Landesgeschichte auf dem Prüfstand. Tagung des Instituts für Geschichtswissenschaft, Abteilung für Rheinische Landesgeschichte der Universität Bonn

Landesgeschichte auf dem Prüfstand. Tagung des Instituts für Geschichtswissenschaft, Abteilung für Rheinische Landesgeschichte der Universität Bonn

Organisatoren
Institut für Geschichtswissenschaft, Abteilung für Rheinische Landesgeschichte, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn; Verein für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande
Ort
Bonn
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.09.2006 - 26.09.2006
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Von
Frank Bartsch, Institut für Geschichtswissenschaft, Abteilung für Rheinische Landesgeschichte, Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

„Landesgeschichte auf dem Prüfstand“ lautete das Thema der Arbeitstagung des Instituts für Geschichtswissenschaft, Abteilung für Rheinische Landesgeschichte, der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn, die vom 25. bis 26. September 2006 in Verbindung mit dem Verein für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande im Festsaal der Bonner Universität stattfand. Diese Veranstaltung setzte eine Tradition fort, die in den Herbsttagungen des bisherigen Instituts für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande (IgL), das im Rahmen der Umstrukturierung der Philosophischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn 2006 aufgelöst wurde, ihren Ursprung hat. Von den bisherigen Abteilungen des Institutes wurde

1. die „Rheinische Landeskunde“ als „Abteilung für Rheinische Landesgeschichte“ dem „Institut für Geschichtswissenschaft“ (ehemals „Historisches Seminar“),
2. die „Volkskunde“ und
3. „Sprachforschung“ dem „Institut für Germanistik, Vergleichende Literatur- und Kulturwissenschaft“ zugeteilt.

Das Ziel dieser Tagung bestand aufgrund dieser veränderten Situation darin, ein Resümee der bisherigen wissenschaftlichen Arbeit zu ziehen und gleichfalls Perspektiven und Chancen zukünftiger Forschungsfelder der Landesgeschichte aufzuzeigen. Das Tagungsprogramm umfasste an zwei Tagen insgesamt elf Vorträge. Das große Interesse an diesem Thema wurde durch die hohe Teilnehmerzahl (ca. 160 Personen) unterstrichen.

Nach der Begrüßung führte der Organisator der Tagung und ehemalige Direktor des Instituts für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande, Manfred GROTEN, in die Tagungsthematik ein und skizzierte kurz die gegenwärtige Situation. Groten wies darauf hin, dass die Auflösung und Zerlegung des 1920 gegründeten IgL zwar eine gravierende Zäsur darstelle, es sich hierbei aber in erster Line um einen inneruniversitären Vorgang im Rahmen der allgemeinen Umstrukturierung der Bonner Universität (Unterteilung in zehn Großinstitute) handelt.

Am ersten Tag beleuchteten zunächst Institutsmitarbeiter der einzelnen Abteilungen die bisher geleistete wissenschaftliche Arbeit aus „instituts-interner“ Sicht. Den Anfang des Rückblicks machte Marlene NIKOLAY-PANTER mit einem Vortrag unter dem Titel „Geschichte und methodischer Ansatz des Bonner Instituts". Anhand von Schlüsselbegriffen, die gemeinhin mit der Bonner Schule verbunden werden, nämlich „Geschichtliche Landeskunde“, „Interdisziplinarität“, „Kulturgeschichte“ und „Kulturraumforschung“, beleuchtete Sie die Geschichte des Bonner Instituts. Sie betonte den Wert der landesgeschichtlichen Forschung für die Universalgeschichte, die trotz oder gerade aufgrund des begrenzten Untersuchungsgebietes wichtige Erkenntnisse auch für die allgemeine Geschichte bereitstelle, wie etwa die umfangreichen Forschungen zur Stadtgeschichte (Edith Ennen), zur Geschichte Nordwesteuropas sowie zur fränkischen Epoche. Die durch Detailforschung in und für einen begrenzten Raum gewonnenen Erkenntnisse sollten im Rahmen einer deutschen Geschichte bzw. Kulturgeschichte zugleich paradigmatischen Charakter haben. Anschließend wandte sie sich den Gegenständen der landesgeschichtlichen Forschung zu und beschäftigte sich – ausgehend von den Überlegungen Karl Lamprechts – insbesondere mit der Kulturgeschichte als zentralem Arbeitsgebiet des Bonner Instituts. Das primäre Interesse an der „materiellen Kultur“, an den inneren Zuständen förderte eine interdisziplinäre Zusammenarbeit im Bereich der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, der Kunst- und Sprachgeschichte sowie der Volkskunde und fand seinen Niederschlag in der Einrichtung von zunächst zwei, später drei Abteilungen des IgL (Geschichte, Sprache und Volkskunde). Als erste forschungsleitende Ergebnisse der interdisziplinären Zusammenarbeit am Bonner Institut sind zu nennen

1. der „Geschichtliche Handatlas der Rheinprovinz“ (Hg. v. Hermann Aubin. 1926), der aufgrund seiner statistisch-geographischen Methode die Kulturräume überhaupt erst sichtbar machte, und
2. die „Kulturströmungen und Kulturprovinzen in den Rheinlanden“ (v. Hermann Aubin, Theodor Frings und Josef Müller. 1926), die als ein Grundlagenwerk der Kulturraumforschung angesehen werden können.

Während der NS-Zeit trat die Komponente „Volkstum“ stärker in den Vordergrund. Die Referentin setzte sich bei ihrem chronologisch aufgebauten Vortrag mit der Indienstnahme und -stellung der grenzüberschreitenden Kulturraumforschung durch die Nationalsozialisten auseinander, was nach dem Ende des Dritten Reiches eine Diskreditierung der Kulturraumforschung zur Folge hatte. In diesem Zusammenhang trat seit den 1950er Jahren auch die damit eng verbundene Kartenarbeit zurück. Abschließend hob sie den außeruniversitären Bezug des IgL hervor, der besonders im Bereich der Öffentlichkeitsarbeit (Fortbildungskurse, Vorträge, Arbeitstagungen) und der regen Publikationstätigkeit des IgL („Rheinisches Archiv“, seit 1922 und „Rheinische Vierteljahrsblätter“, seit 1931) sowie in der engen Kooperation mit dem 1925 gegründeten Verein für geschichtliche Landeskunde der Rheinlande und der tatkräftigen Unterstützung durch den Provinzialverband bzw. heute den Landschaftsverband Rheinland (LVR) hervortrat. Resümierend hielt Nikolay-Panter fest, dass, obwohl die interdisziplinäre Arbeit zurückgegangen ist, und trotz der Tatsache, dass das IgL während der NS-Zeit „kein Hort des Widerstands“ gewesen sei, vom IgL entscheidende Impulse für die Forschung ausgegangen seien.

Daran anschließend zog Andreas RUTZ unter dem Titel „In Grenzen unbegrenzt? Historische Forschung am Bonner Institut 1920 – 2005" eine qualitative und quantitative Bilanz aus 85 Jahren Institutsforschung. Rutz verwies zuerst auf die Publikationslisten der Institutsdirektoren, das „Weinsberg-Projekt“ sowie auf die Rheinischen Vierteljahrsblätter. Die Frage der Forschungsschwerpunkte analysierte Rutz anhand der am Institut entstandenen Dissertationen. Dabei konstatierte er, dass der Schwerpunkt vor 1945 vor allem im Bereich der Siedlungs-, Agrar- und Stadtgeschichte lag. In der NS-Zeit stand insbesondere die Westforschung (Niederlande, Belgien und Nordfrankreich) im Mittelpunkt des Interesses. In diesem Zusammenhang verwies der Referent auf die wissenschaftlichen Tätigkeiten und das höchst problematische propagandistische Engagement der Mitarbeiter des IgL im Vorfeld der Saarabstimmung 1935. Eine kritische Auseinandersetzung des IgL nach 1945 mit seiner Rolle und seinen Aktivitäten während des Dritten Reiches erfolgte nicht. Rutz wies auf weitere Forschungsansätze und Desiderate hin. Nach dem Zweiten Weltkrieg bildeten territorialpolitische Themen zu Stadt, Land und Rheinland den Schwerpunkt der Dissertationen. Die Forschungsarbeiten der letzten Jahre zeichneten sich durch eine vielfältigere Themenauswahl aus und reflektierten neue Forschungsschwerpunkte, wie z.B. Migrationsforschung, Frauen- und Geschlechterforschung sowie die Sozial- und Bildungspolitik. Rutz plädierte abschließend für eine landesgeschichtliche Forschung unter verstärkter Berücksichtigung „moderner Strömungen“ der allgemeinen Geschichtswissenschaft.

In den beiden anschließenden Beiträgen kamen die Abteilungen Sprachforschung und Rheinische Volkskunde zu Wort: Thomas KLEIN und Walter HOFFMANN wandten sich dem Thema „Von der Kulturraumforschung zur Variationslinguistik: Forschungsbilanz der Abteilung Sprachforschung des Bonner Instituts“ zu. Thomas Klein hob zunächst die Bedeutung der historischen Sprachforschung für die Geschichtswissenschaft hervor und verwies auf die grundlegenden Arbeiten von Theodor Frings. Anhand der Lehrstuhlinhaber zeichnete Klein ein differenziertes Bild des Wandels der methodischen Ansätze und Forschungsschwerpunkte seines Faches. Auf drei Publikationen richtete der Referent sein besonderes Augenmerk: auf die „Deutsche Mundartforschung“, die „Geschichte der Deutschen Sprache“ und die „Deutsche Namenkunde“ sämtlich von Adolf Bach, dem Begründer der „Namenkunde“. Ferner verwies Klein auf das im Aufbau befindliche Flurnamenarchiv, das ständig ergänzt und aktualisiert wird. Im zweiten Teil des Vortrages wandte sich Walter Hoffmann den zentralen Themenbereichen der Sprachforschung am IgL zu. Einen besonderen Schwerpunkt bildete die Dialektforschung, die bedingt durch die starke und in diesem Ausmaß nie zuvor stattgefundene Bevölkerungsverwerfung nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer realen Veränderung der Sprachpraxis und letztendlich – neben weiteren Faktoren – zu einem Rückgang der Dialekte führte. Die Sprachgeschichtsforschung erkannte bereits in den 1960er Jahren dieses Phänomen und analysierte seitdem systematisch das Sprachverhalten – insbesondere jüngerer Menschen – auf dem Lande; das Ergebnis ist dokumentiert in zwei Projektbänden (sog. „Erp-Projekt“ und Kelzenberg). Weitere Themenschwerpunkte bilden die Dialektlexikographie und die regionale Sprachgeschichte. Insbesondere die moderne digitale Erfassung ermöglicht eine differenziertere Auswertung der Textquellen als bisher, betont Hoffmann. Zum Schluss ging Hoffmann auf die regionale Namenforschung ein. Den Schwerpunkt bilden hier die Flurnamen gefolgt von den Siedlungs- und Ortsnamen.

Den Abschluss der ersten Sektion bildete aus volkskundlicher Sicht Heinz Leonard COX zum Thema „Forschungsbilanz der Abteilung für Rheinische Volkskunde am Bonner Institut“. Cox hob wie seine Vorredner die Bedeutung der Arbeit „Kulturströmungen“ (s.o.), welche er als „richtungsweisendes Werk“ bezeichnete, und des damit verbundenen Raumbegriffs hervor. Nicht der Raum als Areal, sondern der Dialekt stand im Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Besonders verhängnisvoll sollte sich allerdings – wie sich heute anhand des Neuzuschnitts der Institute zeigt – die zu enge Verknüpfung der Volkskunde mit der Sprachforschung erweisen. Die Volkskunde fiel seines Erachtens in den Stand einer Hilfswissenschaft zurück. Das wichtigste publizistische Ergebnis der volkskundlichen Forschung stellt der „Atlas der deutschen Volkskunde“ dar, der ab 1926 in Angriff genommen wurde. Bemerkenswert ist, dass man völkische Fragen während der NS-Zeit explizit aus diesem Projekt heraushalten wollte. Die zwischen 1930 und 1935 versandten Fragebögen umfassen die Forschungsthemen Brauchtum, Volkskunde und Religion. Die Arbeiten am ADV wurden auch nach dem Krieg ununterbrochen fortgesetzt und fanden starke Beachtung. Cox wies auch auf den Paradigmenwechsel innerhalb der Volkskunde hin, der in der Umbenennung des Faches seinen sichtbaren Ausdruck fand.

Im zweiten Block, der am Nachmittag stattfand, wurde die „Außenwirkung“ des Instituts beleuchtet. Waren die wissenschaftsgeschichtlichen Aspekte bisher einer genauen Betrachtung unterzogen worden, so wandte sich Georg MÖLICH (Köln) mit seinem Vortrag „Zu den Rheinlanden reden – Rheinische Neujahrsblätter, Fortbildungskurse und andere öffentlichkeitsorientierte Aktivitäten des Bonner Instituts im Jahrzehnt nach 1920" nun verstärkt der Öffentlichkeitsarbeit des IgL zu. Von Anfang an sei auf diesen Bereich großer Wert gelegt worden. Mölich verwies auf die intensive Verflechtung der Landesgeschichte mit der Heimatbewegung, die sich nach dem Ersten Weltkrieg in breiten Bevölkerungsschichten durchsetzt habe. Im Folgenden wandte sich der Referent den öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen, wie z.B. dem Historikertag 1924 in Frankfurt/M. zu, der nach dem verlorenen Krieg noch deutlichen Demonstrationscharakter besessen (u.a. intensive Erörterung der Kriegsschuldfrage) und der rheinischen Landesgeschichte zu ihrem „Durchbruch“ verholfen hätte. Diese Disziplin sei damals in den Rang „einer vollwertigen Wissenschaft“ erhoben worden. An weiteren Aktivitäten nannte er die vom Institut herausgegebenen Publikationsreihen „Rheinisches Archiv“ und „Rheinische Neujahrsblätter“ (seit 1922), die sich zum Ziel gesetzt hatten „den Freunden der Heimatgeschichte Anregung ins Haus zu tragen“ (H. Aubin). Im Rahmen der „Jahrtausendfeier der Rheinlande“ 1925 beteiligte sich das IgL an der Ausarbeitung von Wandkarten, die später auch im Schulgebrauch Verwendung fanden. Einen weiteren Schwerpunkt bildeten die seit 1922 vom Institut durchgeführten Ferienkurse, die eine neue Form der Wissensvermittlung darstellten und einem kleinen, interessierten Teilnehmerkreis die Gelegenheit boten, sich über den aktuellen Forschungsstand zu informieren. Mölich skizzierte anschaulich die thematischen Schwerpunkte der Kurse bis zum Jahr 1931. Resümierend stellte er fest, dass der Schwerpunkt der Arbeit des IgL im ersten Jahrzehnt seines Bestehens stärker volksbildend ausgerichtet und weniger im wissenschaftlichen Bereich angesiedelt gewesen sei.

Nach dieser überblicksartigen Darstellung der Hauptaktivitäten des Institutes in der Weimarer Zeit konzentrierte sich Burkhard DIETZ (Düsseldorf) auf „Das Bonner Institut für geschichtliche Landeskunde und die Westforschung in der NS-Zeit". Nach der Aufarbeitung der sog. „Ostforschung“ habe in der internationalen Forschung eine Diskussion eingesetzt, die die engen Verflechtungen der „Westforschung“ mit der Landesgeschichte kritisch hinterfragte. Dietz hob hervor, dass der lebensverachtende Grundtenor der Ostforschung, der Westforschung nie eigen gewesen sei. Ein wesentlicher Zug der Westforschung zwischen 1918 und 1945 habe in der Erbringung eines wissenschaftlichen Nachweises zur vermeintlichen germanischen Besiedlung für den Benelux-Raum und Nordfrankreich bestanden. Eine finanzielle Förderung haben die Westforscher u.a. durch das Auswärtige Amt, das eine Revidierung des Versailler Vertrages vor Augen hatte, erfahren. Insgesamt sei festzuhalten, dass erstens Institutsmitarbeiter bereits früh die Nähe zu den jeweiligen Machthabern gefunden hätten und zweitens, dass Erkenntnisse der Westforschung, die nicht generell antifranzösisch gewesen wären, wie der Referent betonte, zur „ideologischen Fundamentierung“ eingesetzt worden seien. Die offizielle Anbindung der Grenzlandforschung an das Institut sei 1928/29 mit der Zielsetzung erfolgt, die „germanischen“ resp. „völkischen“ Wurzeln in Elsass-Lothringen, im Saarland und in Nordwestfrankreich nachzuweisen. Von besonderer Bedeutung seien in diesem Zusammenhang die Karten, die damals eine Renaissance erlebten hätten, wie zuletzt im 16. Jahrhundert. Im Dritten Reich seien statt der Staats- die germanischen Stammesgrenzen betont worden, die der Legitimierung der Westansprüche dienen sollten. Obwohl das Bonner Institut nicht im Zentrum der NS-ideologischen Projekte gestanden habe, hätten führende Köpfe dennoch die Vorlagen für NS-Ideologen geliefert. Die methodische Kulturraumforschung überlebte bis zum Amtsantritt von Edith Ennen (1974), die andere thematische Schwerpunkte vertrat.

Das Vortragsprogramm des ersten Tages beschloss Matthias WERNER (Jena) mit seinem öffentlichen Abendvortrag zum Thema „Die deutsche Landesgeschichtsforschung im 20. Jahrhundert – Aufbrüche, Umbrüche, Perspektiven“, der noch eine andere Sicht des Themas bot. Zunächst verwies Werner auf den eminenten Einfluss der Landesgeschichte – als wichtige, innovative Teildisziplin – auf die Mediävistik und würdigte dabei besonders die Bedeutung des Frankfurter Historikertags 1924 und die Arbeit des Bonner Instituts, die für den Aufstieg der landesgeschichtlichen Forschung in Deutschland im Wesentlichen prägend gewesen seien. Das Institut, das vorwiegend in den 1920er Jahren in engem Kontakt mit der Politik stand, hätte als „Leitinstitut“ Vorbildcharakter für eine Reihe von neugegründeten Forschungseinrichtungen in ganz Deutschland besessen. Eine bemerkenswerte Blütezeit der Landesgeschichte konstatierte Werner für die 1950er und 1960er Jahre, als die Städte-, Pfalzen- und Personenforschung im Fokus des Interesses gestanden hätten. Dem „Konstanzer Arbeitskreis“ und insbesondere der Bonner Institutstagung von 1969, die anlässlich des fünfzigjährigen Bestehens des IgL zu einer „Leistungsschau der Landesgeschichte“ avanciert sei, maß er diesbezüglich eine besonders große Bedeutung bei. Im Gegensatz hierzu sähe die Bilanz der letzten dreißig Jahre – auf die Landesgeschichte insgesamt bezogen – weniger positiv aus. Um den drohenden Abfall in die Bedeutungslosigkeit zu verhindern, forderte Werner zum Schluss seiner Ausführungen – wie Groten – eine kritische Überprüfung und eine neue, deutliche Positionierung der Landesgeschichte. Künftige Aufgabenbereiche und Perspektiven sah er z.B. in der erneuten Anknüpfung an die von Karl Lamprecht favorisierte, offene, methodenbewusste Wissenschaft, in einer stärkeren Berücksichtigung der internationalen Forschungsansätze und -ergebnisse und der Auseinandersetzung und Erforschung der eigenen Disziplin.

Der zweite Veranstaltungstag setzte sich intensiv mit der gegenwärtigen und zukünftigen Situation der Landesgeschichte auseinander. Manfred GROTEN eröffnete die Beitragsreihe mit einem Vortrag über „Perspektiven der mediävistischen Landesgeschichtsforschung“. Groten wies zunächst auf die Bedeutung der Arbeiten von Karl Lamprecht hin und stellte heraus, dass die traditionelle Landesgeschichte mediävistisch bestimmt gewesen sei, im Gegensatz zur modernen, die eher durch ihren epochenübergreifenden Ansatz gekennzeichnet ist. Der Landesgeschichte wies der Referent zwei Hauptaufgaben zu: Erstens durch methodengeleitetes Forschen neue Erkenntnisse zu gewinnen, zu publizieren und in der Lehre zu vermitteln – hierin sah Groten eine „Kernaufgabe“ –, und zweitens im Informations- und Bildungsauftrag der Öffentlichkeit gegenüber, d.h. das historische Wissen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen und in einer Vielzahl von kulturellen Vereinigungen aktiv mitzuwirken. Die Landesgeschichte nähme hinsichtlich der Standortbestimmung die mittlere Ebene zwischen der Ort- und Lokalgeschichte einerseits und der allgemeinen Geschichte bzw. Nationalgeschichte anderseits ein. Zwei Stärken zeichnen die Landesgeschichte insgesamt aus: ihr epochenübergreifendes Potenzial sowie ihre thematische Offenheit. Die Landesgeschichte arbeite auf vielen Gebieten, so im Bereich der Ereignisgeschichte, der politischen Geschichte im regionalen Rahmen, der Kirchen-, Kultur- und Wirtschaftsgeschichte. Insbesondere die Erforschung von Personengruppen und personellen Netzwerken sei ratsam. Als eines der größten Themen der mediävistischen Landesgeschichtsforschung sei die Geschichte der Territorialisierung zu bezeichnen. Konnte sich die „alte“ Territorialgeschichtsschreibung im Dienste der Landesgeschichte in bewusster Abgrenzung von der Reichsgeschichte konstituieren, so müsse die heutige Landesgeschichte – nach Ansicht von Groten – ihre Anschlussfähigkeit an die allgemeine Geschichtsforschung ständig unter Beweis stellen. Gerade im Hinblick auf die Fragestellung, welchen Gegenständen sich die Landesgeschichte zuwenden solle, seien methodische Überlegungen wie Quellenbezug, -kritik und -analyse sowie eine präzise Fragestellung und der Vergleich („vergleichende Landesgeschichte“) von zentraler Bedeutung. Die landesgeschichtliche Arbeit eigne sich daher bestens „zur Aufarbeitung von Diffusions- und Transferprozessen“, wie der Referent an vier Beispielen aus den Bereichen der Kulturgeschichte, der Verfassungs- und Sozialgeschichte, der politischen Geschichte sowie der Reichs- und Landesgeschichte (Reichsverfassung) anschaulich vor Augen führte.

Anschließend sprach Stephan LAUX (Düsseldorf) über die „Rheinische Frühneuzeitforschung. Traditionen – Stand – Aussichten“. Bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts beschäftige sich die landesgeschichtliche Forschung intensiv mit der Frühen Neuzeit; insbesondere die rheinische Reformation, die Verwaltungsgeschichte sowie die Agrar- und Sozialgeschichte seien insgesamt gut aufgearbeitet. Allerdings fehle es an wichtigen Biografien. Doch dies sei nicht der einzige Bereich, der Forschungslücken erkennen lasse. Anhand einer Vielzahl von Beispielen machte Laux auf Desiderate aus den Bereichen politische Geschichte, Verfassungs-, Verwaltungs- und Justizgeschichte, Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie Kirchen- und Religionsgeschichte aufmerksam. Einzig und allein der Stadtgeschichte attestierte er insgesamt einen positiven Befund. Er beklagte allerdings, dass viele Quelleneditionen bereits im 15. Jahrhundert abbrechen würden und eine zweite kommentierte Auflage wichtiger Publikationen oftmals wünschenswert wäre. Ebenso hielt er sachthematische Fundbücher für notwendig und sinnvoll.

Den Abschluss im zweiten Block am Nachmittag bildeten zwei Vorträge, die den Blick nach vorne richteten und Perspektiven und Arbeitsschwerpunkte der landeshistorischen Forschung aufzeigten. Zunächst untersuchte Christoph NONN (Düsseldorf) "Was ist und zu welchem Zweck betreibt man die Landeszeitgeschichte? Probleme und Perspektiven einer Landesgeschichte der Moderne“. Der Zweck der Landesgeschichte habe zunächst in der Beschäftigung mit mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Themen bestanden. Erst seit den 1970er Jahren sei eine Richtungsänderung zu zeitgeschichtlichen und regionalhistorischen Themen hin eingetreten. Dabei seien drei Merkmale deutlich hervorgetreten: 1. der Gegenwartsbezug, 2. die wissenschaftliche Neutralität und 3. der Legitimationsgewinn. Besonders verwies der Referent auf die problematische Situation landesgeschichtlicher Lehrstühle im Spannungsfeld von Universität und Politik. Der Rückgang der finanziellen Mittel habe auch an den Universitäten im Bereich der landesgeschichtlichen Forschung deutliche Spuren hinterlassen. Anderseits, hob Nonn hervor, befinde sich die Landesgeschichte in einem erheblichen Wettbewerbsvorteil, da sie über das notwendige „Sinnstiftungspotenzial“ verfüge, um als „Dienstleister“ auf dem Markt bestehen zu können; gefragt sei zukünftig die „Servicefunktion“ für die Bürger. Vor diesem Hintergrund verwies der Referent auf die veränderte Sinnstiftung der Landesgeschichte, die seit den 1970er Jahren von der Demokratieerforschung bestimmt worden sei. Der Antisemitismus sei bis in die 1980er Jahre von der landeshistorischen Forschung nicht thematisiert worden. In diesem Kontext rief der Referent am Ende seines Vortrages auf, sich stärker als bisher der landesgeschichtlichen Zeitgeschichte zuzuwenden.

In einem abschließenden Beitrag wandte sich Winfried SCHENK (Bonn) dem Thema „Die Historische Geographie als historische Regionalwissenschaft“ zu. Gleich zu Beginn seiner Ausführungen warf Schenk die Frage auf: Wie kann die Landesgeschichte von den Ergebnissen der Historischen Geographie profitieren? In einem anschließenden Überblick stellte er die Entwicklung seines Faches und die verschiedenen Forschungsansätze deutlich dar. Bis 1970 sei die historisch-genetische Kulturgeographie eine der Kerne der Anthropogeographie gewesen. Die landschaftlichen Räume wurden als „Ideal“ angesehen. Dies habe sich nach 1970 geändert, insbesondere nach dem Geographentag in Kiel 1969, der sich von der Länderkunde und Landschaft stärker der anwendungsbezogenen Grundlagenforschung zugewandt habe. Dies habe zu einer starken Fragmentierung des Faches in inhaltliche und methodische Fachrichtungen geführt. Ein Ergebnis dessen sei der Arbeitskreis für genetische Siedlungsforschung, der Mediävisten und Archäologen unter einem Dach vereine. Von Vorteil habe sich 2001 der Wechsel zur Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Fakultät in Bonn erwiesen. Mit dem Aufstieg der angewandten Historischen Geographie sei auch die Kulturlandschaftspflege – der Mensch, der die Landschaft veränderte – stärker in den Mittelpunkt getreten, die sich anhand von vier Aspekten kennzeichnen lasse: 1. Rekonstruktion von früheren Umwelten, 2. Erklärung der Vergangenheit, 3. (De-)Konstruktion von Landschaftsbildern und 4. die Kulturlandpflege. Als Hauptquellen dienen u.a. Altkarten und Gemäldeansichten (Veduten). Die Landschaft, so Schenk, würde als Palimpsest, als Spurenträger gesehen. Die Arbeitsbereiche der Historischen Geographie seien im Spannungsfeld von Regionalgeschichte und Naturwissenschaft angesiedelt; naturwissenschaftliche Befunde würden beispielsweise zur Altersbestimmung herangezogen. Im Folgenden ging der Referent auf den Wandel des Landschaftsbildes – der stets mit einem gesellschaftlichen Wandel einherginge – und dessen Ursachen anhand von ausgewählten Beispielen ein. Abschließend warb Schenk dafür, die Ergebnisse und Landschaftsinterpretationen der Historischen Geographie stärker als bisher in der Historischen Landes- und Regionalgeschichte zu berücksichtigen.

Zusammenfassend betrachtet bleibt festzuhalten, dass die Tagung „Landesgeschichte auf dem Prüfstand“ ihren Zweck erfüllt hat. Die Diskussionsbeiträge boten eine Vielzahl von Perspektiven der Landesgeschichte in verschiedenen Epochen und zeigten deutlich die Entwicklungen in anderen Nachbardisziplinen auf. Insbesondere die Möglichkeit zur Diskussion wurde intensiv genutzt. So ist es nicht nur das Verdienst der Organisatoren, eine eindrucksvolle Bilanz vorgelegt zu haben, sondern auch weitere Anregungen für künftige Forschungsarbeit aufgezeigt zu haben.

Die auf der Tagung gehaltenen Referate werden in einem Sammelband publiziert.


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