Die Enzyklopädik der Esoterik. Allwissenheitsmythen und universalwissenschaftliche Modelle in der Esoterik der Neuzeit

Die Enzyklopädik der Esoterik. Allwissenheitsmythen und universalwissenschaftliche Modelle in der Esoterik der Neuzeit

Organisatoren
Andreas Kilcher; Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel; gefördert von der Gerda Henkel Stiftung, Düsseldorf
Ort
Wolfenbüttel
Land
Deutschland
Vom - Bis
28.09.2006 - 30.09.2006
Url der Konferenzwebsite
Von
Andreas Kilcher, Univ. Tübingen

Das 61. Wolfenbütteler Symposion hatte sich zum Ziel gesetzt, die Kopplung esoterischer Diskurse an die Vorstellung der Omniszienz und an enzyklopädische Verfahren zu untersuchen. Die Ausgangshypothese war, dass das esoterische mit dem enzyklopädischen Wissen nicht etwa bloß analog oder gar metaphorisch im Sinne eines "als ob" vergleichbar ist, sondern vielmehr funktional und formal korreliert. Schon auf der elementaren Ebene des Anspruchs ist die Esoterik als enzyklopädisch zu definieren, denn auch sie ist wesentlich vom Willen zu einer Totalität des Wissens geleitet, wie auch immer diese hier gedacht ist: monistisch, pantheistisch, pansophisch, magisch etc. Aber auch in seiner doppelten kategorialen Realisierung, in seiner funktionalen wie formalen Ausdifferenzierung also, erweist sich das esote-rische Wissen als enzyklopädisch. Es realisiert sich, genauer gesagt, insofern als enzyklopädisch, als es auf einer quantitativen Wissensebene bestrebt ist, eine universale Erklärung aller Phänomene zu geben, sowie auf einer qualitativen Wissensebene, alles Wissen in einem Gesamtentwurf anzuordnen und darzustellen. Insofern kann davon ausgegangen werden, dass die Enzyklopädie auch eine Antwort auf die kontrovers debattierte Frage nach der spezifischen Form des esoterischen Wissens enthält. Bündiger formuliert: Esoterik erweist sich als eine Form von Enzyklopädik.

Unter diesem Leitgedanken näherten sich die insgesamt 12 Teilnehmer des Symposions – vermehrt durch zahlreiche, aktiv an der Diskussion beteiligte Gäste aus dem Forschungsfeld ‚Esoterik’, Stipendiaten der HAB und Vertretern der Presse – aus den unterschiedlichsten Blickwinkeln dem Phänomen der esoterischen Enzyklopädik, ohne dabei gleichwohl die Reflexion auf die Grundfigur zu vernachlässigen.

Eröffnet wurde die Tagung durch die Abendvorträge von Bernhard Dotzler (Regensburg) und Robert Stockhammer (Berlin), die je auf ihre Weise esoterische Sprach-konzeptionen thematisierten. Sowohl im Blick auf Leibniz’ binäre Zahlenmuster wie auch in der Analyse universaler Plansprachen konnte gezeigt werden, dass die Vor-stellung der Idealsprache nicht nur grundsätzlich dem Anspruch einer ‚Ursprache’ verhaftet bleibt, sondern sich auch tatsächlich insbesondere aus der kabbalistischen Tradition speist. Unterfüttert wurde diese These durch die Ausführungen Kocku von Stuckrads (Amsterdam) am Folgetag, die sich mit der unmittelbaren Ar-beit am kabbalistischen Korpus auseinander setzten und dabei offen legen konnten, dass die Entstehung groß angelegter philologischer Projekte in der Frühen Neuzeit aufs Engste mit der Faszination einer untergründigen universalen Sprachstruktur verknüpft war.

Die anschließende Sektion beschäftigte sich mit der Vorstellung des Buches als ei-nes Raumes universalen Wissens. Andreas Kilcher (Tübingen) erschloss der Diskussion dabei eine Phänomenologie des ‚absoluten Buches’ indem er anhand zahlreicher Beispiele von Kircher und Lull bis hin zu Blavatsky die Typen des „Weltbuches“, der „großen Kunst“ (womit jene Bücher bezeichnet sind, die Wissen eben nicht abbilden, sondern vielmehr als ‚Wissensmaschinen’ fungieren), des „Zauberbuchs“ (welches nicht nur über das abgebildete magische Wissen, sondern durch die Buchgestalt selbst sein Wirklichkeitsvermögen exponiert) und schließlich das – allen Typen zugrunde liegende – „Urbuch“ als konstitutionelle Varianten esoterischer Literatur dokumentierte. Als Vertiefung dieser Überlegungen legte Philipp Theisohn (Tübingen) die Entstehung und Entwicklung der sog. ‚Sortilegien’ in Spätmittelalter und Früher Neuzeit offen, wobei deutlich wurde, dass sich die Los-bücher zum einen immer mehr enzyklopädischen Mustern annähern, zum anderen aber gerade darin im Übergang zur Neuzeit immer mehr an ‚Welthaltigkeit’ ver-lieren und durch alternative Repräsentationsmodelle des Universellen verdrängt werden.

Historisch in unmittelbarer Nachbarschaft bewegte sich die Sektion „Kabbalistische Enzyklopädiekonzepte“, die insbesondere die universalreligiösen Entwicklungen innerhalb der christlichen Kabbalistik verhandelte. Allison Coudert (Davis, Kalifornien) zeigte auf, wie Francis Mercury van Helmonts Projekt einer christlichen Überformung kabbalistischer Traditionen mit der Entwicklung einer enzyklopädischen Ökonomie einhergeht, wie die Rückführung der Welt auf ihre geheimen Quellen von dem Gedanken einer ‚Neuordnung der Natur’ getragen wird. Yossef Schwartz (Tel Aviv) machte hingegen darauf aufmerksam, dass interkonfessionell die Debatte um das ‚absolute Wissen’ seit Ibn Ezra mit der Debatte um die apostatische Theologie verbunden war: jene omniszienten Ansprüche, welche die sezessionistischen Bewegungen innerhalb der Religionen für sich und gegen die etablierte Exegese aufstellen, werden durch die rabbinischen resp. kirchlichen Autoritäten mit dem Verweis auf den Literalsinn der Schrift gekontert, dessen Erschließung tatsächlich kaum literal ist, sondern im Grunde selbst ein enzyklopädisches Wissen voraussetzt.

Mit einer eigens esoterischen Wissenssystematik beschäftigte sich der Vortrag von Claire Fanger (Ontario), die zu Beginn der Folgesektion „Magische Konstruktionen des Universalen“ die Operationalisierung esoterischer Wissenstradition im scholastischen Kontext in den Blick nahm. Gegenstand war dabei das Liber visionum Johns von Morigny, ein Text, der Praktiken und Systematik der Ars notoria mit der spätmittelalterlichen artes-Systematik überblendete und sich von den rituellen Praktiken der Ars notoria die magische Durchdringung des philosophischen Wissenskanons versprach. Die Transformation eines Systems visionärer Gewalten in ein System mittelalterlicher Episteme ist dabei mit merklichen Verschiebungen der scholas-tischen Wissensordnungen verbunden, wie im Überblick auf die artes-Struktur von Hugo von St.Viktor über Bonaventura bis eben hin zu John von Morigny aufgezeigt werden konnte.

Im Anschluss daran diskutierte Bernd Roling (Münster) am Beispiel der skandinavischen Ethnographie im 18. Jahrhundert – und der Rolle der Finnen und Samen im speziellen -, unter welchen Bedingungen esoterisches Wissen als ‚Ursprungswissen’ sich an ethnographische Zuordnungen bindet, ‚ethnogenetisch’ wird und dabei die ethnographischen Instanzen gerade an die marginalisierte und stigmatisierte Ethne bindet, welche zum Träger des verdrängten Ursprungswissens stilisiert wird.

Der letzte Tag hatte sich der besonderen Stellung der Romantik innerhalb der Traditionslinien esoterischer Enzyklopädik verschrieben. Wouter Hanegraaff (Amsterdam) zeigte am Beispiel der Seherin von Prevorst auf, wie das 19. Jahrhundert die Sybillen als Informationsmaschinen entdeckt, das somnambule Medium mithin nicht mehr als Orakel begreift, sondern vielmehr als eine pythagoräische Rechenmaschine, mit deren Hilfe sich der Befrager unbegrenzt durch Raum und Zeit bewegen kann. Georg Braungart (Tübingen) verstärkte den Fokus auf den Aspekt des Zeitlichen, indem er die romantische Geologie als Hort unterschiedlichster Konzeptionen des ‚Urwissens’ ausmachte und exemplifizierte.

Den Schlusspunkt der Tagung bildete Matthias Erdbeers (Münster) Vortrag über Gustav Theodor Fechners Zend-Avesta, welcher den Versuch unternimmt, auf der Grundlage von Fechners Psychophysik ein ätherisches Informationssystem offen zulegen, das zum einen theologischer Entwurf, zum anderen aber archivpoetisches Konzept sein will – ohne dabei je den Anspruch wissenschaftlicher Objektivität aufzugeben.

Die Tagung wurde in der Presse sehr gut aufgenommen; ein ausführlicher Bericht erschien etwa in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (11. Oktober 2006), der die wissenschaftliche Erforschung der Esoterik an dem hier durchexerzierten Beispiel der Omniszienz des esoterischen Wissens als wichtigen und innovativen Schritt in der Forschung hervorgehoben hat. Weitere Presseberichte werden noch erscheinen.

Die Tagungsbeiträge werden in einem Sammelband publiziert; dafür konnte bereits der Wilhelm Fink Verlag (München/Paderborn) gewonnen werden.