Gesundheit im Wandel: Politikum – Ware – Religionsersatz?

Gesundheit im Wandel: Politikum – Ware – Religionsersatz?

Organisatoren
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin der Universität Köln; Abteilung für Geschichte, Ethik und Philosophie der Medizin der Medizinischen Hochschule Hannover; Lehrstuhl für Moraltheologie der Universität Freiburg; Katholische Akademie Freiburg
Ort
Freiburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.10.2006 - 15.10.2006
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Von
Iris Riwa Osagie, Köln

Die von der Fritz Thyssen Stiftung geförderte Tagung fand im Rahmen des interdisziplinären Projekts „Gesundheit im Wandel (1970-2000) – Historische Untersuchungen zu Medizin, Ethik, Sozialpolitik und Theologie“ unter der Leitung von Daniel Schäfer (Köln), Andreas Frewer (Hannover), Verena Wetzstein und Eberhard Schockenhoff (Freiburg) statt (endgültiges Programm mit allen Referenten und Vortragstiteln siehe http://www.uni-koeln.de/med-fak/igem/mitarbeiter/schaefer/tagungsprogramm.pdf). Unter dem Blickwinkel medizini¬scher, demographischer sowie sozialer Veränderungen wurde die Thematik „Gesundheit im Wandel“ von international renommierten Wissenschaftlern aus Medizin, Bioethik, Theologie, Geschichte etc. analysiert. Historische Wurzeln, gegenwärtige Erscheinungen sowie deren potenzielle Konsequen¬zen wurden aufgeführt und boten die Basis für eine kritische Auseinandersetzung mit deutlich erkennbaren Veränderungen der Gesundheitskonzepte. Die von einem breiten Publikum besuchte Fachtagung ermöglichte facettenreiche Einsichten auf das heutige Verständnis von Gesundheit in einer pluralistischen Gesellschaft.

Die dreitägige Veranstaltung setzte sich aus drei thematisch gebundenen Sektionen mit Übersichtsvorträgen und anschließenden Diskussionen sowie aus einer freien Sektion mit verschiedenen Workshops zusammen.

In ihrem einleitenden Vortrag zeigte die Soziologin Elisabeth Beck-Gernsheim (Erlangen) auf, wie sich die Anforderungen der Gesellschaft an die Medizin veränderten bzw. weiter verändern. Im Zuge der Industrialisierung wurde Gesundheit als Teil der selbstgesteuerten, vorausschauenden Lebensführung des Individuums gesehen. Um auf dem Arbeitsmarkt bestehen zu können, unterlag der Mensch zunehmend dem Leistungszwang, seine Gesundheit auf Dauer gewährleisten zu müssen. Wurde vormals Krankheit als Katharsis auf dem Weg zum Paradies angesehen, weigerte sich nun der moderne Mensch, seinen Zustand als Gabe Gottes hinzunehmen. Beck-Gernsheim gab zu bedenken, dass diese Entwicklung des Gesundheitsbewusstseins bereits neurotische Ausmaße in Richtung eines präventiven Zwangs annähme. Nicht nur der Gesundheits- sondern auch der Verantwortungsbegriff ändere sich.

Die erste Sektion „Geschichte und Medizingeschichte“ eröffnete der Arzt, Philosoph und Medizinethiker Christian Hick (Köln). In seinem Vortrag setzte er sich mit unterschiedlichen Gesundheitsutopien auseinander. Nach der Vorstellung von Rousseau lebte der Mensch im Rahmen von Natur und Schöpfungsordnung in gesundheitlicher Idylle. Durch die sozialen Veränderungen im Zuge der Vergesellschaftung entstand eine ökonomische Differenzierung der Menschen in arm und reich. Diese Ungleichheit bedinge die Krankheit des Menschen aus Mangel bzw. Überfluss. Rousseau sah zwar den Weg zurück ins Paradies der gesundheitlichen Unversehrtheit verwehrt, erkannte jedoch in der menschlichen Sehnsucht nach dem Garten Eden die Möglichkeit der kritischen Reflexion des herrschenden schrankenlosen Fortschritts. Die natürliche Nostalgie ebne den Weg zur Anerkennung der Endlichkeit – das Unvollkommene ist das Ziel. Hick führte weiter aus, dass die gegenwärtigen Entwicklungen in direktem Gegensatz dazu ständen. So solle in der Gentechnik die vollständige Formung des menschlichen Organismus ermöglicht werden. Angedacht sei die radikale genetische Neuordnung, in der die anfälligen Gen-Strukturen eliminiert werden. Es ginge nicht mehr nur um die reine Optimierung („genetic enhancement“); vielmehr fordere der Mensch ein Recht auf Reproduktion ein und übernehme die göttliche Schöpfungsstelle mit Hilfe der Gentechnologie, in der das Vollkommene als Ziel betrachtet werde.

Der Historiker Ralf Forsbach (Bonn/Siegburg) gab mit seinem Vortrag einen geschichtlichen Abriss über die Entwicklung des Gesundheitswesens in Deutschland. Nach der Kostenexplosion im Gesundheitswesen resultierend aus gescheiterten Nachkriegs-Reformen und den Jahren des Wirtschaftswunders konstatierte er seit 1975 konsequente Bemühungen um Kostendämpfung. Während der Ära Kohl wurde 1993 mit Hilfe der SPD durch das Gesundheitsstrukturgesetz die freie Wahl einer Krankenkasse durchgesetzt. Dadurch stieg der Einfluss der Krankenkassen gegenüber dem der Ärzte und anderer Leistungsträger. Im weiteren Verlauf wurden diesen Gruppen für zuviel erbrachte Leistungen entsprechende finanzielle Mittel entzogen. Trotz steigender Eigenbeteilungen der Mitglieder fielen die Beitragssätze dennoch nicht, da entsprechend dem Solidaritätsprinzip mit steigenden Arbeitslosenzahlen die Beiträge auf die Arbeitenden verteilt wurden bzw. werden.

Vom Beispiel der BRD wechselte der Blick zu den Vereinigten Staaten. In einem gemeinsam mit dem Interdisziplinären Ethik-Zentrum der Universität Freiburg veranstalteten öffentlichen Abendvortrag referierte der Sozialhistoriker David Rothman (New York) über die Entwicklung einer so genannten „perfekten Medizin“ für den unperfekten Menschen. So werde in Amerika mit der Stammzellforschung sowie der pharmacogenetic research die „perfekte“ Heilkunde propagiert, ohne dass sichergestellt werden könne, welche Vorstellungen sich tatsächlich bewahrheiten könnten bzw. würden. Als ein Ziel in der Stammzell-Forschung etwa werde der vollkommene und perfekte Mensch verstanden, der Begleiterscheinungen des Alterns – Falten, Demenz, Krankheiten, Tod etc. – überwände. Viele Anhänger und Privatinvestoren schürten ungeachtet zahlreicher ethischer Fragen diese enormen Erwartungen. Die Folge sei u.a. ein hart umkämpfter Markt im Anti-Aging Bereich. Die Medizinsoziologin Sheila Rothman (New York) führte in einem Co-Referat diesen Enhancement-Gedanken weiter aus. Am Anfang der Gentechnologie hätte das Heilen gestanden, von dort sei es lediglich ein kurzer Weg zur anvisierten Optimierung des Menschen gewesen. Beispielsweise kamen Wachstumsfaktoren (GH) ursprünglich nur zur Behandlung von kleinwüchsigen Kindern, denen das Wachstumshormon fehlte, zum Einsatz. Im weiteren Verlauf wurde diese Therapie generalisiert bei Kindern mit der Diagnose Kleinwuchs unabhängig vom tatsächlichen Wachstumshormon-Status verschrieben. In einem letzten Schritt wurde und wird das Medikament zur Steigerung der Muskelmasse bei älteren Menschen eingenommen. Sichtbar werde hier der Wandel von einem rein therapeutischen Eingriff hin zur Steigerung körperlicher Leistungsfähigkeit. Der Wunsch nach Enhancement – am Beispiel der Fettabsaugungseingriffe im Rahmen der Schönheitschirurgie (liposuction-wars) eindrücklich demonstriert – schließe eine Inkaufnahme von Risiken (bis hin zum Tod) ein und beruhe auf einem hohen sozialen Druck, der durch die dominierende Medienpräsenz perfekter Menschen aufrechterhalten werde. Getragen werde diese Entwicklung auch durch die stark betonte Autonomie des Einzelnen, die einen breiten kommerziellen Einsatz fordere.

Die Referenten der zweiten Sektion befassten sich mit den Gesundheitskonzepten im Spektrum der Disziplinen Theologie, Medizin sowie Bioethik. Der evangelische Theologe und Sozialethiker Martin Honecker (Bonn) beschäftigte sich mit der Frage nach Gesundheit als höchstem Gut. Er stellte dabei heraus, dass die Vorstellung von Gesundheit im Zuge des medizinischen Fortschritts – mit eklatanten Veränderungen beispielsweise infolge der genetischen Diagnostik – ein säkulares Phänomen darstelle. Im christlichen Glauben werde demgegenüber das fundamentale Gut Gesundheit nicht als absoluter Wert verstanden. Der christliche Glaube wisse um die gegenseitige Bedingtheit von Gesundheit, Krankheit, Leiden und Tod. Die Heilserwartung des Jenseits beinhalte dabei den Erlösungsgedanken. Christliche Diakonie stellte sich den besonderen Anforderungen im Umgang mit unheilbar Kranken. Es gelte das Ziel zu erreichen, Lebenswürde nicht von Gesundheit abhängig zu machen.

Der Intensivmediziner Ulf Börner (Köln) thematisierte in seinem Vortrag die Grenzen der Medizin. So sei der Einsatz von Medizin heute oft nicht nur an Krankheit gekoppelt. Selbst bei einer Diagnose stehe der kausale Aspekt der Krankheit häufig nicht im Fokus. Nicht selten bildeten psychosomatische Grunderkrankungen die Ursache. Es wäre sinnvoll, in der Medizin kritisch den Menschen als Ganzes zu betrachten, statt in der Forschung die Reaktionen subzellulärer molekularer Strukturen auf Pathologie und Therapie zu betrachten oder die Spezialisierung der stationären Versorgung voranzutreiben. Die an sich notwendige Hochleistungsmedizin trage auf diese Weise maßgeblich zur finanziellen Misere des Gesundheitssystems bei. Börner riet zur individuellen kritischen Betrachtung des Einzelfalles. Er plädierte für die evidenzbasierte Medizin zur Ausschöpfung von Rationalisierungspotenzialen und für den Mut, dort wo irreversibles Sterben bereits begonnen habe, verantwortliche Sterbebegleitung zu beginnen.

Die zweite Sektion endete mit dem Vortrag über das Argument der „Natur des Menschen“ in der Enhancement-Debatte von dem Bioethiker Jens Clausen (Freiburg). Er führte den Doppelcharakter des Menschen an, welcher aus evolutionsbiologischer Sicht Natur- und zugleich auch Kulturwesen sei. Neben dem objektiven (naturbezogenen) Krankheitsbegriff sei auch der subjektive und soziale zu berücksichtigen. In der Enhancement-Diskussion, die von einer Verbesserung der Natur ausgehe, sei es wichtig, zum einen das Nutzen-Risiko-Verhältnis des Eingriffes und zum anderen auch mögliche moralische Bedenken mit einzubeziehen. Die Bedrohung der Menschlichkeit läge unter anderem in der Reduktion auf ein „mechanistisches Menschenbild“, das dem Argument einer natürlichen Vulnerabilität keinen Raum gebe.

Im Abendvortrag stellte der Medizinhistoriker Klaus Bergdolt (Köln) zahlreiche unterschiedliche Gesundheitsdefinitionen und -vorstellungen vor. So bezog sich eine frühe ägyptische Quelle ausschließlich auf die physische Unversehrtheit, während Galen sich für eine ganzheitliche Gesundheitsvorstellung aussprach, die unabdingbar mit philosophischen Aspekten verbunden war. Heutige Vorstellungen von Gesundheit beruhten auf dem „Schweigen“ der Organe: Wenn der Körper sich nicht bemerkbar mache, sei er gesund. In der Vergangenheit wurden auch Krankheiten durchaus als „positiv“, als lehrreiche Lebensjahre (Novalis) angesehen, während heute ein sehr viel anspruchsvolleres Gedankenmodell menschlichen Wohlbefindens vorherrsche, das auch die Pflicht und das Recht auf Gesundheit einschließe.

Eine letzte Sektion gab eine Übersicht über ethische und soziale Perspektiven.

Der Rechtsphilosoph Kurt Seelmann (Basel) griff das Thema „Recht auf Gesundheit?“ auf. Er unterteilte diesen Bereich in drei verschiedene Aspekte: das Recht des aufgeklärten Patienten auf Autonomie (Wohl und Wille), der Anspruch aller Bürger auf eine Mindestversorgung (Wohl und Markt) sowie das Recht des Einzelnen, beispielsweise in der Forschung nicht instrumentalisiert zu werden (Wohl und Würde).

Der Gesundheitsökonom Klaus-Dirk Henke (Berlin) betonte in seinem Vortrag, dass der Wert Gesundheit von gesunden und kranken Menschen unterschiedlich wahrgenommen werde. Für bedenklich halte er die Fixierung der gesundheitspolitischen Diskussion auf die Aspekte Kostensenkung und Budgets in der GKV, da dies der Entwicklung einer Gesundheitswirtschaft im Wege stehe. Eine große Chance zur Entlastung des Gesundheitssystems sehe er im ökonomischen Wachstum des freien Gesundheitsmarktes (u.a. im präventiven Bereich, Wellness, Fitness), durch den neue Arbeitsplätze geschaffen werden könnten. Denn die Grundvoraussetzung für das allgemeine ökonomische Wachstum sei die Gesundheit jedes Einzelnen.

Die Medizinethikerin Elisabeth Hildt (Tübingen) beendete diese Sektion mit dem Thema „Genetische Diagnostik und Patientenautonomie“. Die Analyseergebnisse der genetischen Diagnostik (Auftretenswahrscheinlichkeit einer Krankheit) könnten einerseits als Voraussetzung für verantwortungsvolles Handeln und selbstbestimmte Lebensgestaltung gesehen werden. Da jedoch lediglich eine Auftretenswahrscheinlichkeit, nicht aber das tatsächliche Auftreten von Krankheiten ermittelt werden könne, müssten die auf diese Weise Aufgeklärten mit der unter Umständen schweren Bürde des Wissens weiterleben – als „gesunde Kranke“.

Kleingruppen-Workshops der Nachmittagssektion dienten der Vertiefung einzelner Aspekte des Gesundheitsthemas; die Referenten und Themen waren: Sheila und David Rothman (New York) „Social History and Ethics“, Ulrike Kostka (Freiburg/Münster) „Der Traum von ewiger Schönheit und Jugend. Ein sozialethischer Blick hinter den Körperkult unserer Gesellschaft“, Jürgen Bengel (Freiburg) „Salutogenese als Paradigma einer psychosozialen Medizin?“ sowie Bettina von Jagow (München) „Gesundheit in der Literatur nach 1950“.

In einer die Tagung abschließenden Podiumsdiskussion „Gesundheitsmodelle der Zukunft“ mit Elisabeth Beck-Gernsheim, Ulf Börner, Klaus-Dieter Henke, Klaus Bergdolt und Eberhard Schockenhoff wurden die verschiedenen Aspekte noch einmal kurz aufgegriffen. Im Blick auf den wachsenden multikulturellen Hintergrund in der heutigen Gesellschaft werde man sich zukünftig noch stärker mit unterschiedlichen Gesundheitsvorstellungen auseinandersetzen müssen. Gerade in Hinblick auf die demographischen Perspektiven sei diese Entwicklung jedoch wünschenswert, da die Grundversorgung des Einzelnen ansonsten nicht mehr gewährleistet werden könne. Es solle jedoch an dieser Stelle nicht außer Acht gelassen werden, dass Deutschland in Bezug auf die flächendeckende Gesundheitsversorgung weltweit eine führende Position einnähme. Vielmehr wäre ein Umdenken der Gesellschaft wünschenswert, innezuhalten und Gesundheit als einen ebenso wichtigen integralen Bestandteil des Lebens wie Krankheit und Tod zu begreifen.

In besonderer Weise hat diese Freiburger Tagung mithilfe interdisziplinärer Analysen zeitgeschichtliche Wandlungsprozesse für Gesundheits- und Krankheitskonzepte sowie immanente anthropologische und gesellschaftliche Probleme differenziert erörtert. Eine Publikation der Beiträge in einem zeitnah erscheinenden Tagungsband (voraussichtlich im Franz Steiner Verlag) wird derzeit vorbereitet.


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