"Vera doctrina". Zur Begriffsgeschichte der "doctrina" von Augustinus bis Descartes / "Vera doctrina". L’idée de doctrine de saint Augustin à Descartes

"Vera doctrina". Zur Begriffsgeschichte der "doctrina" von Augustinus bis Descartes / "Vera doctrina". L’idée de doctrine de saint Augustin à Descartes

Organisatoren
Philippe Büttgen (Centre National de la Recherche Scientifique, Paris / Mission Historique Française en Allemagne, Göttingen); Ruedi Imbach (Université Paris IV-Sorbonne); Ulrich Johannes Schneider (Universitätsbibliothek Leipzig); Herman J. Selderhuis (Theologische Universiteit Apeldoorn / Johannes a Lasco Bibliothek Emden); Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel
Ort
Wolfenbüttel
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.04.2006 - 29.04.2006
Url der Konferenzwebsite
Von
Philippe Büttgen, CNRS Paris/MHFA Göttingen Übersetzt von Falk Bretschneider, EHESS Paris

Vom 26. bis 29. April 2006 fand im Bibelsaal der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel ein internationales und interdisziplinäres Kolloquium unter dem Titel „Vera doctrina. Zur Begriffsgeschichte der doctrina von Augustinus bis Descartes/Vera doctrina. L’idée de doctrine de saint Augustin à Descartes“ statt. Nach dem Madrider Kolloquium (Casa de Velázquez) „Dire le vrai aux XVIe et XVIIe siècles. Langue, esthétique, doctrine/Decir lo verdadero en los siglos XVI-XVII. Lengua, estética, doctrina“ (vgl. Bulletin d’Information der Mission Historique Française en Allemagne, 41, 2005, S. 37-42) stellte dieses Arbeitstreffen eine zweite Etappe innerhalb des Forschungsprogramms „Doctrine: un objet pour l’histoire sociale et intelectuelle de la première modernité. Formatage du savoir et identités religieuses, XIVe-XVI siècles/Lehre und doctrina. Wissensformierung und religiöse Identität in der Frühen Neuzeit“ dar, das von der Mission Historique Française en Allemagne (Dr. Philippe Büttgen), der Herzog August Bibliothek (Prof. Dr. Ulrich Johannes Schneider; jetzt UB Leipzig) und der Johannes a Lasco Bibliothek Emden (Prof. Dr. Herman J. Selderhuis) aufgelegt wurde. Die Organisation der Wolfenbüttler Tagung wurde finanziell unterstützt von der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung (Köln) und der MHFA und lag in den Händen von Philippe Büttgen, Prof. Dr. Ruedi Imbach (Université Paris IV–Sorbonne, Centre Pierre Abélard), Ulrich Johannes Schneider und Herman J. Selderhuis.

In seiner Einleitung in das Tagungsthema erinnerte Philippe Büttgen zunächst an die Ziele des Programms „Doctrine“: Zwischen 1300 und 1800, vom Begriff der sacra doctrina in der „Summa theologiae“ des Thomas von Aquin bis zur „Wissenschaftslehre“ von Fichte, war doctrina bzw. Lehre zugleich Bezeichnung für eine dominierende Form von Wissen wie für eine besonders strikte Glaubens- und Verhaltensnorm: Man verfasste Lehren und Lehrbücher und glaubte zugleich an die Lehre, indem man die eigenen Worte und Handlungen an dem ausrichtete, was sie vorschrieb. Indem hier Form und Norm zusammentreffen, ist es möglich, ein Forschungsprogramm aufzulegen, das sich einem Phänomen der longue durée widmet und verschiedene Sparten der Geschichtsschreibung (Philosophiegeschichte, Theologiegeschichte, Kirchengeschichte, Religionsgeschichte und Sozialgeschichtle des Kulturellen) in einem bislang wenig gepflegten Dialog vereinigt. Um diesen Dialog zu ermöglichen, ist es nötig, in der Vielfalt von konkurrierenden (philosophischen, theologischen, juridischen, naturwissenschaftlichen) Lehren das Phänomen doctrina selbst zu erfassen – die Doktrin also als eine Wissensform herauszuarbeiten, die eine spezifische Art und Weise darstellt, Aussagen mit Wahrheitsanspruch zu machen und miteinander zu verbinden. Einen ersten Schritt dazu stellt eine Begriffsgeschichte der doctrina dar, die sich auf die Geschichte der Lehrinstitutionen (Universitäten) und der Wissenskontrolle (Zensur) stützt. Mit einer Geschichte der sozialen und religiösen Gebrauchsweisen der doctrina sollen ihm weitere folgen. In einer breiteren Perspektive soll dadurch ermöglicht werden, eine Geschichte des Zwangs zum Wahren am Ende des Mittelalters und in der Frühen Neuzeit zu erfassen.

In seinem Einführungsvortrag nahm Kurt Flasch (Mainz) eine Neuinterpretation des Ursprungswerks jedes lehrhaften Denkens im Mittelalter vor: Augustinus’ „De doctrina christiana“. Dieses bildet den Abschluss eines Prozesses, der, mit den Apostelbriefen des Paulus einsetzend, den christlichen Glauben in Gestalt eines Korpus von verbindlichen Glaubensaussagen fixiert hatte. Die Eigentümlichkeit von „De doctrina christiana“ liegt indes darin, nicht nur ein credo zu sein, sondern auch die Beschreibung eines Studienprogramms für Christen, ein Curriculum also, das all das umfasst, was diese legitimerweise aus den rhetorischen, dialektischen und exegetischen Lehren (doctrinae) der heidnischen Schulen schöpfen konnten. Diese Dualität wurde von Kurt Flasch in Verbindung gebracht mit der immer noch stark umstrittenen Chronologie des Werkes, dessen Aufzeichnung für eine Dauer von dreißig Jahren (396-427) unterbrochen wurde. Untersucht wurden einerseits die großen Gegenüberstellungen, die am Beginn des Traktats erläutert werden (res-signa, exemplum-sacramentum, uti-frui), andererseits das charakteristische Zögern in Augustinus’ Urteil über das Wissen der Heiden im Zusammenhang mit den Entwicklungen seiner Theologie der Sünde. Kurt Flasch zeigte so eines auf: Die Unterschiede zwischen den zwei „Epochen“ von „De doctrina christiana“ entscheiden über den Sinn, den der doctrina-Begriff im Mittelalter annahm, auch und vor allem, wenn Augustinus versucht, diese Unterschiede zu relativieren bzw. unauffällig zu machen: Die christliche Revision der antiken Bildungsstandards wird im Verlauf des Werkes selbst immer reichhaltiger und komplexer. Sie geht so weit, neue Modalitäten der Aneignung zu erfinden, die vom doctrina-Begriff ausgehend eine Form christlicher Kulturphilosophie beschreiben („Doctrina christiana bei Augustin“).

Die Ergebnisse seiner Untersuchungen über die Herausbildung des Konzepts der sacra doctrina bei Thomas von Aquin präsentierte Adriano Oliva (Institut de Recherche sur l’Histoire des Textes, CNRS, Paris). Mit einer lexikalischen Untersuchung anhand des „Index thomisticus“ ließ er die Vielfalt des Wortsinns von doctrina beim Aquinaten deutlich werden. doctrina konnte Lehre bedeuten, verstanden sowohl als Lehrinhalt (veritas quae docetur) wie als Akt des Lehrens (actus docendi), aber auch die von einer Person besessene Bildung oder die einzelne Wissenschaft. Jeder dieser Wortsinne bringt eigene Probleme hervor, die bald semantischer Natur – die doctrina bezeichnet als Bildungsinhalt nicht notwendigerweise ein Ensemble von Wahrheiten, sondern manchmal auch eine Art und Weise des Handelns, eine Lebensregel, eine praktische Gewohnheit –, bald theologischer Natur – die doctrina als Lehrakt führt auf die Frage zurück, wer zum Lehren befugt ist – sein können. Die sacra doctrina, die als ihr eigentliches Objekt zu Beginn der „Summa theologiae“ eingeführt wird, bezieht sich auf den letzten Sinn, den von Wissenschaft. Neu untersucht wurde von Adriano Oliva die Frage nach dem Verhältnis von sacra doctrina, sacra scriptura und theologia bei Thomas von Aquin und den Theologen, die ihm vorausgegangen waren. Die Theorie der Subalternation führt die sacra doctrina auf die scientia divina selbst zurück (und nicht, wie bei Bonaventura, auf die sacra scriptura), und sie macht es möglich, dass bei Thomas die Wortsinne von doctrina nicht unvereinbar sind. Beobachten lässt sich im Übrigen eine Ähnlichkeit in den Bedeutungen von sacra doctrina, theologia und sacra scriptura, die von der Praxis der Kopisten, für die diese Termini offensichtlich austauschbar waren, noch betont wurde. Diese Ähnlichkeit verbietet es jedoch nicht, nach den feineren Nuancen zu suchen, die zwischen diesen Ausdrücken bestehen („doctrina et sacra doctrina chez Thomas d’Aquin et quelques-uns de ses contemporains“).

Maarten Hoenen (Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg/Br.) analysierte die außerordentliche Komplexität, die dem mittelalterlichen Vokabular eigen ist, wenn es darum geht, eine bestimmte theologische Position und die Methodik des Denkens, aus der sie hervorgegangen ist, zu bezeichnen. Eine erste Schwierigkeit ergibt sich durch das Verhältnis zwischen dem Begriff doctrina (im Sinn von Lehrinhalt) und jenem von via, der gebraucht wurde, um eine spezifische, auf Autoritäten gegründete Lehrweise zu kennzeichnen (via Thomae, via Alberti, via Scoti). Falsch wäre es anzunehmen, jedem „Weg“ habe eine präzise „Doktrin“ entsprochen. Häufig ist es so, dass doctrina bei einem Autor eine sehr spezifische Aussage, eine besondere „Meinung“, bezeichnet, während opinio oder sententia auf die Gesamtheit dessen zurückverweisen, was wir heute die „Doktrin“ eines Autors nennen. Via kann darüber hinaus ein spezifisches Verfahren zur Lösung eines präzisen Problems bezeichnen, lässt sich jedoch auch in dem von der bisherigen Forschung stark rezipierten Sinne von via antiqua und via moderna nachweisen, der eine bestimmte, für weite philosophische und theologische Problemfelder anwendbare Methodik ausdrückt. In beiden Fällen stellt sich deshalb die Frage: Worin bestand für einen mittelalterlichen Theologen die Einheit einer doctrina, beispielsweise der doctrina Thomae? Und woran dachte er, wenn er von einer via im Allgemeinen sprach? Die Antwort auf diese für die Geschichte der Lehrstreitigkeiten ab dem 14. Jahrhundert wichtigen Fragen lässt sich finden, wenn man weitere Kriterien heranzieht, die selbst nicht doktrineller Natur sind. Die Überzeugungskraft der angeführten Autoritäten, die Reputation und die Anzahl der beteiligten Universitäten – all dies sind Signale, mit denen jede der beteiligten Parteien ihre Legitimität einforderte und versuchte, den Gegner in eine minoritäre Position hinein zu zwingen. Etliche Texte des 15. Jahrhunderts (Pierre d’Ailly, Johannes de Montesono, Gerhardus de Monte) versuchten zu systematisieren, was dabei auf dem Spiel stand: Sie forderten selbst terminologische Aufklärung über den Gebrauch von verba, doctrina, sententia ein und bieten als solche den Ausgangspunkt für eine Untersuchung der Methoden geistiger Arbeit im Mittelalter („Doctrina und via im Spätmittelalter“).

Zénon Kaluza (Centre d’Études des Religions du Livre, CNRS, Paris-Villejuif) untersuchte in seinem Vortrag die Figur des Pariser Universitätskanzlers Jean Gerson († 1428). Er legte so den Schwerpunkt auf die institutionelle Verankerung des doctrina-Begriffs im ausgehenden Mittelalter. Gerson sah das Phänomen der lehrhaften Wissensvermittlung in ihrer Wechselbeziehung zur Tätigkeit der Doktoren: Untersucht wurde, was genau der Umstand bedeutete, dass eine Frage im universitären Rahmen doctrinaliter behandelt wurde, und zwar solange, bis die Kirche in der Person ihrer Bischöfe sententialiter eine Bestätigung derjenigen Antwort gab, die ihrer Auffassung nach am besten auf die doctrina fidei passte, welche wiederum, von der täglichen Arbeit der Doktoren aus betrachtet, ein regulierendes Ideal darstellte. Zum einen sind deshalb die Bedingungen zu untersuchen, die erfüllt sein mussten, um an der Erarbeitung eines doctrinale iudicium teilzuhaben (stärker als das ehrenhalber erworbene Doktorat zählte die licentia docendi); zum anderen aber auch generell die Vorstellungen, die die mittelalterlichen Doktoren von ihrem Metier hatten. Man erhält so eine Definition des Theologen, in der soziologische wie ekklesiologische Elemente nicht voneinander zu trennen sind. Sie schloss bei Gerson sehr konkrete Absichten nicht aus, die sich an dem Anspruch der Sorbonne auf eine leitende Rolle in der Klärung von Glaubensfragen orientierten. Mit dieser Definition wird eine Untersuchung des Verhältnisses möglich, das die doctrina in der Theologie mit anderen Wissenszweigen unterhielt, vor allem mit der Logik und der Rhetorik, aber auch mit der Rechtswissenschaft, was einen wichtigen Platz in Gersons Auffassung der Regeln doktrineller Sprache einnahm („Doctrina chez Gerson“).

Den Übergang zur Frühen Neuzeit eröffnete der Vortrag von Francesco Beretta (Laboratoire de Recherches Historiques Rhône-Alpes, CNRS, Lyon) über den Rekurs auf den doctrina-Begriff in den Lehrverurteilungen im Italien des 16. und 17. Jahrhunderts. In einer Untersuchung über die Produktion von Orthodoxien, verstanden als ein Prozess der intellektuellen Regulierung, an dessen Ende bestimmte Lehrinhalte als absolut geltend gesetzt sind, wurde hier die Praktik des Zensors näher beleuchtet. Am Beginn der Analyse steht jenes Klima der Rivalität, in dem sich seit dem beginnenden 15. Jahrhundert ein aus den artistischen und medizinischen Fakultäten stammender säkularer Aristotelismus und ein kirchlicher Aristotelismus, der aus den mönchischen studia hervorgegangen war, gegenüber standen. Nach der Bulle Apostolici regiminis (1531) und den Aufregungen, die Pomponazzi mit seinen Stellungnahmen über die Unsterblichkeit der Seele ausgelöst hatte, nahm die Kontroverse über die Christianisierung des Aristotelismus mit der Installierung der römischen Inquisition ab 1542 neue Formen an. Francesco Beretta untersuchte den Gebrauch des Wortes doctrina in vier von der Inquisition verhandelten Fällen um Cremonini, Patrizi, Galilei und die atomistischen Thesen. Vorwiegend wurde doctrina hier gebraucht, um die verurteilte Position zu kennzeichnen. Die Zensoren beriefen sich ihrerseits lediglich auf die Autorität der Offenbarung und der Schrift: 1633 wurde so die „perniciosa doctrina“ Galileis der „Wahrheit des Katholizismus“ gegenüber gestellt. In diesem Kontext erscheint der Rekurs auf die „Lehre der Kirche“ im Laufe der Kontroverse um den Atomismus wie ein Schritt hin zum Kompromiss, ja sogar wie ein erstes Eingeständnis von Schwäche von Seiten der Inquisitionsrichter, das mit dem bricht, was bisher die Regel des inquisitorischen Vorgehens darzustellen schien, nämlich eine Verabsolutierung der Beurteilungskriterien, in der die theologische Argumentation die Rolle eines bloßen Instruments spielte („Doctrine des philosophes, doctrine des théologiens et Inquisition romaine au XVIIe siècle: le cas de l’héliocentrisme et de l’atomisme“).

Der Vortrag von Dominique de Courcelles (Centre de Recherches en Rhétorique, Philosophie, Histoire des Idées, CNRS, Lyon) über Johannes vom Kreuz zeigte die Beschäftigung mit der doctrina in einem Zusammenhang, der auf den ersten Blick völlig anders war als der lateinisch und universitär geprägte, der bislang im Mittelpunkt der Tagung gestanden hatte, nämlich dem der volkssprachigen Mystik und Dichtung. Es gibt eine spanische Besonderheit des doctrina-Begriffs, die sich an die Auseinandersetzung über Status und Recht der Doktoren knüpfte: Zu Ende des 15. Jahrhunderts wurde beispielsweise Isabel de Villena, Äbtissin des Klarissinnen-Konvents zu Valencia und Autorin einer katalanisch geschriebenen Vita Christi, als doctoresa bezeichnet, obgleich sie den entsprechenden Titel nicht besaß. Im 18. Jahrhundert, während des Heiligsprechungsprozesses von Johannes vom Kreuz, konnte man von einem maestro de la doctrina sprechen, und man rühmte bei ihm eine doctrina sólida. Damit setzte man Versuche fort, die seit dem ersten Drittel des 17. Jahrhunderts unternommen worden waren, um die Kompatibilität seiner mystischen Theologie mit der scholastischen und insbesondere thomistischen Lehre herauszuarbeiten. Entscheidend für Johannes selbst blieb, ebenso wie die kirchliche Lehrvermittlung, der Gedanke einer mittels einer doctrina übermittelten Wahrheit. Das Gedicht „Subida del Monte Carmelo“ enthält explizit eine doctrina sustancial y sólida, die in Einklang mit der doctrina de la Sante Madre Iglesia Católica gebracht wird und die, in der ihr eigenen „Substantialität“ (sustancial), nach einem sakramentalen Modell konzipiert ist. Ausgehend vom Text des Gedichtes präsentierte Dominique de Courcelle ein komplexes Geflecht, das über das Wechselspiel zwischen den Strophen und ihrem Kommentar (declaración) die Modalitäten des mystischen Wahr-Sagens regelt („Dire la doctrine dans un poème“).

Thierry Gontier (Université Jean-Moulin Lyon III) verortete den Gebrauch des doctrina-Begriffs bei Montaigne zunächst im Kontext der Wissenschaftskritik, die in den „Essais“ zu lesen ist. Die maßgeblichen Motive dieser Kritik sind auf den Begriff der Doktrin anwendbar: Unpersönlichkeit, Nutzlosigkeit – „il ne faut guère de doctrine pour vivre à notre aise“. Das Ganze fügt sich zu einem topos, den man zwar bei Seneca (Gegenüberstellung von literatus und doctus) und beim Augustinus (Gegenüberstellung von sapientia und scientia) wieder findet, der jedoch von Montaigne erneuert wurde, indem er ihn nicht nur auf das Schulwissen (Aristoteles, „monarque de la doctrine moderne“), sondern auch – und im Gegensatz zur humanistischen Kritik – auf die Kultur der „belles-lettres“ anwandte. Nach Montaigne bezeichnet die Fixierung auf das Doktrinelle eine Fehlentwicklung nicht im Wissen, sondern im Verhältnis zum Wissen. Es besteht deshalb für ihn kein Unterschied zwischen einer spekulativen und einer praktischen Wissenschaft; vielmehr geht es darum, mit den verschiedenen doctrinae ein Verhältnis der Immanenz zu etablieren, das von der Heteronomie des Bücher- bzw. Kompilationswissens wegführt. Der gute Gebrauch lehrhaften Wissens ist nach Montaigne einer, der es versteht, sie jener Ausdrucksmodalität zu entreißen, die es zu einem abgeschlossenen, definitiven und ostentativen Wissen macht. Für Montaigne galt es, einen am Modell der kindlichen „Versuche“ („essais“) – „instruisables, non instruisants“ – orientierten Sinn des Erforschens wieder zu finden. Möglich wurde für ihn somit, die doctrina zu akzeptieren als „non magistrale, imperieuse et importune comme de coustume, mais suffragante et docile elle mesme“ („Doctrine et science chez Montaigne“).

Ian Maclean (All Souls College, Oxford) zeigte in seinem Vortrag zunächst die große Bandbreite auf, die die Bedeutung des Wortes doctrina in seinem Gebrauch durch die Ärzte in der Renaissance gewinnen konnte und die von einem mentalen habitus, der es erlaubte, jemanden als Gelehrten zu kennzeichnen, über die Lehrpraxis und ihre Methode bis zur Niederschrift einer medizinischen ars reichte. Besonders Lehrpraxis und -methode haben das Nachdenken der Ärzte über die ordo doctrinae (oder ordo docendi) bestimmt. Daran anschließend legte Ian Maclean dar, dass sich in diesem Nachdenken wesentliche Züge der medizinischen Kontroversen zu Beginn der Neuzeit bündelten. Ihrem Inhalt nach zeigt die medizinische Doktrin selbst jedoch nur wenige Variationen, was der Geschlossenheit in der Referenz auf Hippokrates, Galen und Avicenna zuzuschreiben ist, die die medizinischen Fakultäten Europas durchzog. Fragen zur Methodik des Lehrens schlossen, an Agricola und Ramus anschließend, insbesondere Diskussionen über die Anwendung dialektischer Konzepte ein. Man sprach damals von verschiedenen „Wegen“ und gestand der medizinischen Logik eine Autonomie zu. Die Praxis der medizinischen Kunst kannte ganz gleiche Debatten in der Nosologie, in der Anatomie, aber auch – angestoßen von einer Welle der Empirie, die sich ab 1540 über mehrere Universitäten ausbreitete – in der Botanik und der Zoologie. Letztlich mündete die methodologische Diskussion über die medizinische Doktrin und ihre Anwendung in die Diskussionen ein, die über das handelnde Denken des Praktikers geführt wurden, d.h. über den Typ einer intuitiven Logik in der Diagnose und in den Gesten des Arztes, die sich jedem lehrhaften Vorgehen entziehen („Doctrines médicales à la Renaissance: continuités et innovations“).

Vom Gebrauch des Konzeptes der doctrina bei den Medizinern führte über die Referenz auf die Texte Galens der Weg geradezu in die juristischen Fakultäten. Dies zeigte der Vortrag von Mathias Schmoeckel (Rheinische Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn) auf. Im 16. Jahrhundert wurde der Gebrauch von doctrina seltener. Er verdichtete sich, insbesondere in der neuen Gattung der Einführungswerke in das juristische Studium, auf eine Gegenüberstellung mit dem juristischen usus. In ihrer Darstellung der universalis juris doctrina zählten diese Lehrbücher die nicht-rechtlichen Hilfsmittel des Jurastudiums auf – von der Beherrschung der Rhetorik bis zum Besitz eines als adminiculum doctrinae geregelten habitus. Unter diesen Hilfsmitteln befindet sich nirgendwo ein Hinweis auf irgendeine Form der theologischen Ausbildung: Hier zeichnet sich die Tendenz zu einer Professionalisierung der Rechtswissenschaft ab, die zeitgleich mit einem immer größeren Einsatz von Juristen im Staatsdienst spürbar wurde. Führt man sich die rechtlichen Implikationen von Konzepten wie doctrina evangelica oder doctrina catholica etwa in der Schwurpraxis vor Augen, dann ist zwar die Feststellung, die Juristen hätten sich am Prozess der landesherrlichen Konfessionalisierung nicht beteiligt (Notker Hammerstein), zu relativieren; gleichwohl arbeiteten die Juristen in der Folge im Wesentlichen jedoch daran, das Recht gegen die theologische Kontroverse zu immunisieren. Sie erhoben die Rechtswissenschaft zur gemeinsamen Plattform plurikonfessioneller Gesellschaften und sie beabsichtigten damit, aus ihr eine zwar nicht römische, jedoch katholische im Sinne einer universellen Wissenschaft zu machen („Das Recht als katholische Wissenschaft. Das Problem der juristischen Lehre im 16. Jahrhundert“).

Markus Friedrich (Ludwig-Maximilians-Universität München) eröffnete den Reigen jener Vorträge, die sich den Transformationen widmeten, die sich in der Debatte um die doctrina im Kontext der Konfessionalisierung der Gesellschaften und Staaten nach 1550 vollzogen. Die Diskussionen, die innerhalb der Gesellschaft Jesu zu einer Zeit geführt wurden, bis etwa um die Wende des 17. Jahrhunderts die berühmte ratio studiorum ausgearbeitet wurde, zeichneten sich durch ihre explizite Art und Weise aus, mit der sie, über die strikt theologische Argumentation hinausgehend, alles offen legten, was mit dem Besitz einer einheitlichen und leicht identifizierbaren Lehre auf dem Spiel stand. Uniformitas und soliditas doctrinae stellten Wertbegriffe dar, die zweierlei leisten sollten: einerseits die individuelle Überzeugung derer aufnehmen, denen man sie eindrillte, andererseits ihren Wunsch nach sozialer Distinktion befriedigen. Diese Absicht realisierte sich über ein Verständnis der doctrina, die aus ihr einen spezifischen Modus der Intervention in einem öffentlichen Raum machte. Die zentrale Verwaltung der Jesuiten, ihr Gehorsamsgelübde und ihr weltumspannendes Kommunikationsnetz schrieben sich seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert in diese Logik ein. Aus ihr hervor ging eine Erörterung von Fragen, die allgemein die Herausbildung von Doktrinen betrafen, jedoch mit der Herausbildung der jesuitischen Lehre im Besonderen in einem spezifischen Wechselverhältnis standen. Die Besonderheit der letzten wurde unablässig betont, ohne dass jedoch zur Debatte gestanden hätte, von ihr eine vollständige und umfassende Ausformulierung zu liefern. Acquaviva lehnte es beispielsweise ab, eine Lehre auf eine Liste von Thesen zu reduzieren, und das jesuitische Treuebekenntnis zur Lehre des Thomas von Aquin schloss nicht die Aufzählung von spezifisch thomistischen conclusiones ein. Die Intensität der jesuitischen Debatten und die ihnen eigene durchgängig metatheoretische Orientierung knüpft sich somit in direkter Weise an die Herausbildung von theologischen Identitäten in der Frühen Neuzeit („Einheit oder Freiheit? Debatten um die Homogenität von doctrina im Jesuitenorden um 1600“).

Theodor Mahlmann (Burgdorf) rekonstruierte die Debatte um die Objektivität der Doktrin bei der zweiten Generation lutherischer Theologen um 1610: Kann die doctrina etwas bedeuten, was über den einfachen – und subjektiven – Akt, etwas zu lehren, hinausgeht? Bei Melanchthon – und zwar zwischen dem doctrinam tradere im noch mehrdeutigen Sinne der Augsburger Konfession (Art. XX) und der Publikation eines Corpus doctrinae christianae 1560 – scheint es, als ob der Begriff sich im Gebrauch immer klarer hin zur Bezeichnung eines Ensembles an dogmatisch verbindlichen Aussagen entwickelte, welches dem Akt der schulischen oder kirchlichen Übermittlung dieser Aussagen übergeordnet ist. Diese Entwicklung kehrte sich eindeutig um in den folgenden Generationen, in denen Balthasar Meisner („Philosophia sobria“, 1611-1623), Georg Calixt („Epitome theologiae“, 1619), Johann Gerhard („De natura theologiae“, 1625) und noch Abraham Calov („Systema locorum theologicorum“, 1625) die theologischen Lehrregeln für die lutherischen Universitäten festlegten. In Frage stand folglich die Beziehung zwischen Lehre und Theologie, da die doctrina auf den Lehrakt oder besser: auf ein gegebenes Wissensgebiet (wie disciplina, ars oder scientia) zurückgeführt wurde, während doch der Schwerpunkt auf die theologia als Disposition oder habitus des Theologen gelegt wurde. Charakteristisch für diesen theologischen habitus war, dass er nicht über den Weg der Übung erworben werden konnte, sondern allein über die Erleuchtung, welche Gott über den Weg seines Wortes dem einen oder anderen zu geben gewillt war. Auch wenn diese scholastische Lehrbuchliteratur mitunter einen anderen Anschein vermittelt, wurde Theologie damals doch von Doktrin geschieden: Die Theologie war die Lehre von Gott, die von ihm selbst herrührte, und nicht ein Ensemble von Gedankenentwürfen über Gott. Die daraus folgende Konsequenz wurde ausdrücklich formuliert: Theologe konnte ein jeder sein, bis hinunter zum Landpfarrer oder zum einfachen Gläubigen. Die professionell begründete Legitimität des universitären Theologen ließ sich nur auf seine Beherrschung der Regeln der Kontroverse zurückführen („Zum doctrina-Begriff in der nachreformatorischen Theologie“).

Dass von den 22.000 Seiten des „Corpus reformatorum“ nicht weniger als 9.000 das Wort doctrina enthalten, bemerkte eingangs seines Vortrages Herman J. Selderhuis (Theologische Universiteit Apeldoorn, Johannes a Lasco Bibliothek Emden). Er unterstrich die Notwendigkeit, den Gebrauch des Begriffes nach den sehr unterschiedlichen Kontexten zu differenzieren, in denen er von den reformierten Theologen des 16. Jahrhunderts gebraucht wurde (Texte von Calvin, Glaubensbekenntnisse, Katechismen, Kirchenordnungen). Dabei darf als eine Besonderheit der „zweiten Reformation“ gerade die Kontinuität in der Inspiration gelten, die diese verschiedenen Genres miteinander verbindet. In der „Institution“ von Calvin konnte die doctrina zum einen den Akt des Predigens bezeichnen, zum anderen aber ebenso auch der Anlass sein für eine spezifische theologische Auslegung, die aus ihr einen Spiegel oder ein Bild Gottes machte, dem es sich anzugleichen galt. Sacra doctrina konnte so auch, von einer Ausgabe der „Institution“ zur nächsten, durch sapientia ersetzt werden – was zeigt, dass der Begriff nicht von einer terminologischen Fixierung ergriffen war. Daneben wurde das Symbol der Apostel regelmäßig als compendium doctrinae bezeichnet, und eine große Anzahl reformierter Glaubensbekenntnisse gebrauchten für sich selbst diesen Ausdruck. Im Katechismus wurde die „Doktrin des Evangeliums“ sorgfältig vom Evangelium selbst unterschieden – zweifellos, weil in den Augen der Reformierten die Erhaltung der reinen Lehre kein erstrebenswertes Ziel an sich war. Die doctrina wurde für ihre Wirkmächtigkeit geschätzt, mit der sie die Befolgung des göttlichen Gesetzes erlaubte. In diesem Sinne griffen die Kirchenordnungen auf sie zurück, und Calvin konnte erklären, die doctrina sei die Seele der Kirche und die disciplina ihre Nerven („Der doctrina-Begriff in der reformierten Tradition des 16. Jahrhunderts“).

Der Schlussvortrag von Denis Kambouchner (Université Paris 1 Panthéon-Sorbonne) arbeite im Werke von Descartes mehrere Kennzeichen eines Denkens der Doktrin heraus, das jedem Lehrinhalt vorgängig blieb. Die Epistel gegen Voetius stellte die doctrina als ein in den Büchern abgelagertes Wissen der eruditio gegenüber, die als buchstäbliche Kultur der Geistes- und Sittenvervollkommnung verstanden wurde (4. Teil, „De usu librorum et Voetii doctrina“, 1643). Die kartesianische Kritik des Bücherwissens zugunsten dessen, was ein jeder clare et evidenter wahrzunehmen vermag (Regulae III), soll jedoch mit Vorsicht herangezogen werden – nicht nur, weil auch Descartes dem überkommenen Wissen einen Nutzen zuerkannte. In der Neubestimmung der alten Thematik der docta ignorantia, die er vornahm, sah er ein Zeichen für die doctrina ebenfalls darin, „das frei heraus zu bekennen, was [man] eigentlich nicht weiß“ (Brief an Regius, Januar 1642). Dazu kommt, dass Descartes in seinen reifen Jahren von „[m]einer Doktrin“ sprach (Brief an Regius, Juli 1645) und sich hinsichtlich der mathematischen Lehre von Viète eine „Einordnung“ vorstellen konnte, die sich der des Projekts der mathesis universalis näherte (Brief an * [anonym], Juni 1645). Philosophieren durch Ordnung, das also war für Descartes die wahre Lehre. Die vorsichtigen, aber loyalen Positionierungen des Philosophen gegenüber dem theologischen Wissen deuteten darüber hinaus ein Denken der Rechtschaffenheit und Redlichkeit an, das zweifelsohne eine der tiefsten und subtilsten Schichten des Kartesianismus darstellt („Descartes: la doctrine inversée“).

Der aus dem Kolloquium hervorgehende Tagungsband wird in der Reihe „Wolfenbüttler Forschungen“ (Harrassowitz Wiesbaden) erscheinen. Was an begriffsgeschichtlichen Elementen der doctrina in den Beiträgen auf dem Kolloquium „Vera doctrina“ in Wolfenbüttel zusammengetragen wurde, soll später mit einer Annäherung an die frühmoderne doctrina als soziales und religiöses Phänomen verbunden werden. Diesem Zweck wird eine Fortsetzungstagung dienen, die unter dem Titel „Sacra doctrina. Lehre, Doktrin und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit/Sacra doctrina. Doctrine, confession et société, 1500-1800“ für den 27.–30. Juni 2007 in Göttingen geplant ist.