Ein „neuer Geist des Kapitalismus“? Formen, Sprache und Praktiken in Netzwerken von Unternehmen seit den 70er Jahren

Ein „neuer Geist des Kapitalismus“? Formen, Sprache und Praktiken in Netzwerken von Unternehmen seit den 70er Jahren

Organisatoren
Exzellenzcluster "Gesellschaftliche Abhängigkeiten und soziale Netzwerke", Universität Trier, Projekt III.6 in Kooperation mit dem "Arbeitskreis für kritische Unternehmens- und Industriegeschichte e.V.", AKKU, und mit Unterstützung der Friedrich Ebert-Stiftung
Ort
Trier
Land
Deutschland
Vom - Bis
29.09.2006 - 30.09.2006
Url der Konferenzwebsite
Von
Christian Marx, Universität Trier

Nachdem Lutz Raphael (Trier) die Veranstaltung eröffnet und der Friedrich-Ebert-Stiftung für ihre freundliche Unterstützung gedankt hatte, leitete Ruth Rosenberger (Trier) mit einem Einführungsvortrag in die Thematik der Tagung ein; in der Tradition des Arbeitskreises sollten die Tragfähigkeit und die Grenzen eines theoretischen Konzeptes überprüft werden. Mit ihrem Befund eines "Neuen Geist des Kapitalismus" haben die französischen Soziologen Luc Boltanski und Eve Chiapello zu Beginn des 21. Jahrhunderts eine weit reichende These aufgestellt.1 Dieser These zufolge habe sich der Kapitalismus in liberal-demokratischen Gesellschaften nach "1968" – getrieben von der gesellschaftlichen Sozialkritik wie von der Künstler- und Intellektuellenkritik – eine neue, zusätzliche Rechtfertigungslogik zugelegt, die in der immer häufigeren Verwendung der "Netzwerkmetapher" zum Ausdruck komme; insofern könne von einem "Netzwerkkapitalismus" gesprochen werden."
Mit Boltanskis und Chiapellos These vom „neuen Geist des Kapitalismus“ habe man ein Konzept zum zentralen Ausgangspunkt der Tagung gemacht, das beanspruche, die Lösung zur Erklärung des paradigmatischen Wandels des Kapitalismus während der 70er und 80er Jahre bereit gestellt zu haben. Zentrales Anliegen der Konferenz sei somit die Tragfähigkeit dieses Konzeptes aus unternehmenshistorischer Perspektive zu untersuchen.
Rosenberger verwies darauf, dass bei der Zusammenstellung der Vorträge ein breiter Zugang gewählt worden sei und grundsätzlich drei komplementäre Untersuchungsebenen unterschieden worden seien, die sich in den Sektionen widerspiegeln würden: Erstens Wissensformen, Semantiken und Diskurse; zweitens Akteure, Konflikte und Prozesse sowie drittens Organisationsstrukturen.

Im ersten Teil der Tagung referierte Paul Windolf (Berlin/Trier) in einem deutsch-amerikanischen Vergleich über die Unternehmensverflechtung im organisierten Kapitalismus zwischen 1896 und 1938. Hierbei präsentierte er in einem ersten Teil das Ego-Netzwerk der Deutschen Bank zwischen 1896 und 1928 und stellte im zweiten Abschnitt dem kooperativen Kapitalismus den Konkurrenzkapitalismus gegenüber. In einem dritten Punkt ging er auf das Problem der sozialen Ordnung in der Ökonomie ein und verwies auf „moral hazards“ im Managerkapitalismus, die Trennung von Eigentum und Kontrolle und dem damit verbundenen „principal-agent-Problem“ sowie auf die begrenzte Haftung von bestimmten Akteuren. Hierdurch kam er zu seinem vierten Teil, in welchem er Netzwerke und die soziale Ordnung behandelte. Im fünften Abschnitt erläuterte Windolf schließlich empirische Ergebnisse: Trotz der insgesamt deutlich niedrigeren Verflechtung in den USA im Vergleich zu Deutschland sei die Verflechtung zwischen Banken und Nichtfinanzunternehmen in den beiden Ländern proportional ähnlich hoch; die These einer Beherrschung durch die Banken in Deutschland müsse deshalb relativiert werden. Schließlich wies Windolf darauf hin, dass der Großteil der intrasektoralen Beziehungen im Bereich der Banken, der Elektrizitätswerke und der Eisenbahn hergestellt worden sei.

Im zweiten Vortrag dieser Sektion berichtete Paul Erker (München) über den Stand der Forschung über Anpassungskrisen von Unternehmen seit den 70er Jahren. Er stellte zunächst fest, dass auf Anpassungskrisen in der Regel keine radikalen Umbrüche folgen, sondern Integrationsprozesse ablaufen würden. Insbesondere befasse sich auch der corporate-governance-Ansatz mit solchen Anpassungskrisen.
Anschließend wies er auf branchen- und unternehmensbezogene Aspekte der Umbruchs- und Krisenphase hin. Danach gab Erker zunächst einige problembezogene Forschungsthemen an und machte Prozesse der Reinventionsprozesse deutlich.
Abschließend behandelte Erker Fluchtpunkte der unternehmenshistorischen Forschung. In den 70er Jahren sei es zum Durchbruch eines virtuellen und vernetzten Modells gekommen. Es habe eine Abkehr von der Konzentration auf die Produktorientierung eingesetzt und einen Wandel von der „visible“ zur „digital hand“ gegeben. Neue theoretische Untersuchungsansätze seien der corporate-governance-Ansatz, neue organisationstheoretische Aspekte sowie Forschungen zur Entstehung und Entwicklung der „IT-based industries“.

Der in der nächsten Sektion (Wissensformen, Semantiken, Diskurse) angekündigte Beitrag von Susanne Draheim (Berlin) zum „Entrepreneur als Chiffre“ musste ausfallen; stattdessen setzte diese Sektion mit dem Vortrag von Laurent Commaille (Metz) ein, der die Unternehmen der traditionellen Sektoren Ende des 20. Jahrhunderts am Beispiel der Eisen- und Stahlindustrie untersucht hat.
Commaille wies darauf hin, dass die Struktur des Kapitals in der Eisen- und Stahlindustrie lange erhalten geblieben sei und eine enge Beziehung zwischen dieser Branche und dem französischen Staat bestanden habe. Nach dem Zweiten Weltkrieg sei man einer weitgehenden Verstaatlichung entgangen und es sei zu Fusionen mehrerer Gesellschaften gekommen. Nachdem der Staat die Eisen- und Stahlindustrie durch Kapital unterstützt hätte, habe in den 80er Jahren eine Verstaatlichung eingesetzt. Dies habe dazu geführt, dass dem französischen Staat vorgeworfen worden sei, dass er den freien Markt behindere. Mittlerweile sei die von ihm beschriebene Struktur des französischen Modells nicht mehr repräsentativ für die Unternehmen in der Eisen- und Stahlindustrie.

In einem weiteren Vortrag dieser Sektion berichtete Werner Bührer (München) über Hanns Martin Schleyer und die Erneuerung des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI) in den 1970er Jahren. Er kennzeichnete zunächst die Anfänge der Reformdebatte, die schon vor der Präsidentschaft Schleyers einsetzte. Insgesamt sei es jedoch erst in den 1970er Jahren zu einem Wechsel im Verhältnis zwischen dem BDI und der SPD gekommen. In diesem Zusammenhang sei der Versuch unternommen worden, sich von den tagespolitischen Abläufen zu distanzieren und neue zukunftsorientierte Ideen aufzunehmen.
Im letzten Abschnitt wurde die BDI-Präsidentschaft von Hanns Martin Schleyer dargestellt. Bestimmte Problembereiche, wie der Arbeitsmarkt oder die Vermögensbildung, sollten durch die Fusion der beiden Verbände deutlicher vorangetrieben werden. Sowohl die Verbände selbst, als auch Schleyer seien jedoch von der Fusionsidee nur wenig begeistert gewesen. Die Widerstände in den beiden Verbänden sowie der Tod von Schleyer seien der Grund dafür, dass die Idee nicht realisiert worden ist.
In Bezug auf das Konzept von Boltanski und Chiapello wurde angemerkt, dass sowohl das von der Tagespolitik distanzierte zukunftsorientierte Denken, als auch der Einzug neuer Akteure und die eingeschränkte Kommunikationsbereitschaft gegenüber den Sozialdemokraten als Zeichen eines „neuen Geistes“ gewertet werden könnten.

Der zweite Tag der Konferenz wurde mit der Sektion „Automobilgipfel“ eröffnet. Manfred Grieger (Wolfsburg) referierte über Produktinnovation und Mitbestimmungsmodernisierung während der Übergangskrise bei Volkswagen zu Beginn des Golf-Zeitalters. Hinsichtlich des Leitgedankens der Tagung sollten im Folgenden Neuentwicklungen in der Produktion und in der Produktentwicklung ab der zweiten Hälfte der 1960er Jahre skizziert werden.
Neben Innovationen durch Neueinstellungen seien auf der Leitungsebene externe Automobilmanager angeworben und eigene Manager ausgebildet worden. Ein bedeutender Schritt in eine neue Richtung sei die Entwicklung des K70 mit NSU gewesen, der als erster Volkswagen einen wassergekühlten Motor besessen habe. Im Juni 1971 habe es zudem einen Beschluss des Vorstands gegeben ab Mitte der 1970er den Passat bei Volkswagen herzustellen.
Im Februar 1975 wurde Toni Schmücker zum Vorstandsvorsitzenden ernannt worden; er habe eng mit dem Betriebsrat zusammengearbeitet, dies sei von einem Teil des Managements mit Verwunderung aufgenommen worden. In der Zusammenarbeit zwischen dem Vorstandsvorsitzenden und dem Betriebsrat sei ein symbolischer Neuordnungsakt zu sehen.

Anschließend gab Stefanie Tilly (Bochum) einen Werkstattbericht und einige Arbeitsthesen zum Thema „Automobilwirtschaft und die Rolle des Automobilverbandes in den 1970er Jahren“ ab. In einem ersten Abschnitt skizzierte sie den Rollenwechsel der Automobilindustrie vom „Zugpferd der Industrie“ zur Industriebranche mit Problemen.
Im zweiten Teil berichtete Tilly über die interessenpolitische Praxis; dabei betonte sie, dass in den Jahren 1973/74 eine konfliktorientierte Phase eingetreten sei. Der Verband der Automobilindustrie (VDA) sei dabei besorgt gewesen, dass es zu einem zu großen Eingreifen in den Wettbewerb komme. Im Konflikt zwischen den Automobilherstellern und den Zulieferern der Branche habe der VDA letztere nur eingeschränkt vertreten. Der VDA habe sich über die Erzeugung von Presseerzeugnissen darum bemüht verstärkt in der Öffentlichkeit aufzutreten und wahrgenommen zu werden.
Abschließend bemerkte Tilly, dass sich der VDA schon vor 1973 zum gesellschaftspolitischen Sprachrohr entwickelt habe und die erste Ölpreiskrise hier eine Katalysatorfunktion übernommen habe. Im Hinblick auf das Leitthema der Tagung wies sie darauf hin, dass der Interessenpolitik ein neuer Rahmen gegeben worden sei; infolgedessen sei es teilweise gerechtfertigt von einem „neuen Geist“ zu sprechen.

Der dritte Vortrag dieser Sektion von Ingo Köhler (Göttingen) befasste sich mit dem Marketing-Management im fachwissenschaftlichen Diskurs und in der unternehmerischen Praxis der Automobilindustrie der 1970er Jahre. In diesem Bereich habe eine Art Marketingrevolution stattgefunden. Der Wandel lasse sich jedoch besser durch die Strukturkrise erklären; hierbei sei der höhere Ersatzbedarf ein Zeichen für eine gewisse Marktsättigung gewesen.
Darüber hinaus müsse man den Blick auf Maßnahmen in den einzelnen Unternehmen richten: Hierbei habe eine Anpassung bzw. Lenkung der Produktion auf die Kundenwünsche stattgefunden. Die neue Bedeutung des Marketings habe sich auch in seiner Stellung in der Unternehmensorganisation widergespiegelt; insbesondere habe sich auch die Kommunikationspolitik verändert.
In seinem Fazit wies Köhler auf zwei wesentliche Aspekte hin: Zum einen sei ein neues Managementkonzept zutage getreten, das Marketing als Steuerungskonzept beinhaltet habe; zum anderen sei es durch das Marketing zur Loslösung von alten Produktionsprozessen gekommen, so dass man im wettbewerbsorientierten Käufermarkt angekommen sei.

In der Sektion „Organisationsstrukturen“ präsentierte zunächst Marius Herzog (Berlin) den Paradigmenwechsel in der Linde AG zwischen 1970 und 1985. Er stützte sich dabei auf das Modell des Organisationslernens. Herzog entwickelte ein akteurszentriertes Modell, das nicht nur das Unternehmen selbst, sondern auch dessen Umwelt und die Wahrnehmung desselben umfasst. Der Vorstandsvorsitzende habe Wissen aus den USA eingebracht, die Zentrale gestärkt, die Produktion auf vier Arbeitsgebiete konzentriert und gleichzeitig einen Ausgleich zwischen ihnen gefördert. Dabei habe er keinen abrupten Umbruch, sondern einen langsamen Veränderungsprozess eingeleitet, der das Familienunternehmen zum Managerkonzern entwickelt habe. Hinsichtlich des Leitgedankens der Konferenz merkte Herzog an, dass der Netzwerkkapitalismus für die Linde AG bis 1985 nicht kennzeichnend gewesen sei und die bei Boltanksi und Chiapello angeführte Künstlerkritik für das Unternehmen keine Rolle gespielt habe.

Im abschließenden Vortrag dieser Sektion referierte Timo Leimbach (München) über Netzwerke zwischen Anbietern und betrieblichen Nutzern von Software am Beispiel der IT-Beratungsstellen. Ein besonderes Kennzeichen dieser Branche sei die Organisation in Netzwerken; weiterhin seien sowohl die schlechte Quellenlage, als auch der geringe Bestand an Sekundärliteratur zu diesem Thema kennzeichnend für diesen ökonomischen Bereich. Nachdem Leimbach den Begriff „Software“ erläutert hatte, stellte er Phasenmodelle und Probleme der Softwareentwicklung vor. Insbesondere hob er hervor, dass sich zu Beginn der IT-Branche vor allem Experten gegenüber gestanden haben, die z.T. im persönlichen Kontakt miteinander kommuniziert haben, während mittlerweile eine heterogene Nutzung von IT-Produkten, d.h. privater und geschäftlicher Gebrauch, stattfinde.

In der Abschlussdiskussion wies Morten Reitmayer (Trier) zunächst auf die in der einführenden Sektion aufgeworfenen Fragen hin. Dabei stellte er mit Blick auf die Tagung fest, dass sich in den 1970er Jahren eine verstärkte Orientierung auf den Käufer erkennen lasse. Es sei jedoch noch nicht vollkommen klar, wodurch Veränderungen in den Unternehmen verursacht worden seien und woher die Dynamik für diese Entwicklungen gekommen sei. Darüber hinaus sei es sinnvoll den Krisenbegriff zu spezifizieren.
In der weiteren Diskussion wurde darauf hingewiesen, dass die Unternehmen erst in den 1970ern nach den Wirtschaftswunderjahren die Marktwirtschaft wirklich wahrgenommen haben. In diesem Zusammenhang sei es zur Entstehung neuer wesentlicher Aspekte gekommen, die gewisse Umorganisationen in den Unternehmen notwendig gemacht und die Ankunft im Kapitalismus bedeutet haben.
Des weiteren gab es unterschiedliche Bewertungen über die Humanisierung der Arbeit und die Einführung von Gruppenarbeitsmodellen. Ebenso wurde der Stellenwert von Mitbestimmung, Mitverantwortung und Selbstverwirklichung angesprochen: Indem man Personen auf unteren Ebenen mehr Verantwortung gebe und auf diese Weise ihr Kreativitätspotenzial nutze, seien die grundlegenden Regeln der Wirtschaftsordnung noch nicht verletzt. Darüber hinaus wurde betont, dass der Gegensatz von Kapital und Arbeit auch nicht durch den begrenzten Einsatz von projektorientierter Arbeit aufgelöst werden könne und ein entscheidendes Merkmal des Kapitalismus seine Wandlungsfähigkeit sei; unter Umständen habe jedoch die gefühlte Zufriedenheit aufgrund der steigenden Anzahl von partizipativen Prozessen zugenommen.
Im Hinblick auf die gesamte Tagung wurde festgestellt, dass die Tragfähigkeit des Konzepts von Boltanski und Chiapello nicht gezeigt werden konnte, da sich nur wenige Beiträge explizit auf diesen Ansatz bezogen haben. Auch wenn während der Konferenz einige Aspekte eines „Neuen Geistes“ in den 1970er Jahren zum Vorschein kamen, steht eine endgültige Bestätigung oder Widerlegung ihres Konzepts durch die Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte noch aus. Die Aufgabe der weiteren Forschung wird es sein, zum einen die Trägergruppen des „Neuen Geistes“ ausfindig zu machen, zum anderen eine Periodisierung der 1970er Jahre zu erarbeiten und diesen Zeitraum in den wirtschaftshistorischen Kontext einzuordnen.

Anmerkungen:
1 Boltanski, Luc / Chiapello, Eve, Der neue Geist des Kapitalismus, Konstanz 2003 [Frz. Original 1999]; Dies., Die Rolle der Kritik in der Dynamik des Kapitalismus und der normative Wandel, in: Berliner Journal für Soziologie 11 (2001), Heft 4, S. 459-477.


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