Historisches Bewußtsein im jüdischen Kontext

Historisches Bewußtsein im jüdischen Kontext

Organisatoren
Centrum für Jüdische Studien an der Universität Graz
Ort
Graz
Land
Austria
Vom - Bis
10.11.2002 - 12.11.2002
Url der Konferenzwebsite
Von
Gerald Lamprecht, David Herzog Centrum für jüdische Studien Karl Franzens Universität Graz Elisabethstraße 27 8010 Graz

"Historisches Bewußtsein im jüdischen Kontext" war der Titel der diesjährigen Tagung des Centrums für Jüdische Studien an der Universität Graz, die vom 10. bis zum 12. November 2002 in Graz stattfand. Ausgehend von der Tatsache, daß Begriffe wie "Gedächtnis" und "Erinnerung" seit einigen Jahren innerhalb der Kulturwissenschaften und auch der Jüdischen Studien ins Zentrum der Forschungen gerückt sind, versuchten die Veranstalter kulturwissenschaftliche Fragestellungen und Konzepte dieser Art auch auf die jüdische Geschichte anzuwenden. Fragen zu "Gedächtnis" und "Erinnerung", Traditionen in der Historiographie, Spannungsverläufe zwischen historisch-säkularem und religiösem Bewußtsein wie auch der Umgang mit deutsch-jüdischer Beziehungsgeschichte und jüdischer Geschichte durch Juden und Nichtjuden, Maskilim und Vertretern der "Wissenschaft des Judentums" standen ebenso zur Debatte, wie die Aufgabenbereiche und Bedeutungen von Museen und Archiven.

Bei der Frage des Wandels von historischem Bewußtsein wurden die einzelnen Beiträge in fünf unterschiedliche thematische Einheiten unterteilt: "Jüdische Geschichtsschreibung", "Erinnerung und Gedächtnis", "Jüdische Identität", "Jüdische Museen, Archive und Bibliotheken" sowie "Literatur und Philosophie". Diese thematische Unterteilung spiegelte sowohl die Breite der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Thematik als auch den grundsätzlichen interdisziplinären Ansatz der Tagung wider. Der zeitliche Rahmen, in dem sich die einzelnen Beiträge bewegten, reichte vom Mittelalter bis ins 20. Jahrhundert. Der Schwerpunkt der Beiträge lag allerdings auf der Epoche der jüdischen Aufklärung und der "Wissenschaft des Judentums", in der es zu grundlegenden Veränderungen von Parametern jüdischer Identität kam.

Den Eröffnungsvortrag, der die größtenteils nicht aus Österreich stammenden ReferentInnen mit der Situation in Österreich vertraut machte, hielt Heidemarie Uhl (Wien/Graz). Sie zeichnete in ihrem Referat die Transformationen des "österreichischen Gedächtnisses" seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges bis zur Regierungsbeteiligung der FPÖ im Jahr 2000 vor allem anhand von Denkmalsetzungen nach. Dabei unterschied sie zwischen drei Deutungsmustern, die das "österreichische Gedächtnis" und die österreichische Geschichtspolitik nach 1945 bestimmten. Erstens die "Opfertheorie" als offizielles Erklärungsmodell, das Österreich zum ersten Opfer des Nationalsozialismus machte und die Österreicher ihrer Mitverantwortung entband. Zweitens ein innenpolitisches Umschwenken verbunden mit der Integration der österreichischen Nationalsozialisten im Zuge der Wahlen 1949, das man als "double speak" bezeichnen könnte und in dem die "Opfertheorie" weiterhin als offizielles Erklärungsmuster Gültigkeit hatte, nach innen jedoch die Distanzierung zur NS-Zeit aufgehoben wurde. Ausdruck fand dieser Wandel vor allem im Gedenken an die gefallenen Soldaten des Zweiten Weltkrieges. Drittens die Neuinterpretation der Jahre 1938 bis 1945 im Zuge der Ereignisse und Debatten der Jahre 1986 (Waldheim) und 1988 (Ge/Bedenkjahr), womit an die Stelle der kollektiven Opferthese eine kollektive Täterthese zu treten scheint.

In den ersten beiden Panels beschäftigten sich die ReferentInnen mit der Frage der "Jüdischen Geschichtsschreibung". Iveta Vondrášková (Prag) beschäftigte sich mit der jüdischen Historiographie in Böhmen. Anhand der Historiker Peter Beer, Abraham Trebitsch, Marcus Fischer und Salomon Löwisohn zeigte sie die unterschiedlichen Zugänge zur Historiographie und auch die verschiedenen Auffassungen von jüdischer Geschichte im Böhmen des frühen 19. Jahrhunderts.
Der Literaturwissenschafter Michael Nagel (Bremen) referierte über Geschichtsbilder in der deutsch-jüdischen Presse und Belletristik nach 1830. Er zeichnete das sich ab 1830 neu entwickelnde Geschichtsverständnis anhand der unterschiedlichen Positionen der "objektiven" Geschichtsbetrachtungen eines Isaak Marcus Jost auf der einen und der auf ein breites Publikum zugeschnittenen Arbeiten der Gebrüder Phoebus und Ludwig Philippson auf der anderen Seite nach. Ausgehend von diesen Unterschieden widmete er sich noch der Wirkung der Philippsonschen Geschichtsbilder auf die zionistisch geprägte deutsch-jüdische Erzählliteratur in der Zeit von 1933 bis 1938.
Wolfram Drews (Bonn) ging den Koordinaten eines historischen Bewußtseins im Früh- und Hochmittelalter nach. Er machte diese anhand der Familienchronik des Ahimaaz von Oria aus dem Jahr 1054 fest. Demnach stellen die Beziehungen zur Familie, zu Nichtjuden und zu Gott die Paradigmen einer mittelalterlichen historischen Erinnerung dar und können als mittelalterliche Entwicklungen ohne spätantike Traditionslinien bezeichnet werden.
Gerald Lamprecht (Graz) wiederum widmete sich in seinem Beitrag der Bedeutung von Geschichtsschreibung für die Konstruktion jüdischer Identität. Untersuchungsgegenstand war die Jüdische Gemeinde von Graz von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1945. Jüdische und nichtjüdische Historiker versuchten mit unterschiedlichen Strategien und Mitteln eine Verortung jüdischer Identität innerhalb oder außerhalb einer kollektiven Identität der Steiermark zu betreiben, wobei von nichtjüdischer Seite vor allem die einzelnen historischen Vereine und von jüdischer Seite Rabbiner als die bestimmenden Akteure auftraten.
Die europäische Dimension in den Werken der jüdischen Historiker Isaak Markus Jost, Heinrich Graetz und Martin Philippson hob Ulrich Wyrwa (Berlin) hervor. Während sich die europäische Nationalgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert immer mehr von den Ideen und geschichtsphilosophischen Intentionen der Aufklärung entfernte, hielt die jüdische Historiographie an diesen fest, weshalb das Bild von Graetz, Jost und Philippson als vorrangig deutsch-patriotische Historiker zu revidieren ist. Obwohl Philippson zum Beispiel sich selbst als deutsch-patriotischer Historiker sah, hatte er die patriotische Verengung seiner nichtjüdischen Kollegen nicht mitvollzogen und sich auch weiterhin der jüdischen und nichtjüdischen europäischen Geschichte zugewandt.
Marcus Pyka (München) befaßte sich daraufhin eingehender mit dem Geschichtswerk von Heinrich Graetz. Er stellte sich die Frage, ob Heinrich Graetz in seiner "Geschichte" wirklich eine "biographische Methode" angewandt habe, wie dies von Reuven Michael behauptet wird.
Andreas Brämer (Hamburg) strich in seinem Beitrag die biographische Dimension in der jüdischen Historiographie des späten 18. und des 19. Jahrhunderts heraus. Sowohl die Maskilim, die Vertreter der "Wissenschaft des Judentums", als auch das ,positiv-historisch' ausgerichtete Judentum griffen immer wieder auf die rabbinische Biographik zurück, wobei deren Intentionen unterschiedliche waren. Die einzelnen Biographien sollten Ziele der Aufklärung ebenso transportieren wie auch ein unterstützendes Argument für die Emanzipation und Integration sein. Die rabbinische Biographik erfüllte demnach im jeweiligen Umfeld eine identitätsstiftende Aufgabe, sie war Projektion wie auch Grundlage der Identifikation.

"Erinnerung und Gedächtnis" war Thema des dritten Panels. Patrick Krassnitzer (Berlin) ging der autobiographischen und kollektiven Erinnerung jüdischer Frontsoldaten des Ersten Weltkrieges nach. Grundlage seiner Ausführungen bildeten Autobiographien der "German Life Collection der Houghton Library" der Universität Harvard, die anläßlich eines Preisausschreibens in den Jahren 1939 und 1940 entstanden sind. Im Zentrum seiner Betrachtungen stand die Frage der unterschiedlichen Verarbeitung und Erinnerung des Kriegserlebnisses vor dem Hintergrund der erfolgten Flucht und Vertreibung aus Deutschland nach 1933. Dabei arbeitete Krassnitzer zwei Typen von Lebenskonstruktionen heraus. Den "gebrochenen Patriotismus" und die "reprojizierte Entfremdung". Erstere beschreibt den Bruch mit dem Deutschtum nicht mit der Erfahrung des Ersten Weltkrieges (z. B. der sog. "Judenzählung"), sondern vielmehr mit Erlebnissen, die in den Monaten nach dem 30. Jänner 1933 gemacht wurden. Letztere stellt jene Lebenskonstruktion dar, mit der in der autobiographischen Rückschau das Kriegserlebnis, bereits vorhandene Entfremdungsgefühle der Jugendzeit bestätigte.
Lange Zeit wurde die Rolle der Frauen auch in der jüdischen Geschichte marginalisiert. Erst in den letzen Jahren fanden Zugänge und Methoden der Gender Studies Eingang in die Jüdischen Studien. Lisa Silverman (Yale University/Wien) befaßte sich in ihrem Beitrag mit der Rolle von Frauen im historischen Bewußtsein moderner jüdischer Geschichte. Sie ging dabei den Konstruktionen verschiedener Mythen von jüdischen Frauen, die nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden sind, nach. Die jüdische "Salondame", die "jüdisch-amerikanische Prinzessin" wie auch die "jüdische Mutter" wurden dabei einer Analyse unterzogen.
Anke Hilbrenner (Bonn) beschäftigte sich mit dem historischen Werk von Simon Dubnow. Dubnow versuchte mit seinen Arbeiten, einen jüdischen Nationalismus zu begründen und auch eine jüdische nationale Identität zu untermauern. Wie es zur großen Wirkung seines Werkes kommen konnte, stand dabei im Zentrum des Beitrages. Laut Hilbrenner hatte darauf vor allem die jüdische autonome Gemeinde der Kahal großen Einfluß.
Shoou-Huey Chang (Wenzao College/Taiwan) referierte zunächst über Juden in Schanghai und ging in weiterer Folge der Frage von Gedächtnis und Erinnerung und jüdisch-chinesischer Beziehungsgeschichte während des Zweiten Weltkrieges nach. Besondere Beachtung fand dabei das Tagebuch der jiddischen Schauspielerin Rose Shoshana.

Jüdischen Identitäten versuchte das vierte Panel nachzugehen. Esther Kilchmann (Zürich) befaßte sich mit dem Unheimlichen als Basiskonstellation des Deutsch-Jüdischen. Ausgangspunkt der Überlegungen bilden die zwei Schriften von Walter Benjamin (Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages) und Sigmund Freud (Der Mann Moses und die monotheistische Religion). Beide Autoren befaßten sich zu einem Zeitpunkt, in dem sie gewaltsam auf ihr ,Jüdisch-Sein' zurückgeworfen wurden, mit grundsätzlichen Fragen jüdischer Identität, wobei auffällt, daß beide den Akt des Vergessens im Zusammenhang mit dem ,Jüdisch-Sein' hervorhoben und jüdische Identität aufs engste an eine andere Identität banden.
Gabriele von Glasenapp (Bonn) ging der Frage von Geschichte und Erinnerung im jüdisch-historischen Roman des frühen 19. Jahrhunderts nach. Anhand einiger jüdischer Literaten stellte sie zunächst die Genese jüdisch-historischer Literatur dar, um diese dann darauf zu untersuchen, welche Epochen jüdischer und nichtjüdischer Geschichte darin vorkommen, welche Beziehungen zu nichtjüdischen Autoren bestanden und inwieweit diese jüdisch-historischen Erzählungen auch rezipiert wurden.
Tullia Catalan (Triest) setze sich mit der Frage der Formung jüdischer Identität italienischer Juden in der Habsburgermonarchie im Zuge der Revolution von 1848 auseinander. Demnach sind die Ereignisse von 1848 als Beginn eines grundlegenden Wandels jüdischer Identität, der vor allem durch die Bestrebungen der Emanzipation vorangetrieben wird, zu verstehen. Ausgangspunkt und Untersuchungsfeld sind dabei junge jüdische Intellektuelle aus den Städten Triest, Görz, Venedig und Padua.
Andrea Brill (München) referierte über die jüdische Identität bei den Komponisten Alexandre Tansman und Darius Milhuad. Vor allem die Frage der Holocaustverarbeitung in ihren musikalischen Werken stand im Zentrum der Untersuchung. Beide jüdischen Komponisten mußten während des Nationalsozialismus emigrieren und beschäftigten sich in ihren Werken zunehmend mit dem Holocaust. Auffallend ist das Spannungsverhältnis zwischen der Darstellung des Grauens und eher religiösen Fragestellungen im Umgang mit dem Holocaust. Hervorgehoben wurde auch die Bedeutung einer Kontextualisierung der Entstehungszeit und der allgemeinen Umstände der Erschaffung der Werke.

Der Bedeutung von jüdischen Archiven und jüdischen Sammlungen in Museen widmete sich das fünfte Panel. Jens Hoppe (Frankfurt/Main) berichtete über die jüdische Sammlung im Vaterländischen Museum Braunschweig, dem jetzigen Braunschweigischen Landesmuseum. Einerseits ging er den spezifischen Ursachen der Gründung einer jüdischen Sammlung in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts nach, und andererseits beschäftigte er sich mit der Frage ihrer Präsentation im Laufe der Zeit. Der Umgang mit dieser Sammlung wurde dabei gleichermaßen zum Spiegel der Beziehung zwischen Juden und Nichtjuden.
Peter Honigmann (Heidelberg) beschäftigte sich mit dem Projekt des Rabbiners Dr. Brilling zur Errichtung eines jüdischen Zentralarchivs im Nachkriegsdeutschland. Bernhard Brilling, in Posen geboren, wurde in Deutschland ausgebildet, war am Archiv der Synagogengemeinde in Breslau tätig und emigrierte während der NS-Zeit nach Israel. Bereits in Israel formulierte er sein Vorhaben, die Erschaffung eines "Archivs der deutschen Judenheit". Um dieses auch zu verwirklichen, kehrte er in den 50er Jahren nach Deutschland zurück, scheiterte mit seinem Projekt aber nicht zuletzt an den unterschiedlichen Interessen sowohl von jüdischer als auch nichtjüdischer Seite. Realisiert wurde ein Zentralarchiv ähnlich den Plänen Brillings erst 1987 in Form des "Zentralarchivs zur Erforschung der Geschichte der Juden in Deutschland" in Heidelberg.

Im Abschlußpanel wurde das Tagungsthema noch unter dem Blickwinkel von Literatur und Philosophie beleuchtet. Annette Vowinckel (Berlin) setzte sich mit dem Geschichtsbegriff und dem historischen Denken bei Hannah Arendt auseinander. Zwar behauptete Arendt, daß die Geschichte auf Grund ihrer Ungesetzmäßigkeit nicht wissenschaftlich erforschbar sei, schrieb aber nichtsdestotrotz mit "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" und ihren Berichten des Eichmann-Prozesses, die den Untertitel "Ein Bericht von der Banalität des Bösen" trugen, zwei Bücher, die die Nachkriegshistoriographie nachhaltig beeinflussen sollten.
Die Begriffe Tradition, Geschichte und Philologie bei Gershom Scholem standen im Zentrum der Überlegungen von Daniel Weidner (Berlin). Scholem formte sich demnach aus diesen drei Begriffen ein Geflecht, das als Grundlage einer neuen jüdischen Identität gesehen werden kann. Seine Historiographie der Kabbala steht paradigmatisch für eine neue jüdische Identität, die sich mittels Geschichte der Tradition zu versichern suchte.
Die Literaturwissenschafterin Bettina von Jagow (München) widmete sich dem Werk von Ingeborg Bachmann, in dem die Beschäftigung mit der Geschichte der Juden im Nationalsozialismus ein zentrales Element darstellte. Im Fokus der Untersuchungen stand dabei die Frage nach Erinnern und Vergessen im Kontext deutsch-jüdischer Geschichte.
Michaela Wirtz (Aachen) befaßte sich abschließend mit deutsch-jüdischen Schriftstellern im national geprägten 19. Jahrhundert. Wurden im Gefolge der Befreiungskriege die Ideale der Aufklärung von nichtjüdischen Schriftstellern immer weiter verdrängt und von diesen ein als christlich und germanisch bestimmtes Vaterland konstruiert, so hielten jüdische Autoren wie Saul Ascher, Rahel von Varnhagen, Ludwig Börne und Heinrich Heine an den weltoffenen Patriotismusidealen des späten 18. Jahrhunderts fest.

Letztendlich zeigte sich anhand der einzelnen Vorträge recht eindrucksvoll, welch wichtigen Stellenwert historisches Bewußtsein für jüdische Identität hatte und hat. Das Thema wurde von unterschiedlichen Seiten aus betrachtet und es zeigte sich dadurch einerseits die wissenschaftliche Aktualität des Tagungsthemas und anderseits die steigende Interdisziplinarität innerhalb der Jüdischen Studien.
Abschließend sei noch darauf hingewiesen, daß die einzelnen Tagungsbeiträge im Frühjahr 2003 in einem erweiterten Sammelband erscheinen werden.

Kontakt

Gerald Lamprecht
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