Europa im Weltbild des Mittelalters: Kartographische Konzepte

Europa im Weltbild des Mittelalters: Kartographische Konzepte

Organisatoren
Prof. Dr. Ingrid Baumgärtner, Universität Kassel, und Prof. Dr. Hartmut Kugler, Universität Erlangen-Nürnberg
Ort
Nürnberg
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.06.2006 - 17.06.2006
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Von
Ingrid Baumgärtner / Stefan Schröder

An welcher Vergangenheit orientiert sich die Zukunft der ‚Europäischen Union’? Dies war die kurz gefasste Leitfrage einer internationalen Tagung zum Thema „Europa im Weltbild des Mittelalters: Kartographische Konzepte“, die Ingrid Baumgärtner (Mittelalterliche Geschichte, Universität Kassel) und Hartmut Kugler (Germanistische Mediävistik, Universität Erlangen-Nürnberg) vom 15. bis 17. Juni 2006 am Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg veranstalteten. Nach der Begrüßung durch die stellvertretende Leiterin des Germanischen Nationalmuseums Adelheid Müller skizzierten die beiden Organisatoren einleitend kurz das Anliegen. Erklärtes Ziel war es, angesichts aktueller Diskussionen über den Kulturraum Europa die geographischen und kartographischen Grundlagen und Vorstellungen des Mittelalters zu erfassen und in historiographische und literarische Wissens- und Überlieferungszusammenhänge einzubinden. Denn seit der Spätantike repräsentierte der Name Europa einen von drei Teilen der bewohnbaren Welt, wobei die Abfolge und Gewichtung der drei Kontinente Asien - Europa - Afrika von der Mittelmeer-Perspektive bestimmt war. Heute ist mit Europa selten der geographische, bis zum Ural reichende Kontinent gemeint, sondern es verbinden sich mit dem Begriff ganze Vorstellungskomplexe von Kultur-, Wirtschafts- und Verkehrsräumen, Lebensbedingungen und politischen Vorgaben, die schwerlich auf einer Landkarte darzustellen und deren Ursprünge oft im Mittelalter zu verorten sind. Das Streben nach einer kulturgeographischen Charakterisierung und Abgrenzung Europas im Mittelalter erfordert folglich die Auseinandersetzung mit den Fragen, ob und wann bzw. wieweit sich Europa als Vorstellungsbild eines (nicht nur) räumlich-geographischen Kontinuums konstituierte, wo dessen Grenzen verliefen und welche Argumentationsstrategien und Konzepte sich hinter den Abgrenzungen und Zuordnungen einzelner Regionen und Völker verbargen.

Die Vorträge der ersten Sektion „Repräsentationen“ beschäftigten sich mit den Konstruktionen von Europa und mit den kulturellen Paradigmen der Darstellung des topographischen Raumes in Text und Bild. Alfred Stückelberger, Bern („Das Europabild bei Ptolemaios“), analysierte das an ältere Traditionen anknüpfende Weltbild des Klaudios Ptolemaios. Obwohl die bereits bei Herodot als bekannt vorausgesetzte Einteilung der Ökumene in drei Kontinente nicht in Einklang mit dem geographischen Erfahrungsraum der Griechen und Römer stand, bildete sie infolge der Rezeption des ‚Handbuchs der Geographie’, dessen lateinische Übersetzung 1406 zu einer weiten handschriftlichen Verbreitung und zu zahlreichen Druckauflagen führte, dennoch die Grundstruktur fast aller geographischen Werke von der Antike bis in die Neuzeit. Stückelberger betonte den realistischen Gehalt des Ptolemäischen Europabildes. Der Ortkatalog enthalte für Europa 2616 durch Koordinaten bestimmte Ortsnamen und 557 Völker, die in zehn Europakarten zu einzelnen Regionen visualisiert sind. Speziell die Fragen nach der Originaltreue des überlieferten Kartenmaterials und nach dessen potentiellen Modifikationen in der Rezeption regte die kontroverse Diskussion nach dem Vortrag besonders an.

Patrick Gautier Dalché, Paris („Représentations de l’Europe dans les textes géographiques, XIIe-XIVe siècles“), spürte dem Europa-Bild in enzyklopädischen Texten des 7. bis 14. Jahrhunderts nach und verdeutlichte, dass das antike Wissen über die nördlichen, östlichen und südöstlichen Regionen Europas im Hochmittelalter eine Erweiterung und Vertiefung besonders in den Schriften des Gervais von Tilbury und Bartholomäus Anglicus erfahren habe. Der Referent führte dies auf die Christianisierung, die Auseinandersetzung mit der byzantinischen Welt nach dem Schisma und die wachsende Bedrohung durch die Türken zurück. Zur inhaltlichen Bestimmung dieser Räume unterschied er in den Texten zwei Modelle: einerseits einen Raum zwischen dem eigenen christlichen und dem von schismatischen Christen oder Heiden bevölkerten fremden Gebiet, andererseits einen peripheren Raum, dessen Völker anhand ihrer Sitten und Gebräuche als kulturell rückständig galten. Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass die Beschreibung dieser Räume im geographischen Diskurs nie eindeutig gewesen sei, auch wenn die geographischen Texte ein zunehmendes Bewusstsein von der Zugehörigkeit dieser Regionen zu Europa veranschaulichten.

Hartmut Kugler, Erlangen-Nürnberg („Europa pars quarta“), erörterte die im Genter Codex des „Liber Floridus“ überlieferte Zeichnung „Europa mundi pars quarta“ des Lambert von St-Omer als eine Ausschnittvergrößerung aus der Sphera geometrica, einer doppelseitigen Weltkarte, die in Lamberts Kompilation den Geographieteil eröffnet. Dort sind die drei Erdteile durch das geradlinig gezogene Wasserbalkenkreuz des T-Kartenschemas voneinander getrennt und rigoros stilisiert. Die Ausschnitts-Karte rückt, obwohl sie Europa stark vergrößert, von der Stilisierung nicht ab, sondern verstärkt sie. Kugler entfaltete die überzeugende These, dass das Europa-Bild durch kleine, aber signifikante Veränderungen der Binnenzeichnung die Umrisse einer aufrecht stehenden rechten Hand angenommen habe. Er betrachtete die Zeichnung als ein suggestives Ideenbild, in dem ein imaginiertes Europa als kohärente christliche Einheit wahrgenommen und als Erdteil symbolisch in Gottes Hand gelegt wird bzw. Europa gar als Hand Gottes zu sehen ist, die sich gegen die nichtchristliche Welt aufrichtet. Gleichzeitig zeige sich – wie in der Diskussion vertieft wurde – eine mnemotechnische Funktion darin, dass sich die auf den Fingergliedern und der Handfläche eingetragenen Namen verschiedener Völker und Regionen an einer Hand abgreifen ließen.

In der zweiten Sektion mit dem Titel „Europa und der Islam“ analysierten die Referenten das Europabild in Karten christlicher und arabischer Provenienz unter dem Eindruck der Auseinandersetzungen der Weltreligionen. Damit rückte die Frage nach den Veränderungsstrategien infolge von Überlieferungskontext und kultureller Prägung ins Zentrum der Diskussion. Paul Harvey, Durham („Europa und das heilige Land“), erläuterte die kartographische Darstellung Palästinas, das zwar geographisch nicht mehr Europa zugerechnet werden könne, mit dem es aber als integraler Bestandteil des christlichen Selbstverständnisses untrennbar verknüpft sei. Harvey verdeutlichte das enorme Interesse am Heiligen Land anhand der insgesamt 22 erhaltenen Palästinakarten aus dem 7. bis 14. Jahrhundert, denen nur wenige Regionalkarten einzelner Länder Europas gegenüberstehen. Diese Karten stehen in engem Zusammenhang mit den ebenfalls in großer Zahl überlieferten, aber ungenügend erschlossenen textuellen Beschreibungen Palästinas. Harvey sprach sich für einen intensiven Vergleich von Bild und Text aus, der dazu beitragen könne, die Intentionen der Kartographen zu erkennen und die Kriterien für die Produktion und Verbreitung dieser Karten zu erfassen. Für die künftige Forschung forderte er eine intensivere Beschäftigung nicht nur mit den Kartenrückseiten und den von der Rasur betroffenen Legenden, sondern vor allem mit der Textgeschichte der Heilig-Land-Beschreibungen und deren Wechselwirkungen mit kartographischen Zeugnissen.

Andreas Kaplony, Zürich („Das Europabild arabischer Geographen in Text und Karte“), untersuchte eine Weltkarte im sogenannten „Kitab ghara’ib al-funun“ (Book of Curiosities), einer seit 2002 in der Bodleiana in Oxford verwahrten, auf einer ägyptischen Kosmographie des ausgehenden 11. Jahrhunderts basierenden arabischen Handschrift des 12. Jahrhunderts mit 18 Welt-, Regional-, Fluss- und Stadtkarten. Diese Ökumenekarte, die Europa als eine Insel zeigt, kann innerhalb der fünf kartographischen Traditionen der Islamischen Welt der Gruppe zugeordnet werden, die Texte aus der arabischen Geographie illustriert, Farbe und Form standardisiert verwendet und vor dem Hintergrund von Wasser, Berg und Wüste die relative Lage von Städten beschreibt. Europa wird als der „Kleine Kontinent“ bezeichnet, die Landmasse von Asien und Afrika als der „Große Kontinent“. Kaplony konnte aufzeigen, dass der Kartograph nicht nur die in den Begleittexten bereits marginalisierte antike Dreiteilung der Welt ignorierte, sondern auch die in den Texten vorherrschende Einteilung in fünf große Kulturregionen (das Römische Reich, das Islamische Reich, Indien, China und Schwarzafrika) vernachlässigte. Über einen Bild-Text-Vergleich ließe sich erkennen, dass die Vorlage mehr Informationen über Europa aufgewiesen haben muss als die erhaltene Kopie, deren Zeichner einige Regionen (wie Spanien in Europa, Tunesien in Nordafrika und den Irak in Asien) gezielt hervorhob und dadurch gleichsam Regionalkarten in die Weltkarte hineinzoomte.

Ingrid Baumgärtner, Kassel („Das Bild Europas in Weltkartenserien“), betrachtete die Veränderungen im Europabild bei der Abgrenzung gegenüber Asien, hinsichtlich der Selektionskriterien und der graphischen Umsetzung des Wissens in zwei Weltkartenserien, deren einzelne Exemplare trotz der Einbindung in einen gleichbleibenden Text und Überlieferungszusammenhang immer wieder modifiziert wurden. Die Analyse richtete sich auf die 16 im hochmittelalterlichen Spanien bzw. Südfrankreich gefertigten Weltkarten im Apokalypsenkommentar des Beatus von Liébana und auf die 21 im spätmittelalterlichen England entstandenen Weltkarten zum Polychronicon des Benediktiners Ranulf Higden. Als Ergebnis ist festzuhalten, dass die Auswahl der Karteninhalte zwar einem Grundrepertoire an Einträgen innerhalb des Kartentyps folgte, aber die Umgestaltungen und Ergänzungen in Europa häufig einem Bedürfnis nach regionaler Erfassung oder nach aktualisierender Aneignung kultureller und religiöser Grenzräume entsprangen, wobei die Visualisierungen in Form (Kreis, Oval oder Mandorla), Raumaufteilung und Ausstattung recht flexibel angepasst werden konnten. Dies bedeutet, dass in Zukunft noch viel stärker die gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen zu erforschen sind, um die inhaltlichen Aussagen von Karten zu dechiffrieren.

Die dritte Sektion thematisierte den vom Antagonismus zwischen Tradition und neu erworbenem Wissen beherrschten „Paradigmenwechsel“ bei der Umsetzung von Erfahrung in kartographische Formen. Andrew Gow, Edmonton/Kanada („Eurozentrismus und Weltbürgertum bei Fra Mauro“), untersuchte das Europabild auf der um 1459 entstandenen Weltkarte des in Venedig wirkenden Kamalduensers Fra Mauro. Anhand der Frage des Grenzverlaufs zwischen Europa und Asien analysierte Gow das Spannungsverhältnis zwischen den traditionellen Vorgaben und der Vernunft bzw. Sinneswahrnehmung: In der Karte, auf der der Schriftzug Europa zwischen Don und Wolga verzeichnet ist, bestätigen zahlreiche Legenden die traditionelle Ostgrenze Europas am Don, obwohl der Venezianer auch eine Grenzziehung an der Wolga rechtfertigt. Weitere Texte belegen die Schwierigkeit, die neuen Erkenntnisse mit den Ansichten antiker Autoritäten in Einklang zu bringen. Gow betonte die Dominanz der Mittelmeer-Perspektive. An den Rändern Europas, vor allem in Nordeuropa, seien Einwohner und Fauna märchenhaft oder abschreckend dargestellt, die Divergenzen in Klima, Kultur und Vegetation klar akzentuiert. Überspitzt könne man die These aufstellen, dass Fra Mauro und Fernand Braudel mit zeitlichem Abstand am gleichen kulturellen Strang zogen. Heutige Europa-Bilder seien deshalb differenzierter anzulegen, um die vorhandene Vielfalt zu respektieren.

Piero Falchetta, Venedig („The Use of Portulan Charts in European Navigation“), konzentrierte sich darauf, die in der herkömmlichen Forschung geschätzte Funktion von Portolankarten als ein wirksames Modell der vormodernen Repräsentation von Mittelmeerraum und Europa in Frage zu stellen. Die nautische Kartographie, die der Kursbestimmung und der Kalkulation der Schiffsroute diente, gilt wegen ihrer Präzision und Genauigkeit als ein Resultat der großen Geschicklichkeit, mit der Seeleute geographische Positionen verzeichneten. Falchetta konnte aufzeigen, dass diese Interpretation nicht den überlieferten nautischen Traktaten, z.B. von Michele da Rode, Pietro di Versi und anderen, entspricht, in denen zwar das maritime Wissen der Zeit gesammelt, aber Anwendung und Funktion der Portulane überhaupt nicht thematisiert wurden. Nur die um 1464 verfasste Schrift De navigatione von Benedetto Cotrugli, die in Abweichung von den üblichen nautischen Texten die klassisch-theoretischen Kenntnisse mit der erprobten Praxis der Schifffahrt zu vereinen sucht, erwähnt kurz den Einsatz an Bord. Entgegen ihrem Image sind nautische Traktate oft ungenau bei der Abgabe relativer Größen und absoluter Distanzen. Falchetta plädierte deshalb überzeugend dafür, das Verhältnis zwischen nautischen Texten und Portulanen neu zu überdenken und die Zuverlässigkeit der nach ungenauen geographischen Vorgaben gezeichneten Karten zu überprüfen. In diesem Zusammenhang sei vor allem die Bedeutung der Portolane für die geographische Beschreibung der europäischen Länder zu klären.

Die Konzepte und Konstruktionen eines europäischen Raumes lassen sich jedoch nicht nur auf der Basis mittelalterlicher Karten studieren. In der Sektion „Grenzerfahrungen“ untersuchten die Referenten das Europabild in Pilgerberichten und Kosmographien am Übergang vom Mittealter zur Frühen Neuzeit. Stefan Schröder, Kassel/Mainz („Grenzerfahrungen. Mittelalterliche Reisende an den Rändern Europas“), widmete sich den Grenzerfahrungen in Heilig-Land-Berichten des ausgehenden 15. Jahrhunderts. Auf dem Weg nach Jerusalem wurden die Pilger nicht nur mit diversen Formen der Grenzziehung konfrontiert, sondern sie konstituierten auch selbst Grenzen, um dem Raum eine Binnendifferenzierung zu geben und ihre Wahrnehmungen der anvisierten Leserschaft zu vermitteln. Schröder akzentuierte hier den Rekurs auf kulturelle Unterschiede und Kennzeichen (wie Sprache und Glauben), während geographische Schranken (wie Barrieren der Natur und politische Ordnungsgefüge) nicht a priori als Trennlinien aufgefasst wurden. Der Bericht des Dominikaners Felix Fabri lässt erkennen, dass die Pilger kulturelle Grenzen für dauerhaft und endgültig hielten und die Sprache ein wichtiges Unterscheidungskriterium darstellte, während Europa als kulturelle und politische Einheit kaum eine Rolle spielte. Nur vereinzelt sind verbindende Eigenschaften der Völker Europas angedeutet.

Margriet Hoogvliet, Groningen („The Wonders of Europe“), ging der Frage nach, welche Eigenschaften Europa im Vergleich zu Asien und Afrika charakterisieren. Im Blick auf die Wunder konnte sie die bisherige Forschungsmeinung widerlegen, dass sich allein der Osten durch exotische Phänomene auszeichne, während Europa auf den Weltkarten die einzige Region sei, deren Darstellung in erster Linie auf empirischen Beobachtungen und Augenzeugenberichten beruhe und die Existenz von Wundern ausschließe. Eine eingehende Untersuchung von Karten und geographischen Texten des späten 12. bis 16. Jahrhunderts enthüllte die große Bedeutung von Wundern in Europa und deren weitere Zunahme im 16. Jahrhundert, so dass sich das Phänomen nicht für eine Abgrenzung, sondern in Zukunft eher zur Erfassung einer Identität Europas eignet.

Die fünfte Sektion “Grenzziehungen” konzentrierte sich auf das kartographische Material. Evelyn Edson, Charlottesville/USA („Ubi Dacia, et Gothia. Die nordöstliche Grenze Europas im Mittelalter“), beschäftigte sich mit der im Titel genannten Phrase, die auf frühen Karten zumeist westlich des Don, der traditionellen Grenze zwischen Europa und Asien, vermerkt ist. Edson suchte zu eruieren, wofür diese Worte standen und welche Funktion sie bei der Abgrenzung der beiden Kontinente hatten. „Dacia“, eine Provinz des Römischen Reiches, wurde im dritten Jahrhundert von den Goten erobert und deshalb „Gothia“ genannt. Der Satz selbst geht auf die im fünften Jahrhundert verfasste Weltgeschichte des Orosius zurück. Obwohl die Hunnen die Goten verdrängt hatten, wurde der Satz auf späteren Karten und in geographischen Texten weiterhin verwendet. Edson erklärt dies mit der mittelalterlichen Abhängigkeit von autoritativen antiken Vorgaben und mit dem geringen Wissen über die dünnbesiedelten nordöstlichen Grenzregionen. Später sei die Bezeichnung auf andere Gebiete übertragen und an aktuelle geographische Bedürfnisse angepasst worden: „Dacia“ wurde zu Dänemark, „Gothia“ zu Gotland bzw. Schweden, während am Oberlauf des Don vom 13. Jahrhundert an der Aufstieg Russlands verzeichnet ist.

Anna-Dorothee von den Brincken, Köln („Europa um 1320 auf zwei Weltkarten süditalienischer Provenienz“), verglich in ihrem Vortrag die in der „Chronologia Magna“ des Venezianers Paulinus Minorita enthaltene, vor 1324 am neapolitanischen Hof gefertigte Weltkarte mit der legendenlosen, heute in der Bodleiana in Oxford verwahrten Douce-Karte, die um 1310/20 in Süditalien entstanden sein dürfte. Beide Karten reproduzieren ein Bild Europas zu Beginn des 14. Jahrhunderts. Die in orientalischer Tradition gesüdete Douce-Karte ist in einem Kodex zusammen mit dem Livres dou Trésor des Florentiner Notars Brunetto Latini überliefert, aber durch vor- und nachstehende Leerseiten inhaltlich isoliert. Sie beschäftigt die Forschung schon seit dem 19. Jahrhundert, da ihr Kenntnisstand zu Europa außerhalb des mediterranen Raumes sowie Asien und Afrika alle anderen abendländischen und orientalischen Weltkarten der Zeit überragt. Diese Indizien legen die Vermutung nahe, dass es sich um die Kopie einer arabisch beschrifteten Vorlage handle und die Legendenlosigkeit nicht Absicht, sondern ein Manko sei. Der abendländische Kartenzeichner dürfte auf eine Beschriftung gestoßen sein, deren er nicht kundig war und auf die er daher verzichtete.

Patrizia Licini, Rom („European and Ottoman Landmarks from a Portolan Chart at the Time of Silvio Enea Piccolomini“) stellte ein ungewöhnliches Portulanfragment aus der Biblioteca Planettiana in Iesi bei Ancona vor. Die aus der Mitte des 15. Jahrhunderts stammende Karte vereint das Modell einer Navigationskarte mit dem repräsentativen Konzept einer Regionalkarte: Die untere, südliche Hälfte, die von einem Gitternetz überzogenen ist, zeigt das Mittelmeer und das Schwarze Meer, die obere nördliche Hälfte mit dem östlichen Europa und einem Teil des Kaukasus enthält kartographische Signaturen wie in Regionalkarten, die zeitgenössische Entwicklungen aufgreifen. Die Städte des Deutschen Reiches, der christlichen Königreiche Böhmen und Ungarn wie der russischen Großfürstentümer werden durch eine mit zwei Türmen verbundene Mauer abgebildet; deren Spitzen einen Speer oder ein christliches Kreuz zeigen. Der Halbmond ziert hingegen alle Stadtsignaturen mit Turm im islamischen Raum, um das Osmanische Reich und seine Expansionsbestrebungen zu umreißen. Einige deutsche Städte wie Paderborn, Grabau, Dessau und Zeitz sind mit zerstörten Mauern abgebildet, Kiev gar mit zwei zusammengestürzten Türmen. Auf dieser Grundlage entwickelte Licini die überzeugende These, die Karte stehe in einem unmittelbaren Zusammenhang mit den Bemühungen von Aeneas Silvius Piccolomini (Papst Pius II.) um die Abwehr der Türkengefahr und mit dessen Vorbereitungen zum 1464 propagierten Kreuzzug.

In der Sektion “Aktualität und Identität” musste der angekündigte Vortrag von Scott Westrem, New York („Zeichen der Zeit“), leider wegen Krankheit entfallen. Martina Stercken, Zürich („Regionale Identität im spätmittelalterlichen Europa. Kartographien der Eidgenossenschaft“), untersuchte am Beispiel der beiden frühesten Beschreibungen der Eidgenossenschaft von Konrad Türst und Albrecht von Bonstetten, auf welche Weise im ausgehenden Mittelalter regionale Identität hergestellt wurde und welche Bedeutung dabei dem Kontext Europa zukam. Mit diesen von Gelehrten konzipierten, jeweils aus Text und kartographischen Darstellungen bestehenden Descriptiones des 15. Jahrhunderts werden Versuchsanordnungen einer kulturellen und politischen Umbruchszeit fassbar, die mit überkommenen mittelalterlichen wie auch mit modernen Mitteln operieren, um einem heterogen angelegten politischen System im Südwesten des Reichs eine gemeinsame Geschichte, räumliche Kontur und Eigenart zu verleihen. Stercken konnte anschaulich aufzeigen, dass in beiden, primär an europäische Machthaber gerichteten Landesbeschreibungen Europa einen politisch diffusen Raum repräsentiert, in den die Konzeptionen der eigenen Herkunft ohne aktuelle Reibungen platziert werden konnten. Es wurden die Vorstellungen von Europa in der mittelalterlichen bzw. frühhumanistischen Rezeption antiker Geographie übernommen und in der konkreten Situation auf das reduziert, was im eigenen Blickwinkel lag, nämlich auf die unmittelbaren Nachbargebiete.

Abschließend stellte Guenther Goerz, Erlangen-Nürnberg („Kognitive Karten“), ein interdisziplinäres Forschungsprojekt zur digitalen Erschließung mittelalterlicher Weltkarten vor, das in Zusammenarbeit mit der germanistischen Mediävistik und dem Graduiertenkolleg 516 „Kulturtransfer im europäischen Mittelalter“ durchgeführt wird. Basis ist eine Bestandserfassung repräsentativer Weltkarten (z.Z. ca. 300) über eine multimediale Datenbank aus hochaufgelösten digitalen Bildern, die durch Metadaten erschlossen werden. Ziel ist es, das Veränderungspotential der Text-Bild-Kombinationen kognitiver Karten zu erschließen. Ein systematisch vergleichender Stellenkatalog liefert die Grundlage für die Ausarbeitung der dargestellten kognitiven Beziehungen und deren Wandel; er umfasst alle Positionen, die auf den Weltkarten des 13. bis 16. Jahrhunderts mit Bildern und/oder Legenden verzeichnet sind. Als begriffliche Grundlage wird eine formale Ontologie in OWL-DL entwickelt, die eine zunächst für den Behaim-Globus erstellte Konzepthierarchie erweitert und in das CIDOC Conceptual Reference Model einbettet. Die beschreibungslogische Formalisierung erlaubt komplexe Anfragen, die weit über die Möglichkeiten herkömmlicher Datenbanken hinausgehen. Letztlich ist auch zu ermitteln, inwiefern ein solches digitales Quellenangebot neue Forschungsfragen induzieren kann, welche Mittel zu ihrer Beantwortung verfügbar und wünschenswert sind und wie eine Vernetzung mit gleichartig erschlossenen Quellen hergestellt werden kann.

Die Schlussdiskussion resümierte nicht nur die wichtigsten Ergebnisse der Konferenz, die aus den Mitteln des DFG-Graduiertenkollegs ‚Kulturtransfer im europäischen Mittelalter’ der Universität Erlangen-Nürnberg finanziert wurde, sondern stellte auch Weichen für die Zukunft. Nach Meinung zahlreicher Teilnehmer erwies sich das Tagungsthema als außerordentlich tragfähig für eine weitere interdisziplinäre Zusammenarbeit. Der allgemeine Dank galt auch dem Germanischen Nationalmuseum, dessen Mitarbeiter Johannes Willers eine wissenschaftliche Führung zur Besichtigung des Behaim-Globus präsentiert hatte. Über den Tagungsband hinaus, in dem die Beiträge bereits 2007 (voraussichtlich beim Akademie Verlag) veröffentlicht werden sollen, sind deshalb inhaltliche und institutionelle Vernetzungen und Kooperationen geplant und für einige Teilprojekte bereits konkret vereinbart worden.

Kontakt

Prof. Dr. Ingrid Baumgärtner
FB 05: Gesellschaftswissenschaften
Universität Kassel
Nora-Platiel-Straße 1
34109 Kassel
ibaum@uni-kassel.de


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