Prädikat ‚Heritage’ - Wertschöpfungen aus kulturellen Ressourcen

Prädikat ‚Heritage’ - Wertschöpfungen aus kulturellen Ressourcen

Organisatoren
Institut für Kulturanthropologie/Europäische Ethnologie, Georg-August-Universtität Göttingen; Leitung: Dorothee Hemme und Markus Tauschek
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
29.06.2006 - 30.06.2006
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Von
Gabriele Wolf, Institut für VolksKunde der Bay. Akad. d. Wissenschaften

Die Teilnehmer der interdisziplinär und international besetzten Tagung „Prädikat Heritage. Wertschöpfungen aus kulturellen Ressourcen“ diskutierten Probleme, die mit der symbolischen Aufladung kultureller Praktiken und Artefakte und der damit einhergehenden Umwandlung von selbstverständlich gelebter Alltagskultur in bewusst gepflegtes „Kulturerbe“ verbunden sind. Den theoretischen Überlegungen der amerikanischen Kulturanthropologin Barbara Kirshenblatt-Gimblett folgend herrschte unter den Teilnehmern Konsens darüber, das Etikett „Kulturerbe“ bezeichne nicht lediglich eine andere Sichtweise auf bestehende kulturelle Artefakte oder Praktiken, sondern „Kulturerbe“ werde immer in einer „metakulturellen Operation“ aktiv hergestellt. Eine entscheidende Differenz zur gelebten Alltagskultur besteht dabei darin, dass sich mit einer Deklaration zum „Kulturerbe“ die Einstellung von Akteuren zu ihrem eigenen Tun verändert. Das Prestige, das eine solche Auszeichnung verleiht, nährt an den jeweiligen Orten zudem Hoffnungen auf internationale Aufmerksamkeit und ökonomischen Nutzen. Beides hat Folgen sowohl für Akteure und kulturelle Praktiken selbst als auch für Kulturwissenschaftler, ihre Forschungsbereiche und ihre theoretischen Konzepte. Die Tagung hatte zum Ziel, an die international geführte Diskussion über die Verwertung von Kultur im Zeichen von universalistischen kulturellen Wertvorstellungen und globaler touristischer Mobilität anzuknüpfen. Dies führt weiter, was in der Volkskunde in den 1960er Jahren mit der „Folklorismus“-Debatte in lokalem Maßstab begonnen wurde.

Zunächst wurden grundlegende Konzepte zum Verständnis von „Kulturerbe“ diskutiert. Im Vergleich von England, Frankreich und Deutschland im 19. Jahrhundert untersuchte die Historikerin Astrid Swenson (Cambridge) die Semantiken von „Heritage“, „Patrimoine“ und „Kulturerbe“. Als Träger dieses Konzepts wirkten in England der Adel, in Frankreich die staatliche Verwaltung und in Deutschland bürgerliche Kreise. Obwohl Vorstellungen vom „kulturellen Erbe“, wie es zu definieren und wie mit ihm umzugehen sei, spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts auch in intensivem internationalen Austausch weiterentwickelt wurden, blieben dennoch in den einzelnen Ländern konzeptionelle Unterschiede bestehen, die ihm verschiedene Bedeutungen zuordnen und sich auf zugehörende Institutionen, deren Aufgaben und Aktivitäten bis heute auswirken.
Ungeachtet solcher Unterschiede beansprucht die UNESCO, in ihren Konventionen global gültige Definitionen für „Weltkulturerbe“ oder „immaterielles Kulturerbe der Menschheit“ zu geben. Der Rechtswissenschaftler und Volkskundler Peter Strasser (Klosterneuburg) stellte das seit 1972 umgesetzte UNESCO-Welterbe-Programm in seinen Strukturen dar und erläuterte Begriffe und problematische Konsequenzen, die sich aus der Anwendung eines europäisch-westlichen Verständnisses von Kultur- und Naturdenkmälern im globalen Maßstab ergeben. Die hierauf beruhende äußerst ungleiche räumliche Verteilung von Welterbestätten, d. h. ihre Überzahl in den entwickelten Ländern (v. a. in Europa), setzte innerhalb der UNESCO Diskussionen zur Modifizierung der zu Grunde liegenden Auffassungen in Gang, um eine global gleichmäßigere Verteilung von Welterbestätten zu erreichen und auch um kulturelle Praktiken zu schützen, deren Wert sich nach anderen Vorstellungen von Kultur bestimmt.

Bereits 1973, im Jahr nach der Verabschiedung der Welterbe-Konvention, intervenierte Bolivien, denn kulturelle Äußerungen indigener Völker, verstanden als gemeinschaftlicher Besitz ohne individuelle Autorschaft, würden durch das Bewertungsraster der UNESCO fallen. Entzündet hatte sich die Kritik an den amerikanischen Sängern Simon and Garfunkel und ihrem Welthit „El Condor Pasa“ (1970), die das Volkslied aus den Anden zwar weltweit berühmt machten, den kommerziellen Erfolg aber für sich verbuchten. Dieser Fall, so analysierte der Kulturanthropologe Valdimar Tr. Hafstein (Reykjavik), gab den Anstoß für Versuche, mittels der World Intellectual Property Organisation (WIPO) auch kollektives geistiges Eigentum zu schützen. Die definitorischen Konstruktionen, die zu diesem Zweck gemacht wurden, beinhalten, dass soziale oder ethnische Gruppen als Subjekte aufgefasst und ihre Praktiken als „immaterielles Erbe“ zu geschützten Objekten werden. Damit entstehen durch die Anstrengungen von UNESCO und WIPO neue Identitäten.

Ab den 1990er Jahren modifizierte die UNESCO ihre Kriterien und aus der kritischen Auseinandersetzung mit der Definition des „Welterbes“ heraus wurden konzeptionelle Vorstellungen von „immateriellem Kulturerbe“ entwickelt, die in die „Convention for the Safeguarding of the Intangible Cultural Heritage“ 2003 eingingen. Bislang sind 89 „Masterpieces of the Oral and Intangible Heritage of Humanity“ in die zugehörige Liste aufgenommen. Die Sozialwissenschaftlerin Anne Meyer-Rath (Hamburg) analysierte die Diskussionsprozesse und die neuen, uneindeutigen und sich einander zum Teil widersprechenden Kriterien, die für eine Anerkennung als „Repräsentatives immaterielles Kulturerbe der Menschheit“ angewendet werden. Beim Kriterium der „Repräsentativität“ bleibe zum Beispiel offen, auf welche Kontexte diese zu beziehen sei: auf die Menschheit gesamt oder auf eine Gruppe oder auf eine Sparte kultureller Ausdrucksformen. Ferner sollen kulturelle Phänomene in einem lebendigen Tradierungsprozess stehen, obwohl sie auch vom Verschwinden bedroht sein müssen, um als erhaltenswert zu gelten.

Estland war eines der ersten Länder, das auf Basis der Konvention immaterielle Kulturgüter würdigen ließ. Die Folkloristin Kristin Kuutma (Tartu) präsentierte die 2003 anerkannten estnischen „Meisterwerke“: die in fünfjährigem Rhythmus in Estland, Lettland und Litauen stattfindenden „Baltic Song and Dance Celebrations“ (ein mehrtägiges Festival mit mehr als 40.000 Teilnehmern, durchgeführt seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts) und den „Kihnu Cultural Space“, die Kultur der die Ostseeinsel Kihnu bewohnenden Bevölkerungsgruppe. Analog zu den Kriterien der UNESCO definierte die auf estnischem und russischem Territorium lebende ethnische Gruppe der „Seto“ ihr immaterielles Kulturerbe. Fachleute wie Kuutma begleiten dabei die indigene Beschäftigung mit den jeweiligen Ausdrucksformen (Brauch, Lied, Tanz, Handwerk u. a.) und moderieren die sozialen Prozesse, die zugleich sowohl Bewahrung als auch wirtschaftliche Nutzung des kulturellen Repertoires bewirken sollen. Die Folkloristin will dabei nicht nur praktische Hilfestellung sondern auch wissenschaftliche Reflexion leisten.

Anders als hier (oder z. B. in den USA) stößt in Deutschland bereits die Möglichkeit einer Verbindung beider Bereiche auf große Skepsis, denn Heimatpflege und wissenschaftliche Volkskunde sind spätestens seit den 1960er Jahren in ihren Interessen und institutionell deutlich getrennt. Der Kulturanthropologe Markus Tauschek (Göttingen), der den 2003 unter UNESCO-Schutz gestellten Karneval in der belgischen Stadt Binche und die Folgen dieser Auszeichnung untersucht, sieht sich bei seinen Feldforschungen in diesem Dilemma gefangen. Ihn, den analysierenden Wissenschaftler, versuchen die örtlichen Vereinsfunktionäre als solchen Experten zu instrumentalisieren, was ihm deutlich Probleme bereitet. Er soll autoritativ Auskunft geben, was sich am Karneval nach der UNESCO-Auszeichnung noch bzw. nicht mehr verändern darf, d. h. nachdem der Brauch mit der Antragstellung quasi festgeschrieben wurde. Die Karnevalisten können oder wollen nun, im Unterschied zu ihrem selbstverständlichen Handeln bisher, nicht mehr autonom über ihren Brauch verfügen; sie ordnen sich anderen Instanzen unter.

Einen Exkurs ins Languedoc des 17. Jahrhunderts unternahm die Folkloristin Dorothy Noyes (Columbus). Dort präsentierten sich einzelne in den Religionskriegen unterlegene Orte vor Vertretern des absolutistischen Staates aus Paris bei öffentlichen Festen mit riesigen Tierfiguren, die Personifikationen des jeweiligen Ortes darstellten. Noyes stellte einige dieser Feste vor und zeigte, dass in den figürlichen Repräsentationen öffentlich die politische Unterwerfung der Orte zum Ausdruck gebracht wurde, doch verwoben mit Hinweisen auf eine glorreiche Vergangenheit und auch eine aktuelle, wenn auch moderate Stärke. Örtliche Gelehrte, quasi Vorläufer heutiger Folkloristen, explizierten dabei die Tierfiguren in kurzen Theaterszenen, um ihre Bedeutungen klar zu machen. Noyes sieht in den Prozessen der Konstruktion von Personifikationen des lokalen Selbstverständnisses analoge argumentative Strategien am Werk, wie sie heute „kulturelles Erbe“ begründen.

Weitere Tagungsbeiträge beschäftigten sich exemplarisch mit lokalem oder nationalem „Kulturerbe“. Die Kulturanthropologin Dorothee Hemme (Göttingen) widmete sich den schon im 19. Jahrhundert zum nationalen kulturellen Erbe avancierten „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm, die zusammen mit ihren weiteren Werken seitdem unterschiedlich instrumentalisiert wurden. Nach der Übernahme des Grimm-Nachlasses in Berliner Bibliotheken und das Germanische Nationalmuseum, nach Denkmälern, Vereinigungen und Festakten waren weitere Etappen der Vereinnahmung im 20. Jahrhundert die nationalsozialistische Interpretation und nach dem Zweiten Weltkrieg Einrichtungen wie das Kasseler Grimm-Museum oder die „Deutsche Märchenstraße“, deren Mitgliedsorte seit 1975 die Brüder Grimm in ihren Tourismusprogrammen nutzen. Die Aufnahme des Kasseler Handexemplars der Märchensammlung in die „Memory of the World“-Liste der UNESCO 2005 entfachte schließlich heftige öffentliche Auseinandersetzungen zwischen kulturhistorisch orientierten Institutionen, deren Ausstattung sich zunehmend verschlechtert, und anderen Akteuren, die eine intensive wirtschaftliche Nutzung der „Weltmarke Grimm“ einfordern.

Um die sich verändernden Bedeutungen von Artefakten und die Aufwertung lokaler Identität durch „kulturelles Erbe“ ging es der Ethnologin Carolin Kollewe (München), die, ausgehend von Arjun Appadurai, die „Biographie“ von prähispanischen sakralen Steinfiguren und -objekten in einem südwestmexikanischen Dorf präsentierte. Ihr Bedeutungswandel von Repräsentationen von Gottheiten zu Symbolen abergläubischer Praktiken zu Gebrauchsgegenständen bis schließlich zu archäologisch wertvollen Prestigeobjekten der Nation, die heute in einem neuen Dorfmuseum gezeigt werden, war für die örtliche Bevölkerung verbunden mit einer Abkehr von ihrer indigenen Kultur und der Annahme der mexikanischen Nationalidentität. Indem die Dorfbewohner die zum „kulturellen Erbe“ Mexikos erklärten Figuren im Museum angemessen präsentieren können, zeigen sie sich selbst als „moderne“ Mexikaner. Die erhofften wirtschaftlichen Auswirkungen stellten sich bisher nicht ein, das Dorf ist in seiner Existenz gefährdet.

Am Beispiel des ehemaligen Grenzübergangs Checkpoint Charlie in Berlin zeigte die Soziologin Sybille Frank (Darmstadt), wie in den Jahren 2003/04 verschiedene private Interessengruppen divergierende Erinnerungen und Aktivitäten an diesen Ort knüpften: Als Grenzbeamte verkleidete Studierende gebrauchen die dort aufgestellte Kopie des Alliierten-Kontrollhäuschens als Kulisse, um gegen Entgelt Grenzabfertigung zu spielen und sich von/mit Touristen fotografieren zu lassen; die Besitzerin des seit 1963 bestehenden privaten „Mauermuseum[s] Haus am Checkpoint Charlie“ verurteilte diese „living-history“-Performances als Verunglimpfung von Maueropfern und des Lebenswerks des Museumsgründers Hildebrandt; sie erhielt Unterstützung durch Opferverbände, die sich gegen eine „Disneyfizierung“ des Ortes wehrten; ferner waren städtische Behörden und Senat verwickelt. Gedenken an Maueropfer und Grenzkontrolle-Sightseeing für Touristen markieren zwei Positionen, diesen Ort als „kulturelles Erbe“ auszustatten.

Die Ethnographin Milena Benovska (Sofia) verfolgte für drei bulgarische Orte die Konstruktion von lokal bedeutsamem „Kulturerbe“ aus legendären bzw. literarischen Figuren. Mangels archäologischer Stätten oder besonderer Merkmale, die sich für eine Aufwertung der peripher gelegenen Orte und die Entwicklung touristischer Aktivitäten nutzen ließen, erhofften sich lokale Initiativen die Attraktivität ihrer Orte zu erhöhen, indem sie Denkmäler für fiktive Helden errichten und Festivals veranstalten. Der Geograph Sebastian Schröder-Esch (Weimar) präsentierte erste Überlegungen zu einer Studie über die polnische Wojewodschaft Malopolskie, in der er untersuchen will, ob und wie es dem 1999 neu geschaffenen Verwaltungsbezirk gelingt, regionale Identität herzustellen und welche Rolle „kulturelles Erbe“ für ihre Ausstattung spielt.
In den 1990er Jahren führte die Europäische Union Zertifikate für Nahrungsmittel ein, die regionalspezifische oder traditionelle Produkte schützen und damit zum Erhalt des vielfältigen kulturellen Erbes in Europa beitragen sollen. Die Kulturanthropologin Gisela Welz (Frankfurt am Main) untersuchte das „qualkulative Regime der EU“, d. h. das qualitative und kalkulierende Elemente verbindende Verfahren zur Bewertung entsprechender Erzeugnisse, die in ihm enthaltenen widersprüchlichen Elemente und seine paradoxen Ergebnisse. Exemplarisch am Zertifizierungsverfahren für den zypriotischen Halloumi-Käse stellte Welz die „Ökonomisierung einer kulturellen Tradition“ dar: Zunächst wurden wegen der Vereinheitlichung hygienischer Standards in der EU kleine Betriebe geschlossen, dann konnten nationale Bürokratie und die Lobby der milchverarbeitenden Industrie ihre Kriterien definieren und schließlich wurde Halloumi-Käse geschützt, wie es ihn vor dem EU-Verfahren nicht gegeben hatte.

Abschließend diskutierte der Empirische Kulturwissenschaftler Bernhard Tschofen (Tübingen) die Frage, was der „Heritage-Boom den Kulturwissenschaften aufträgt“, und fasste dabei wichtige Positionen zusammen. Er sprach sich für eine exakte Begriffsarbeit aus, die zwischen wissenschaftlichen und „anwendungsorientierten“ Kulturbegriffen differenziert, dabei die mehr als 200-jährige Geschichte des Kulturerbe-Begriffs in je nationalen Kontexten reflektiert und heutige universalistische Konzepte kritisch befragt. Die Orte des Kulturerbes werden gelistet und kartiert und im globalen Tourismus verfügbar und erfahrbar. Über Fragen nach den Narrativen und Prozessen, die Orte zu „heritage-sites“ machen, hinaus, solle kulturwissenschaftliche Forschung ihre Aufmerksamkeit auch auf Dimensionen des Erlebens (Körpererfahrungen, Affekte, Emotionen u. a.) richten, denn in der Präsenz entstünden intensive Bindungen zwischen den Akteuren (Anbietern und Besuchern).

Das große Interesse, auf das die Göttinger Tagung mit mehr als 60 Teilnehmern stieß, verweist darauf, dass hier eine für die Volkskunde/Europäische Ethnologie/Kulturanthropologie brisante Thematik aufgegriffen worden ist. Es bleibt zu wünschen, dass die Diskussion über Positionen und Fragestellungen des Faches in Bezug auf Schutz, Bewahrung und Pflege alltagskultureller Praktiken und Artefakte unter globalen Vorstellungen auch hierzulande intensiv weitergeführt wird, schon allein um auf mögliche Anforderungen vorbereitet zu sein, wenn Deutschland einst der Konvention zum Schutz des immateriellen Kulturerbes beitritt.


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