Integrationen. Vertriebene in den deutschen Ländern nach 1945

Integrationen. Vertriebene in den deutschen Ländern nach 1945

Organisatoren
Deutsches Historisches Museum, Berlin und Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Sozialordnung, Familie und Frauen
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.07.2006 - 12.07.2006
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Von
Karin Pohl

Nur wenige Tage vor dem ersten Berliner „Integrationsgipfel“ im Bundeskanzleramt fand am 11. und 12. Juli 2006 im Auditorium des „Deutschen Historischen Museums“ (DHM) eine wissenschaftliche Tagung statt, in deren Mittelpunkt eine ganz andere, mittlerweile historische Integrationsleistung Nachkriegsdeutschlands stand: die Eingliederung der deutschstämmigen Vertriebenen und Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg in West- und Ostdeutschland. Diese Tagung war vom Bayerischen Arbeits- und Sozialministerium angestoßen und gemeinsam mit dem DHM durchgeführt worden; die wissenschaftliche Konzeption hatte die Münchner Migrationshistorikerin Marita Krauss federführend übernommen.
Das zeitliche Zusammenfallen der beiden genannten Veranstaltungen zum Thema Integration war freilich ein Zufall. Vermutlich wäre aber eine stärkere und gezielte wechselseitige Wahrnehmung von Politik und Wissenschaft in dieser Frage für beide Seiten erhellend gewesen. Dies zumal Migrationen (einschließlich Zwangsmigrationen/Vertreibungen) sowohl in der Geschichte als auch in der Gegenwart immer wieder aufgetreten sind und dabei stets die Frage der Integration nach sich ziehen. Dementsprechend betrachteten die Referenten der wissenschaftlichen Konferenz den Tagungsgegenstand unter dem erweiterten Blickwinkel der sozialhistorischen Migrationsforschung. Aus dieser Perspektive ist die Vertreibung der Deutschen – obzwar eine menschliche Tragödie enormen Ausmaßes und eine Bankrotterklärung der Politik – nicht als historischer Sonder- bzw. Ausnahmefall zu erforschen, sondern vielmehr als ein spezifischer Fall einer Zwangsmigration. Diese mündete in Westdeutschland im Zuge des Wirtschaftswunders und unter den Bedingungen des Kalten Krieges sowie aufgrund umfassender sozialpolitischer Eingliederungsleistungen in eine letztlich erfolgreiche Integration. Ähnliche Faktoren – der Ost-West-Gegensatz und der wirtschaftliche Aufschwung der Nachkriegszeit – begünstigten auch in der DDR den Integrationsfortschritt; im Gegensatz zur Bundesrepublik zielte die DDR jedoch auf die Assimilation der „Umsiedler“. Doch ist es nicht nur auf die ideologisch bedingten Unterschiede der Integrationspolitik zurückzuführen, dass die Eingliederung der Vertriebenen in die deutsche Nachkriegsgesellschaft unterschiedlich verlief. Statt eines einheitlichen Integrationsprozesses, lassen sich eine Vielzahl unterschiedlicher „Integrationen“ ausmachen, deren Verlauf unter anderem abhängig war von der Politik der jeweiligen Besatzungsmacht, der Haltung der Aufnahmegesellschaft gegenüber den Neuankömmlingen und der Frage, wie die Zwangsmigranten selbst mit der schwierigen Situation umgingen, über welche Handlungsspielräume sie in ihrer eingeschränkten Lage möglicherweise dennoch verfügten und wie sie diese für sich nutzten. Wie genau prägten diese und zahlreiche andere Faktoren den jeweiligen Integrationsverlauf in den Ankunftsländern? Mit dieser Frage beschäftigten sich Referenten und Diskutanten während der beiden Konferenztage. Ausgehend von einer vergleichenden regional- bzw. landesgeschichtlichen Perspektive, sollten unterschiedliche Facetten der Eingliederung erarbeitet und Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufgezeigt werden. Während am ersten Tag die Situation in der alten Bundesrepublik betrachtet wurde, stand am zweiten Tag die ehemalige DDR im Mittelpunkt.

In ihrem Eröffnungsvortrag gab Marita Krauss einen Überblick über den Stand der Vertriebenenforschung und entfaltete ein Panorama künftiger Forschungsansätze, von denen hier nur die wichtigsten genannt werden sollen. So sei in den vergangenen Jahren zwar eine Vielzahl landesgeschichtlicher und methodisch innovativer Forschungsarbeiten entstanden, doch würden diese – bedingt durch ihren räumlich begrenzten Schwerpunkt – meist nur wenig rezipiert. Sie regte daher eine stärkere landesgeschichtliche Vernetzung unter Einbeziehung der vergleichenden Perspektive an. Neben einer räumlichen Erweiterung mahnte sie auch eine Überwindung der zeitlichen Zäsuren an: Unter dem Blickwinkel der Migrationsforschung sollte die Erforschung des Gesamtkomplexes ‚Vertreibung und Integration’ künftig sowohl die Vor- als auch die Nachkriegszeit einbeziehen und dabei die Herkunftsregionen der Vertriebenen und Flüchtlinge ebenso in den Blick nehmen wie deren Aufnahmegebiete einschließlich der dort von den Zwangszuwanderern ausgelösten Veränderungen. Eine solche perspektivische Erweiterung sei auch hinsichtlich einer ‚europäischen’ Geschichte innovativ. Zudem sei auch in methodischer Hinsicht der Fokus zu vergrößern, etwa durch die Einbeziehung der kulturgeschichtlichen Dimension und lebensgeschichtlicher Modelle, die die Frage der Generationen ebenso einbeziehen wie geschlechterspezifische Erfahrungen.

Anschließend sprach der Osnabrücker Migrationshistoriker Jochen Oltmer über die Integration der Vertriebenen in Niedersachsen, das neben Schleswig-Holstein und Bayern die meisten Flüchtlinge in Westdeutschland aufgenommen hatte. Aus der Perspektive der historischen Migrationsforschung regte Oltmer eine Erweiterung des Fragekanons der Vertriebenenforschung an. Zu selten werde nach Kontinuitätsmustern in den Erscheinungs- und Beschreibungsformen unterschiedlicher Migrationen gefragt. Am Beispiel der niedersächsischen Gesundheitsbürokratie legte er dar, dass Vertriebene und andere Zuwanderergruppen noch lange nach dem Krieg von den Mitarbeitern der Behörde pejorativ wahrgenommen wurden. Er führte dies zurück auf die Kontinuität der im Gesundheitswesen Beschäftigten, deren Wahrnehmungsmuster im Umgang mit Zuwanderern aus dem Osten bereits in der NS-Zeit eingeübt worden waren und die nach dem Krieg nahezu ungebrochen fortbestanden. Anschließend fragte Oltmer nach den Handlungsspielräumen der Vertriebenen, die im Falle Niedersachsens nicht unbedeutend gewesen seien. Anders als man dies vielleicht vermuten würde, habe den britischen Besatzern weitgehend die Handhabe gefehlt, um räumliche Bevölkerungsbewegungen zu kontrollieren; dies eröffnete den Zwangszuwanderern einen nicht unerheblichen Spielraum für selbstmotivierte Wanderung und hatte die Konzentration bestimmter Gruppen in bestimmten Räumen zur Folge. Die Vertriebenen der unmittelbaren Nachkriegszeit seien daher nicht nur als Objekte einer die Zuwanderung und Ansiedlung regelnden Verwaltung zu betrachten, sondern – trotz aller Einschränkungen – als weitgehend selbstbestimmt handelnde Subjekte.

Anschließend stellte sich Rolf Messerschmidt als einer der wenigen Referenten der anspruchsvollen Aufgabe des direkten landesgeschichtlichen Vergleichs: Indem er den Verlauf der Integration in Hessen und in Rheinland-Pfalz betrachtete, nahm er zwei höchst unterschiedliche westdeutsche Aufnahmeregionen in den Blick. Während das in der amerikanischen Besatzungszone gelegene Hessen mit einem Flüchtlingsanteil von 16,7 % im Jahr 1946 dem bundesdeutschen Durchschnitt entsprach, lag der Anteil des von den Franzosen besetzten späteren Bundeslandes Rheinland-Pfalz lediglich bei einem Prozent. Diese Diskrepanz sei freilich auf die Aufnahmebereitschaft der jeweiligen Besatzungsmacht zurückzuführen, wobei sich die Regierung von Rheinland-Pfalz lange Zeit bei den Franzosen für ein Zuzugsverbot eingesetzt hatte, um eine befürchtete Veränderung des Landes durch fremde Zuwanderer zu verhindern. Erst als die USA die Beteiligung der französischen Zone am Flüchtlingsausgleich zur Voraussetzung für die Zahlung von Marshallplan-Geldern an Frankreich machte, nahm der Flüchtlingsanteil allmählich zu und stabilisierte sich auf niedrigem Niveau. Es erstaunt daher kaum, dass es in diesem Bundesland in Bezug auf die Vertriebenen und Flüchtlinge nie zu nennenswerten Integrationsschwierigkeiten gekommen ist. Dass die Aufnahme eines höheren Prozentsatzes Vertriebener für das jeweilige Aufnahmeland durchaus vorteilhaft sein konnte, zeigte Messerschmidt am Beispiel Hessens. Hier profitierten bislang strukturschwache Landesteile von der Vertriebenenansiedlung, die eine weitere Modernisierung und Industrialisierung Hessens ermöglichte. In Hessen war die Vertriebenenpartei „Block der Heimatvertriebenen und Entrechteten“ (BHE) über Jahre hinweg an der Regierung des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Zirn beteiligt, wodurch die Vertriebenen zu einem festen Faktor in der politischen Kultur des Landes wurden. All dies begünstigte die Identitätsstiftung eines neuen „Hessenbewusstseins“. Abschließend plädierte Messerschmidt eindringlich für die Einbeziehung der individuellen Erinnerung der Vertriebenen und der kollektiven Erinnerungskultur ihrer Verbände in die Integrationsforschung.

Marita Krauss präsentierte daraufhin „Zehn Thesen zur Integration von Flüchtlingen und Vertriebenen in Bayern“, an deren Eckpunkten sich künftige Integrationsforschung in diesem, bereits lange vor 1945 bestehenden, historisch gewachsenen Land orientieren sollte. So seien die Flüchtlinge hier mit einer spezifischen politischen Kultur konfrontiert gewesen, die auf einer gefestigten Staatstradition beruhte. Zwar habe es eine einheitliche ‚bayerische Kultur’ nie gegeben, doch hätten die Einheimischen den Anschein einer solchen gegenüber den Zuwanderern inszeniert, um diese dauerhaft als landfremd auszugrenzen und eigene Machtansprüche zu behaupten. Später habe das überlieferte bayerische Stammeskonzept dazu beigetragen, die gegenüber den Zwangsmigranten anfangs errichteten Hürden zu überbrücken: Symbolisch wurde die stärkste Vertriebenengruppe Bayerns, die Sudetendeutschen, zum ‚vierten Stamm Bayerns’ erklärt.

Den offiziellen Teil des ersten Tages beendete Hermann-Joseph Busley. Als Mitherausgeber der interdisziplinär angelegte Forschungsreihe „Die Entwicklung Bayerns durch die Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge”, die das Bayerische Arbeits- und Sozialministerium fördert und damit Verpflichtungen aus § 96 des Bundesvertriebenengesetzes nachkommt, gab er einen Überblick über die bisher erschienen zehn Bände und umriss den Inhalt dreier weiterer, kurz vor Veröffentlichung stehender Arbeiten. Im Rahmen des breit angelegten Projektes zur bayerischen Integration sind unter anderem rechtswissenschaftliche, historische, soziologische, volkskundliche, sprachwissenschaftliche und religionsgeschichtliche Forschungsarbeiten gefördert worden.

Arndt Bauerkämper leitete den zweiten Tag mit einem Überblicksvortrag zur Integration in der Sowjetischen Besatzungszone und in der DDR ein. Die Integrationspolitik der DDR habe auf die Assimilation der hier als „Umsiedler“ bezeichneten Zwangsmigranten gezielt und die Erinnerung an Vertreibung und kulturelle Herkunft tabuisiert. Die integrationspolitischen Maßnahmen zugunsten der Umsiedler – wie Kreditvergabe, Bodenreform und Umverteilung von Eigentum – waren stets der angestrebten systemischen Transformation untergeordnet und zielten auf die Schaffung einer egalitären sozialistischen Gesellschaft. Offiziell waren Vereinigungen ehemaliger Vertriebener zwar verboten, aber es bestanden zahlreiche informelle Kontakte und Kooperationen von Vertriebenen; dieser spannende, quellenmäßig aber schwer zu fassende Bereich sei bisher allerdings erst wenig erforscht. Abschließend regte Bauerkämper eine vergleichende Studie zur Integrationspolitik beider deutscher Staaten an: Sowohl die Politik der SED-Führung gegenüber den Umsiedlern als auch das Verhalten der Akteure in den Verwaltungen und gesellschaftlichen Milieus sei vom Umgang mit den Vertriebenen in der BRD beeinflusst worden. Dieser konkurrierende und komplementäre Aspekt im Verhältnis der beiden deutschen Nachkriegsstaaten halte für die Integrationsforschung neue Erkenntnisse bereit.

Andreas Thüsing veranschaulichte am Beispiel Sachsens die dortige Situation der Umsiedler in der frühen Nachkriegszeit. Das Ende der Eingliederungspolitik wurde vom Regime durch die Verabschiedung des „Gesetzes über die weitere Verbesserung der Lage der ehemaligen Umsiedler der Deutschen Demokratischen Republik“ am 8. September 1950 angekündigt – dies war gleichzeitig das letzte Mal, dass sich die DDR offiziell mit dem Thema Umsiedler befasste. Da ab den frühen 1950er Jahren die Kategorie Umsiedler in den Akten nicht mehr erfasst wurde, sei die Forschung für die Zeit danach in besonderem Maße auf Zeitzeugeninterviews angewiesen. Thüsing regte einen Vergleich zwischen ländlichen und städtischen Aufnahmegebieten an, der für Sachsen besonders vielversprechend sei.

Mathias Beer brachte einen ganz neuen Aspekt in die Diskussion ein: Am Beispiel der Donauschwaben plädierte er für eine stärkere Berücksichtigung der jeweiligen Herkunft der Vertriebenen, die von der bisherigen Eingliederungsforschung vernachlässigt worden sei. Von den deutschen Vertriebenen aus Ungarn seien ca. 180.000 in der amerikanischen Besatzungszone und 50.000 in der sowjetischen Besatzungszone angesiedelt worden. Hier wie dort habe das Verhalten dieser Gruppe im Vergleich mit anderen Herkunftsgruppen einige Besonderheiten aufgewiesen: Auffallend war der ausgeprägte Dialekt und die intensive Pflege eigener Bräuche und Trachten, weshalb die Ungarndeutschen von der Aufnahmegesellschaft oftmals nicht als ‚Deutsche’ akzeptiert worden seien; auch heirateten die Ungarndeutschen bevorzugt innerhalb der eigenen Gruppe. Nach Beer ist das eigentümliche Verhalten der vertriebenen Ungarndeutschen auf deren Geschichte als Minderheit in Ungarn zurückzuführen. Er forderte daher, die Kategorie Herkunft hinsichtlich ihrer integrationshemmenden und -fördernden Wirkungen stärker in die Erforschung des Integrationsprozesses einzubeziehen. Dadurch werde auch die juristische Definition „Vertriebener“/„Flüchtling“ historisch erweitert. Dies trage zur Überwindung der zeitlichen Zäsur 1945 bei und ermögliche die Einbeziehung der Zeitgeschichte des östlichen Europas (der Ursprungsgebiete der Vertriebenen) in die Integrationsgeschichte, sodass hier ein Bereich gesamteuropäischer Geschichte zusammengeführt werde, die durch den Zweiten Weltkrieg und den Kalten Krieg getrennt worden ist.

An diesen Gedanken knüpfte Christoph Pan an, der die Bewahrung des kulturellen Erbes der Deutschen in ihren Herkunftsregionen als europäische Aufgabe herausstellte. Pan forderte ein gesamteuropäisches Konzept, welches das vielfältige kulturelle Erbe dieser europäischen Geschichtsräume bewahrt und pflegt und beendete mit diesem Anliegen die Konferenz.

Die Berliner Integrations-Tagung hat einmal mehr die unterschiedlichen, teils disparaten regionalspezifischen Integrationsprozesse vor Augen geführt und damit die Notwendigkeit einer Synthese der Forschungsergebnisse offenbart. Um einen stringenten Überblick über diesen Bereich der nachkriegsdeutschen Sozialgeschichte zu erhalten, wäre es daher wünschenswert, die mannigfaltigen landes- und lokalgeschichtlichen Forschungsergebnisse in eine bilanzierende Gesamtdarstellung zu überführen und darin auch die kleinteiligen Facetten zu bündeln, die „die“ Integration der Vertriebenen und Flüchtlinge in Nachkriegsdeutschland letztlich hervorbrachten und ermöglichten.
In Bezug auf eine künftige Vertriebenen- bzw. Integrationsforschung wurden von den Referenten zahlreiche innovative Vorschläge gemacht. Dabei lässt sich eine gewisse Schwerpunktverlagerung erkennen. Standen in der Vergangenheit vor allem die administrativen und strukturellen Rahmenbedingungen des Integrationsprozesses in den Aufnahmeländern und -regionen im Vordergrund, so sollte der Blick nun vermehrt auf die Vertriebenen selbst gelenkt werden: Die Frage nach den Handlungsspielräumen zur Gestaltung eines selbstbestimmten Neubeginns, individuelle Erfahrungen der Vertriebenen und die kollektive Erinnerungskultur ihrer Verbände sollten ebenso einbezogen werden wie geschlechterspezifische und lebensgeschichtliche Erfahrungen. Eines der wichtigsten Ergebnisse der Tagung ist nach Meinung der Rezensentin dabei die räumliche und zeitliche Erweiterung der Integrationsforschung, die nicht nur die nachkriegszeitlichen Entwicklungen in den Ankunftsregionen berücksichtigt, sondern auch die Geschichte der Ursprungsländer einbezieht und dem Thema so die ihm eigentlich innewohnende europäische Dimension zurückverleiht. Auf diese Weise entstünde auch ein sehr viel plastischeres, historisch abgerundetes Bild von „den“ Vertriebenen: Diese erschienen dann nicht mehr nur „Opfer“ der Nachkriegsbeschlüsse, sondern könnten in ihrer jeweiligen Rolle in den verschiedenen Herkunftsländern betrachtet und gewürdigt werden. Von einer entsprechenden perspektivischen Erweiterung und historischen Kontextualisierung der Vertriebenenthematik sind außerdem erhellende Erkenntnisse zu erwarten, die sich auch auf die in diesem Punkt verhärtete Beziehung zu den östlichen Nachbarstaaten positiv auswirken könnten. Die Kritik, besonders Polens, setzt am Plan des Bundes der Vertriebenen (BdV) an, in Berlin ein „Zentrum gegen Vertreibungen“ (ZgV) zu schaffen. 1 Dem zentralen Punkt der Kritiker ist zuzustimmen: Eine vornehmlich nationale Perspektive, die die historischen Zusammenhänge dieses komplexen Themas nicht angemessen berücksichtigt, greift zu kurz. Denn ‚Flucht, Vertreibung und Integration’ haben eine Vorgeschichte, die unmittelbar mit den Verbrechen des Nationalsozialismus zusammenhängt; es gilt daher, diesen Zusammenhang zweifelsfrei deutlich zu machen und Verantwortung klar zu benennen. Darüber hinaus sollte außerdem die teils sehr viel weiter zurückreichende Geschichte der Deutschstämmigen in ihren einstigen osteuropäischen Heimatländern einbezogen werden. Und in diesem Bereich – auch das hat die Tagung gezeigt – besteht noch erheblicher Forschungsbedarf. Die Einbeziehung dieser mannigfaltigen Vorgeschichte ist aber eine notwendige Voraussetzung für die Musealisierung des Gesamtkomplexes, wenn diese mehr sein will, als eine politische Manifestation mit mehr oder weniger versteckt anklagenden Implikationen gegenüber den einstigen ‚Vertreiberstaaten’. 2 Angesichts der gegenwärtigen Suche nach dem angemessenen Ort, den die Erinnerung an „Flucht, Vertreibung und Integration“ im kulturellen Gedächtnis der Nation einzuräumen ist, wäre es wünschenswert, dass der differenzierte Blick, den die Tagung auf „die“ Vertriebenen geworfen hat, künftig stärker von der Öffentlichkeit rezipiert würde.

Anmerkungen:
1 Zum Plan des BdV siehe www.z-g-v.de. Die grundlegenden polnischen Einwände zusammenfassend Semka, Piotr: Der Henker soll jetzt Opfer sein. Wir Polen haben Probleme mit den Deutschen, weil sie ihre Schuld vergessen machen wollen. In: Süddeutsche Zeitung, 14. Sept. 2006, S. 2.
2 Selbst die BdV-Vorsitzende Steinbach scheint sich diesem Gedanken nicht mehr ganz zu verschließen, hat sie sich doch kürzlich für die Aufarbeitung der Geschichte ihres Verbandes einschließlich der NS-Verstrickungen früherer Funktionäre ausgesprochen. Vgl. Der Spiegel 35/2006, S. 18.


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