Determinanten und Muster des Heiratsverhaltens

Determinanten und Muster des Heiratsverhaltens

Organisatoren
Arbeitskreis "Historische Demographie", Frankfurt / Oder
Ort
Frankfurt an der Oder
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.11.2002 - 02.11.2002
Url der Konferenzwebsite
Von
Rolf Gehrmann, Europa-Universität Viadrina, Frankfurt Oder

Der Arbeitskreis für Historische Demographie ist ein locker mit der Deutschen Gesellschaft für Demographie verbundener Zusammenschluss von Historikern, Demographen und anderen an der Historischen Bevölkerungsforschung interessierten Wissenschaftlern, die sich einmal jährlich zu einer Konferenz zusammenfinden. Der Teilnehmerkreis ist dabei variabel und richtet sich nach den zu behandelnden Themen. Mit 24 Teilnehmern war die Veranstaltung auch in diesem Jahr wieder gut besucht. Der europäischen Ausrichtung des Tagungsortes entsprechend konnten diesmal neben deutschen und österreichischen auch polnische Referenten und Gäste begrüßt werden. Die Tagung stand unter dem Thema "Determinanten und Muster des Heiratsverhaltens".

Die übergreifenden Fragestellungen der Tagung wurden in einem einleitenden Vortrag umrissen (PD Dr. R. Gehrmann). In diesem wurde betont, dass das Heiratsverhalten im Schnittpunkt sowohl demographischer als auch sozial- und kulturgeschichtlicher Fragestellungen steht, also in besonderer Weise den Brückenschlag zwischen Ansätzen erlaubt, deren Dialog sich ansonsten immer noch schwierig gestaltet. Die historische Demographie könne zu dieser Kooperation nach wie vor einen wichtigen Beitrag leisten. Aus den von bevölkerungsgeschichtlicher Seite gestellten Fragen wurden zwei Komplexe als für die Tagung besonders interessant herausgestellt, nämlich zum einen die aus der Beobachtungen Hajnals und zum anderen die aus der Theorie Mackenroths resultierenden Probleme. Während es bei ersterem um ein genaueres Verständnis der genauen geographischen Bezüge und funktionalen Zusammenhänge gehe, ginge es bei letzterem vor allem um die Frage der Verifizierung und Falsifizierung, das heißt um den Nachweis der realen Existenz der behaupteten Lebensweise, wobei die Antwort möglicherweise regional unterschiedlich ausfallen könne. Mit dem Verweis auf Hajnal wurde die Dimension der Ost-West-Unterschiede in Europa als ein Schwerpunkt der Tagung abgesteckt, mit dem Verweis auf Mackenroth das Problem des Stellenprinzips als eines über das Heiratsverhalten regulierend in die Bevölkerungsreproduktion eingreifenden Mechanismus, der auf der Übergabe von Ressourcen von der Eltern- auf die Kindergeneration basiert und damit auf der Zuteilung von Heiratschancen.

Prof. Zbigniew Kwasny vom Historischen Institut der Universität Wroclaw und unter anderem Herausgeber der Slaskie studia demograficzne stellte anschließend die wesentlichen Merkmale des Heiratsverhaltens in der ländlichen Bevölkerung Schlesiens vor, wie sie sich aus lokalen Daten (Pfarrmatrikel und daraus abgeleitete Familienrekonstitutionen) sowie Volkszählungen ergeben. In vielen Punkten bestätigt sich demnach das bekannte (west-) europäische Muster mit einem hohen Anteil an Erst-Ehen, einer bei Bauern höheren Kinderzahl als bei Einliegern und der Dominanz von Kernfamilien (hier: ca. ¾ Zwei-Generationen-Haushalte). Hervorzuheben sind besonders die Erhöhung der Mobilität nach der Bauernbefreiung sowie die konfessionellen Unterschiede im Heiratsalter. Letztere überlagerten sich mit den Anteilen an deutscher und polnischer Bevölkerung, so dass sich unter dem Strich ein niedrigeres Heiratsalter bei den Katholiken als bei den Protestanten ergab.

Dr. Margareth Lanzinger vom Institut für Geschichte der Universität Wien gab einen Einblick in die Ergebnisse ihrer umfangreichen Untersuchung über den Marktort Innichen in Südtirol 1750-1850. Dieser zunächst zu Freising und dann zu Lienz gehörende Ort war handwerklich-gewerblich orientiert, die ihn beherrschende Schicht verfolgte eine Politik der Verhinderung von Bevölkerungszunahme und Häuser- bzw. Küchenneubau. Als Mittel dazu dienten Zuzugsbeschränkungen über das Bürgerrecht und der politische Ehekonsens, der im 19. Jahrhundert in Teilen Tirols zur Fortschreibung der bestehenden sozio-ökonomischen Strukturen eingesetzt wurde. Im Ergebnis standen eine Erhöhung des Erst-Heiratsalters über 30 Jahre, eine Ledigenquote von ca. 50 % und die faktische Unmöglichkeit der Einheirat für von auswärts stammende Männer. Das war nicht lediglich eine Auswirkung der Alpenökologie, sondern auch Ausdruck einer verfestigten Werthaltung. Im Gegensatz zur Annahme Mackenroths waren aber sehr wohl auch Heiraten von weichenden Erben möglich.

Dr. Rita Müller vom Sächsischen Industriemuseum in Chemnitz referierte über das Heiratsverhalten im württembergischen Feuerbach, das sich im 19. Jahrhundert von einem Weinbauerndorf zu einem Industrieort entwickelte. Sie gelangte dabei zu einer Bewertung der wichtigsten Einflussfaktoren, die für das Zustandekommen der Ehe und das Heiratsalter ausschlaggebend waren. Im Zusammenhang mit den eingangs erwähnten Fragestellungen besonders interessant war dabei die Kontrolle der Gemeinde, die nach württembergischen Recht 1852-1865 sogar für Ortsansässige einen Vermögens-nachweis zu fordern hatte. Im Oberamt Stuttgart führte das dazu, dass eins von sechzehn Ehegesuchen in diesem Zeitraum abgelehnt wurde. Allerdings wirkten sich Faktoren wie die Agrarkrise sehr viel stärker auf das Heiratsalter aus, das bereits in der liberalen Phase des ersten Viertels des 19. Jahrhunderts anstieg. Bemerkenswert war in dessen weiterem Verlauf auch die entgegengesetzte Bewegung bei den Arbeitern (Sinken) und in der Oberschicht (Ansteigen).

Dr. Markus Küpker von der Universität Münster demonstrierte anhand des Untersuchungsgebiets Tecklenburg zwischen der Mitte des 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts die Möglichkeit, mit Hilfe statistischer Methoden die Gültigkeit von Aussagen der Protoindustrialisierungstheorie zum Heiratsverhalten zu überprüfen. Als Grundlage dienten dafür Kirchenbuchauszählungen, Preiszeitreihen und Güterverzeichnisse. Aufgrund der trendbereinigten Regressionen zwischen Roggenpreisen und Hei-ratsverhalten sowie Sterblichkeit und Heiratsverhalten ergab sich, dass letzteres in den Leineweberbezirken noch unerwartet stark von der Agrarkonjunktur abhing, während die Sterblichkeit sogar einen negativen Einfluss ausübte. Damit ist für Tecklenburg zugleich die Gültigkeit des Stellenprinzips in Frage gestellt.

Prof. Cezary Kuklo und MA Malgorzata Kamecka vom Historischen Institut der Universität Bialystok gaben einen Überblick über die Ergebnisse historisch-demographischer Forschungen in Polen zum Heiratsverhalten anhand von Untersuchungen zu vier Dörfern und vier Städten, darunter Gdansk und Warschau. Neben der Bedeutung des Verheiratetenstatus für die durch Gilden und Zünfte organisierte Stadtbevölkerung und dem Phänomenen der Einwanderung und der konfessionellen Mischehen in Warschau trat dabei als bemerkenswertestes Einzelfaktum das zum Teil sehr niedrige Heiratsalter der Frauen in der polnischen Hauptstadt hervor, wo die Hälfte der Bräute nicht älter als 20 Jahre war. Insgesamt lässt sich in Polen ein von West nach Ost abnehmendes Heiratsalter feststellen.

HD Dr. Georg Fertig von der Universität Münster präsentierte seinen Beitrag zum demnächst erscheinenden Sammelband "Die sozialen und kulturellen Bedeutungen der Eheschließung" (Hg. Duhamel-le/Hudson/Schlumbohm, Göttingen 2002). Er setzt sich anhand von nominativen Daten zu drei verschieden strukturierten westfälischen Kirchspielen (Dominanz von Garnspinnern, Wanderhändlern und Ackerbauern) mit dem Stellenprinzip auseinander. Das eingesetzte Methodenspektrum reichte von traditionellen aggregativ-statistischen Verfahren (Heiratsalter/Ledigenquote) über inverse Projektionen hin zu neueren Verfahren der Verlaufsdatenanalyse individueller Lebensläufe - eine Alternative zu der in der deutschen Forschung häufig anzutreffenden Gleichsetzung von Mikroanalysen mit narrativen Verfahren (versus Quantifizierung gleich summarische Statistik). Auf der aggregativen Ebene konnte die Mackenrothsche Steuerungsfunktion der Heirat nicht bestätigt werden: Ehe war kein Privileg für die Stellenbesitzer. Die meisten Heiraten fanden unabhängig von einem Gütertransfer statt, nur in we-niger als einem Fünftel der Fälle kam es zur klassischen Abfolge Transfer - Heirat - Zeugung. Auf der Ebene individueller Lebensläufe dagegen zeigt sich, dass durchaus zeitliche Zusammenhänge zwischen Heirat, Schwangerschaft und Hofübergabe bestanden (z. B. wurden Hofübertragungen durch bestehende Schwangerschaften wahrscheinlicher), auch wenn das alte Modell eines Ausschlusses der Nichterben von der Reproduktion zurückzuweisen ist.

Dr. Karin Gröwer (Hamburg) analysierte die Politik der Hansestädte Bremen, Hamburg und Lübeck gegenüber den "wilden Ehen" im Jahrhundert vor der Reichsgründung. Ihrer Schätzung zufolge lebten beispielsweise in Hamburg zu Beginn der 1830er Jahre 1/10 der Paare ohne Trauschein zusammen. Diesem Unterschichtenphänomen - das zur Heirat notwendige Bürgerrecht kostete die Hälfte bis zwei Drittel des Jahreseinkommens - standen die Behörden zunächst gleichgültig gegenüber. Erst finanzielle Aspekte (Sorge um die Zunahme der Armenunterstützung in Hamburg) und sicherheitspolitische Gründe (in Bremen) führten zu einer Bekämpfung dieses "öffentlichen Ärgernisses", allerdings ohne deshalb zu einer Verfolgung von Amts wegen überzugehen. Vielmehr wurden nun beispielweise in Hamburg 1833 Hunderte von Paaren kostenfrei getraut, Pragmatik überwog also gegenüber dem Disziplinierungsprinzip. Nichteheliche Lebensgemeinschaften stellten insgesamt für die Männer eine bessere, für Frauen eine schlechtere Alternative zur Ehe dar, in beiden Fällen aber ein gegenüber dem Singledasein aus rein materiellen Gründen schon bevorzugter Zustand.

Claus Bernet von der Freien Universität Berlin schilderte am Beispiel des Dietrich Reckefuß und seiner Frau den Extremfall des Möglichen im Bereich des Eheverständnisses im gegebenen historischen Kontext. Das Paar lebte zunächst in wilder Ehe und dann, nach einer ohne die Amtskirche vollzogenen Trauung, in einer geistigen Lebensgemeinschaft, die sich nach dem Ideal einer keuschen Ehe richtete. Davon war es auch durch staatliches Eingreifen nicht abzubringen, für seine Überzeugung ging Reckefuß sogar ins Gefängnis. Das deviante Verhalten der Reckefuß fand schließlich mit der im fortgeschrittenen Alter noch eingegangenen Lebensgemeinschaft mit einem anderen Paar seinen Höhepunkt und Abschluss.

Soweit ihre Publikation nicht an anderer Stelle vorgesehen ist, werden die Beiträge der Tagung in einem Heft der Historical Social Research 2003 erscheinen. Die nächste Herbsttagung des Arbeitskreises (31.10./1.11.2003 in Berlin) wird dem Thema "Geschwisterbeziehungen" gewidmet sein (Organisator: Georg Fertig).

Kontakt

PD Dr. Rolf Gehrmann
gehrmann@berlin.sireco.net


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Deutsch
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