm. Angesichts der Diversität der Erscheinungen von Armut und Wohlfahrt ist auch der Begriff der "ländlichen Gesellschaft" immer neu auf seine jeweiligen Inhalt zu prüfen. Eine Vielzahl lokaler, regionaler und nationaler Kräfte und Entwicklungen lassen eine übergreifende Bestimmung zum jetzigen Zeitpunkt unmöglich erscheinen. Detailstudien und Synthesen auch unter europäischer Perspektive sind hier weiterhin gefragt.

Auch die Akteure der Wohltätigkeit und Wohlfahrt in der ländlichen Gesellschaft bleiben ein notwendiger Gegenstand der Untersuchung. Konnte die Konferenz bereits die innere Heterogenität von einer einzelnen Akteursgruppe wie den Adligen aufzeigen, mussten weitere Kräfte in diesem Rahmen beiseite gelassen werden. Die Rolle der protestantischen Kirche etwa blieb an dieser Stelle ebenso unberücksichtigt wie Vorstellungen politischer Strömungen und Parteien oder spezifische Aspekte etwa einer Genderperspektive auf ländliche Armut.

Eine baldige Publikation der Tagungsergebnisse im Rahmen der Schriftenreihe des SFB 600 „Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart“ ist in Aussicht genommen.


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