Konfessionelle Denkmuster und Argumentationsstrategien

Konfessionelle Denkmuster und Argumentationsstrategien

Organisatoren
Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte
Ort
Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.07.2006 - 22.07.2006
Von
Thomas Henne, Universität Frankfurt/M.

„Ein neuer Blick auf einen alten Stoff“, resümierte DieterGrimm (Berlin) am Ende der Tagung. Säkularisation und Re-Konfessionalisierung liefern gegenläufige und sich zugleich ergänzende Stichworte, die in aktuellen Kopftuch- und Kruzifixdebatten nochmals auftauchen. Für Recht und Rechtswissenschaft gilt dabei weithin, daß in der Forschung zum 19. und 20. Jahrhundert Säkularisierung und Säkularisation im Vordergrund stehen und konfessionelle Denkmuster und Argumentationsstrategien – anders als in der insoweit viel untersuchten Frühen Neuzeit – bislang wenig beachtet wurden. Konfessionsgebundene Praktiken und Institutionen wurden im 19. und 20. Jahrhundert durch Recht ermöglicht, begrenzt, gesteuert – aber umgekehrt? „Man schaute bislang beim Recht dieser Zeit kaum nach einer konfessionsgebundenen Semantik“, so MichaelStolleis (Frankfurt/M.), dem diese Tagung zu seinem 65. Geburtstag gewidmet war.

Nun aber traten vor allem protestantische Denkmuster und Argumentationsstrategien in den Vordergrund. VolkhardKrech (Bochum) lieferte den religionssoziologischen Ausgangspunkt: Das „protestantische Textdeutungsparadigma“ ist für den Umgang mit juristischen Texten unmittelbar anschlussfähig. Hinzu kommt, so Krech: Der „Persönlichkeitszentrismus ist protestantisch (und jüdisch) geprägt“, und da Recht mit vielfältigen Zurechnungen von Handlungen an Personen arbeitet, stehe auch insoweit der Protestantismus in unmittelbarerer Nähe zum Recht, weil der Katholizismus eher die kollektive Funktion von Religion betone. Da der Kampf für eine anti-etatistisch verstandene Privatautonomie das 19. Jahrhundert und auch das an seinem Ende entstandene, bis heute geltende „Bürgerliche Gesetzbuch“ (BGB) prägte, war damit für einen Kernbegriff der juristischen Dogmatik das konfessionelle Denkmuster benannt. FriedrichWilhelmGraf (München) griff den Gedanken auf: Im Protestantismus beruhe die persönliche Autonomie auf dem Prinzip der unmittelbaren Gnade, auf der prinzipiellen Unmittelbarkeit des Einzelnen zu Gott. Dies ließ sich für die überwiegend protestantischen Juristen des 19. Jahrhunderts auf den Kampf für die Privatautonomie übertragen. Auch die in der protestantischen Ethik betonte Verbindlichkeit überindividueller Institutionen wie Ehe, Familie und Staat war, wie Graf betonte, für das juristische Denken des 19. (und 20. Jahrhunderts) unmittelbar anschlussfähig. Das gleiche galt für die Entsubstantialisierung des Kirchenbegriffs und die damit verbundene Betonung des Gewissens des Einzelnen, juristisch gelesen: Wenn schon die (protestantische) Kirche nicht mehr den Zugriff auf das Gewissen des Einzelnen hatte, dann erst recht nicht der Staat. Der Schutz einer individuell verstandenen Glaubens- und Gewissensfreiheit war damit zu einer fundamentalen (und folgenreichen) Forderung geworden.

Die These vom „Zweiten konfessionellen Zeitalter“

Doch warum erlangte all dies ab dem 19. Jahrhundert eine besondere Bedeutung? OlafBlaschke (Trier) präsentierte dafür seine umstrittene These vom „Zweiten Konfessionellen Zeitalter“, die er als Parabel zeichnete1: Einer Zunahme der Konfessionalisierung bis zum frühen 20. Jahrhunderts folgte der langsame Abstieg bis hin zu den 1960er Jahren, dem weitgehenden Ende des „Kalten Krieges“ der Konfessionen. Blaschke verwies aber darauf, daß die von ihm angestoßenen Forschungen zur Konfessionalisierung seit dem frühen 19. Jahrhundert das Subsystem „Recht“ bislang wenig berührt hätten. Einen der vielfältigen Kritikpunkte an diesen Thesen führte ChristophStrohm (Bochum) in die Tagung ein: Die umfassenden und scharfen inner-protestantischen Auseinandersetzungen würden bei Blaschkes globaler These zu wenig berücksichtigt. Damit konnte man zu konkreten Beispielen kommen – wo waren sie also nun, jene von den Tagungsveranstaltern gesuchten konfessionellen Denkmuster und Argumentationsstrategien in der Rechtswissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts?

Konfessionelle Denkmuster in der Zivilrechtslehre des 19. Jahrhunderts

Gleich bei dem Übervater der deutschen Rechtswissenschaft, Friedrich Carl v. Savigny, wurde JoachimRückert (Frankfurt) fündig. In seiner Habilitationsschrift zum „Objektiven Idealismus“ hatte Rückert noch einen bei seiner Wissenschaft ganz säkularen Savigny gezeichnet, ergänzte dieses Bild nun aber um nicht weniger als „eine weitere Säule von Savignys Denken“, dessen religiös-normative Äußerungen mit Savignys „Grundbegriffswelt“ eng verbunden gewesen seien. Zu dem Eintreten des reformierten, pietistisch eingestellten Savigny für eine innerlich gefühlte, „unmittelbare Kirche“ passe der von Savigny als Rechtserzeugungsinstanz eingeführte „Volksgeist“. Und da für Savigny in der Religion das „Innen“ vor dem „Außen“ stand, gehe damit auf der Ebene des Rechts der Vorrang des „inneren“ Volksrechts vor dem „äußeren“, staatlich gesetztem Recht einher. Die „Gemeinschaft des Rechts“ und die „Gemeinschaft des Glaubens“ liefen für Savigny parallel.

Mit dieser durch die Erweckungsbewegung geprägten Emphase stand Savigny in der von ihm angeführten „historischen Rechtsschule“ alles andere als allein, wie Hans-PeterHaferkamp (Köln) in einem profunden Überblick zeigte. Es wimmelte in dieser für das 19. Jahrhundert maßgebenden Rechtsschule von intensiven Kontakten zur Allgäuer und zur Fränkischen Erweckungsbewegung, man begann den juristischen Arbeitsalltag mit Bibellektüren und fand sich dann in dem zusammen, was Haferkamp als nicht nur, wie bislang, „historische Rechtsschule“, sondern eben als „historisch-christliche Rechtsschule“ beschrieb. Doch passte dies zu Blaschkes These? Ging es bei Savigny nicht weniger um Re-Konfessionalisierung als um eine konfessionsübergreifende Volksreligiosität, und spricht nicht gegen Blaschkes Parabel, daß mit Savignys „historisch-christlicher Rechtsschule“ nur eine der damaligen Strömungen beschrieben worden war? Bei Thibaut, dem Heidelberger Antipoden Savignys, blieb das Recht wohl wesentlich autonomer gegenüber dem Christentum, genauso wie bei dem später einflussreichen Mittermaier – und erst recht der wissenschaftliche Positivismus des späten 19. Jahrhunderts forderte diese Autonomie des Rechts auch gegenüber christlichen Argumentationsmustern ein.

Konfessionelle Denkmuster im Völkerrecht und im Staatsrecht

Andererseits: „Modern International Law was born out of Protestantism“, wie MarttiKoskenniemi (Helsinki) erklärte. Dazu passend zeigte MerioScattola (Padua) die „Geburt des katholischen Natur- und Völkerrechts aus dem Geist des Protestantismus im 19. Jahrhundert“: Auf die Wahrnehmung, daß das Naturrecht im 18. Jahrhundert protestantisch dominiert war, reagierten damalige katholische Juristen mit der Kombination „protestantischer“ Methodik mit katholischen Inhalten.

StefanKorioth (München) wurde bei einem weiteren Übervater fündig: Rudolf Smend, in den 1950er Jahren wirkmächtiger Stichwortgeber des Bundesverfassungsgerichts. Korioth zeigte die vielfältigen Parallelen zwischen Smends konservativ gewendetem Luthertum und seinem Antipositivismus der Weimarer Zeit, der über eine Neurezeption von Smends Integrationslehre auch die materiale Wertordnungslehre des Bundesverfassungsgerichts in den 1950er Jahren prägte. Zudem war hier, kulminiert in dem legendären „Lüth-Urteil“ des Bundesverfassungsgerichts von 1958, noch ein konfessionelles Argumentationsmuster prägend, nämlich die Abwehr der vom Bundesgerichtshof befürworteten neu-thomistischen, katholisch inspirierten Naturrechtsrenaissance. Daß Smend, wie Korioth betonte, die in jüngerer Zeit von Ernst-Wolfgang Böckenförde neu belebte Diskussion um außer-rechtliche Voraussetzungen des Staates ebenfalls geführt hat, passt in dieses Bild. Korioth lenkte den Blick zudem auf eine, wie er es nannte, „gewisse Re-Konfessionalisierung der Staatsrechtslehre in den letzten 15 Jahren“ und gab einschlägige Zitate zum Beispiel der Verfassungsrichter Paul Kirchhof und Udo Di Fabio. LuiseSchorn-Schütte (Frankfurt/M.) führte die Zuhörerinnen und Zuhörer anschließend mehrere Jahrhunderte zurück und diskutierte „Luthertum und Widerstandsdebatte – ein Gegensatz ?“, was allerdings über den im Tagungsthema vorgegebenen zeitlichen Rahmen (19./20. Jahrhundert) erheblich hinausging.

Konfessionelle Denkmuster im Familienrecht

Erwartungsgemäß war die Suche nach konfessionellen (und nicht nur religiösen) Denkmustern und Argumentationsstrategien auch im Hinblick auf das Familienrecht ergiebig, wie PeterDerleder (Bremen) und ¬DieterSchwab (Regensburg) zeigten. Die Kämpfe für und wider die Zivilehe im 19. Jahrhundert und auch die erbitterten familienrechtlichen Debatten der 1950er Jahre lieferten das Material, wobei bei dem letzteren Thema insbesondere die religiöse Aufladung des Letztentscheidungsrechts des Ehemannes bei inner-familiären Streitigkeiten ein konfessionsgebundenes Argumentationsmuster war, weil hier vorrangig die katholische Seite aktiv war. Allerdings stellte, so Schwab, das Gleichberechtigungsgesetz von 1957, das das Familienrecht umfassend modernisierte, das wohl letzte größere Gesetz mit einem umfassenden konfessionellen oder religiösen Anspruch dar. Heute hingegen sei, wie die beiden langjährig erfahrenen Familienrechtler resümierten, der Wahrheits- und Absolutheitsanspruch kirchlicher Stellungnahmen zu Familienrechtsreformen wesentlich zurückgegangen; Blaschkes erwähnte Beobachtung vom Tiefpunkt der Re-Konfessionalisierungsparabel seit den 1960er Jahren war insoweit gestützt.

Fazit

Die Tagung profitierte vom gegenwärtig neuen Blick auf Religionen und ihre Bindungskraft und konnte, konzentriert auf christliche Konfessionen, für das Subsystem Recht und bezogen auf das insoweit noch wenig beleuchtete 19. und 20. Jahrhundert etliche neue Erkenntnisse zusammentragen und die grundsätzliche Ergiebigkeit des gewählten Ansatzes zeigen. Allerdings wird, worauf DieterGrimm (Berlin) in seinem Resümee hinwies, noch zu präzisieren sein, welche Verwandlungsprozesse konfessionelle Argumentationen erfahren, wenn sie, aus der theologischen Sphäre kommend, auf die (Teil-) Autonomie des Rechts treffen. Auch die funktionale Differenzierung zwischen Konfession und Religion ließe sich noch präzisieren. Angesichts der vielen wichtigen deutschen Juristen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts mit einem jüdischen Hintergrund ist zudem überlegenswert, ob der Ansatz der Tagung auch insoweit ergiebig ist. Und es gibt noch etliche, möglicherweise nur auf den ersten Blick konfessionsfernere Rechtsgebiete, die bei der Tagung nicht behandelt wurden, ganz abgesehen von möglicherweise konfessionsgefärbten Justizentscheidungen.

Auch im Hinblick auf das von Blaschke ausgerufene Zweite Konfessionelle Zeitalter war die von der ZEIT-Stiftung ermöglichte Tagung ergiebig – jedenfalls für Recht und Rechtswissenschaft war keine Parabel ersichtlich, sondern es geht wohl vorrangig um zwei Phasen einer verstärkten Bedeutung konfessioneller Denkmuster im frühen 19. Jahrhundert und in den 1950er Jahren. Die Veranstalter der Tagung (PascaleCancik, ThomasHenne, StefanRuppert, ThomasSimon, MilošVec) planen eine Veröffentlichung der Beiträge.

1 Dazu CarstenKretschmann / HenningPahl, Ein „Zweites Konfessionelles Zeitalter“? Vom Nutzen und Nachteil einer neuen Epochensignatur, Historische Zeitschrift Bd. 276 (2003), S. 369-392.

Kontakt

ThomasHenne, Frankfurt/Main
mail-Adresse: rechtsgeschichte@gmx.de

http://www.mpier.uni-frankfurt.de/pdf/veranstaltungen/tagungsprogramm_stolleis_2006.pdf
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