Wertegrenzen und Grenzwerte – Traditionen und Perspektiven kulturwissenschaftlicher Werteforschung. 4. Tagung der International Max Planck Research School „Werte und Wertewandel in Mittelalter und Neuzeit“

Wertegrenzen und Grenzwerte – Traditionen und Perspektiven kulturwissenschaftlicher Werteforschung. 4. Tagung der International Max Planck Research School „Werte und Wertewandel in Mittelalter und Neuzeit“

Organisatoren
International Max Planck Research School „Werte und Wertewandel in Mittelalter und Neuzeit“, Göttingen
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.07.2006 - 07.07.2006
Url der Konferenzwebsite
Von
Franz Leander Fillafer, Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften/IFK, Wien, Max-Planck-Institut für Geschichte, Göttingen

Wertegrenzen und Grenzwerte – Traditionen und Perspektiven kulturwissenschaftlicher Werteforschung. 4. Tagung der International Max Planck Research School „Werte und Wertewandel in Mittelalter und Neuzeit“

5. bis 7. Juli 2006, Max-Planck-Institut für Geschichte, Göttingen

Franz Leander Fillafer, Internationales Forschungszentrum Kulturwissenschaften/IFK, Wien, Max-Planck-Institut für Geschichte, Göttingen
franzfillafer@gmail.com

In Zeiten, in denen Deutschland eine Methusalemdiät als Magermilchsüppchen serviert wird, und demographische Basteltanten über Sollbruchstellen der Bevölkerungsentwicklung räsonieren, stehen Werte hoch im Kurs: Die Debatte kreist um Kindersegen, sozialverträgliches Frühableben, Familientauglichkeit und Nachwuchsziffern.
Dabei wird auf die Kinderzahl von Zuwandererfamilien verwiesen, mit Vorliebe von jenen, die das Auseinanderdriften Europas in Parallelgesellschaften konstatieren. Es ist bemerkenswert, dass diese Advokaten der Einigelung und Wagenburgmentalität Europas, die wortreich auf die Integrationsunwilligkeit der Einwanderer hinweisen, mit uneingestandenem Wohlwollen auf die Familienstrukturen der islamischen Welt schielen. So entsteht eine pikante und folgenschwere Konstellation, in der Rechte am Islam das gutheißen, was Linke gemäß ihrer emanzipativen Leitlinien ablehnen müssen: Eine antiquierte Form des Patriarchats. Beide affirmieren somit die vermeintlich erwiesene Rückständigkeit eines vermeintlich kohärenten „Kulturkreises“.

Dass die Kontextgebundenheit, Prinzipieninkonsistenz und Wandelbarkeit von „Werten“ in diesen Debatten sträflich vernachlässigt wird, ist eine Binsenweisheit. Sich dieser Faktoren anzunehmen, und auch für die interkulturellen Stellvertreterkriege um Werte zu sensibilisieren, hat sich eine Tagung am Göttinger Max-Planck-Institut für Geschichte vorgenommen: Dankenswerterweise wurden im Rahmen dieser Konferenz neben ausgewiesenen Experten Forscher unterschiedlicher disziplinärer Provenienz zusammengeführt. Dass die Organisation und Gestaltung der Leitlinien in den Händen des Doktorandenkollegs der „International Max Planck Research School“ 1, die sich dem Studium von „Werten und Wertewandel in Mittelalter und Neuzeit“ verschrieben hat, lag, prägte der Tagung die Signatur der Kohärenz und durchdachten Strukturierung auf.

Als Eröffnungsredner sprachen der Soziologe Hans Joas und die Historikerin und Leibniz-Preisträgerin Barbara Stollberg-Rilinger, Initiatorin und Sprecherin des SFB „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertsysteme“ 2 in Münster. Joas’ Vortrag gestaltete sich als Werkstattbericht seines aktuellen Buchprojekts zur „Entstehung der Werte“, in dem er einen Mittelweg zwischen der Analyse von Genesis und Geltungsansprüchen von Werten entwirft. Joas rekonstruierte eine „affirmative Genealogie“ des Universalismus der Menschenwürde, wie er überhaupt die Abgrenzbarkeit von Wertkonstitution und Wertschätzungs-(Sollen-)aussagen von Norm und Tradition in den explizit affirmativen Qualitäten des Werts fundierte. Joas’ Beitrag warf Schlaglichter auf die Genese universalisierter, systematisierter Rechtsverbindlichkeiten aus der Gewalterfahrung (etwa am Beispiel der UN-Menschenrechtscharta), und reflektierte die Tragweite der Traumakonzeption für die Beschäftigung mit Werten. Außen vor blieben die juristische Schnittstelle der Transformation von „Werten“ in faktische, judizierte Normen, die Anwendbarkeit der individualpsychologischen Traumkonzeption auf Kollektivphänomene, sowie die Problematik rückwärtsgewandter Prophetie, die fiktive Traumatisierung konstruiert (das Beispiel von als Autosuggestion eingebläuten Kindesmissbrauchsschicksalen ist in der amerikanischen Psychotherapie zum Thema geworden). Dass Wertprämissen unentrinnbar sind, gibt noch keinen Aufschluss über ihre adäquate Untersuchung, geschweige denn ihre Abgrenzung von Normen, Traditionen und „Mentalitäten“.

Barbara Stollberg-Rilinger zog in ihrem erfreulich provokativen Beitrag zunächst die Mummenschanz-Qualitäten des Wimpelpatriotismus zu WM-Zeiten heran und fragte, welche Wertzugehörigkeiten man in der Karosseriebeflaggung von Automobilen erkennen könnte: Die Beliebigkeit des Wertbegriffs, wie Stollberg-Rilinger auch in Hinblick auf die Konzeptualisierung des Münsteraner SFB meinte, setze seiner Anwendbarkeit als Forschungsinstrumentarium klare Grenzen 3, Vorsicht vor „Verfügungsphantasmen“ sei geboten. Neben einer kultur- und ideenhistorischen Vignette, in der sie auslotete, wie sehr die Differenzierung zwischen materiellen und ideellen Werten, Schätzwert und Wertschätzung, im 19. Jahrhunderts einsetzte, ruhte ihr Vortrag wesentlich auf einem Plädoyer für den Begriff der „sozialen Praktiken“. Ohne Stollberg-Rilinger die Sensibilität für Bedeutungsüberschüsse und – vorsätzliche – interpretative Entstellungen in der „symbolischen Kommunikation“ abzusprechen, bleibt festzustellen, dass diese Konzentration auf angeeignete und benutzte „Zeichensysteme“ freilich zwei Risiken bergen kann: Zum einen jenes einer übersteigerten Ehrerbietigkeit gegenüber unterschiedslos relevanten und „genuinen“ historischen Selbstbezeichnungen 4. Zum anderen jenes einer aus emanzipativer Epistemologie resultierenden Überschätzung der Autonomie historischer „Akteure“ gegenüber den „vorgefundenen Bedingungen“ (Marx) 5

Wie aber bestimmt man internalisierte Werthaltungen und Werthierarchien – die aus Assimilationsgelüsten und Überidentifikationen resultieren mögen – in ihrer Relevanz für diese Praktiken (auch für jene der Semiose)? Almut Höfert (Kairo) versuchte in einem tour d’horizon Einzigartigkeitspostulate von wertkonstituierten, kohärenten Kulturkreisen zu entkräften. Dabei erörterte sie, wie sehr die Gegenstände des Vergleichs in der Kulturtransferforschung zu hypostasierten Einheiten werden, deren vermeintliche, als heuristischer Vorgriff angenommene Stabilität dem status quaestionis der kulturellen Diversität einen eigentlichen Bärendienst erweist. Die Praktiken der Beobachtung im interkulturellen Kontakt rückte die renommierte Orientalistin Soraya Faroqui (München) in den Mittelpunkt, wenn sie in ihrer ungemein materialreichen und detailverliebten Schilderung Gesandtschaftsberichte osmanischer Bevollmächtigter des 18. Jahrhunderts an den Wiener und Pariser Höfen aufbereitete.

Wie sich Intellektuelle als Einflüsterer und Maßstab setzende Vordenker begreifen und zu Steigbügelhaltern eines Regimes werden können, dass sich ihrer als Erfüllungshilfen bedient, beschrieb József Simon (Berlin) in seinem brillanten Vortrag „Pygmäen in Siebenbürgen“. Simon verortete den Reformationsphilosophen und mehrfachen Konvertiten Christian Francken (1552-nach 1611) in seinem Streben nach einer antinormativen Überlieferungs- und Offenbarungskritik. Er entwickelte den Stellenwert der Rhetorik, der Metaphorizität der Welt und entontologisierter mythologischer Versatzstücke bei Francken, die sich aus der neoplatonischen Renaissancetradition Ficinos speiste, und in einer Annihilation politischer und konfessioneller Werte mündete. Matthias Kettner (Witten) unternahm sodann den Versuch, eine formale Distinktion zwischen Normen und Werten anhand semantischer Präpositionallogik – Werte seien, so Kettner, nicht durch Modalverben ausdrückbar – und psychologischen Bedürfnispyramiden (Maslow) einzuführen.

Die letzte Sektion der Tagung beschäftigte sich mit der Entstehung der frühneuzeitlichen Naturwissenschaften und Epistemologien. Hans Dieter Mutschler (Krakau) bot eine Archäologie der Transformation einer wertbeladenen Natur hin zu einer kausalitätsbasierten Naturkonzeption, in der neutrale Prozessabläufe, Messwerte und mathematische Beschreibungssprachen dominierten – was zu einer Revision von Schöpfungsberichten und Ursprungstheoremen des Menschen aus einer wertneutralen Natur führte. Michael Stolz (Göttingen) rekonstruierte einen moralischen Normapparat in den symbolpolitischen Aneignungen des „artes liberales“-Kanons, und spürte Ungereimtheiten zwischen Verbildlichungsstrategien und Handreichungen zur Lebensführung in Kontexten des Hofes und der Gelehrsamkeit nach. Udo Friedrich (Greifswald) schließlich beschäftigte sich in seinem ungemein anregenden Beitrag mit dem Wandel des Erfahrungsbegriffs zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit, indem er verschiedene kulturelle Felder sondierte, in denen Erfahrungsmomente und Erfahrungsspannen wissensstrukturierend wirkten (etwa in den Bereichen der Ethno- und Kosmographie, der Reiseberichte und der Autobiographien). In den Mittelpunkt rückte Friedrich die Transformation von ethischen (curiositas), politischen (Rationalisierung) und wissenschaftlichen (Empirie) Normen, die den Erfahrungsbegriff neu akzentuierten.

„Werte“ bieten Angelpunkte für Allmachtsphantasien und larmoyante Marginalisierungsängste 6 – die Leitkulturphraseologie und die rezent eingemahnten Tauglichkeitstests für die Zugehörigkeit zur deutschen „Schicksalsgemeinschaft“ (Volker Kauder, CDU) belegen dies. Diese eminent ideologischen Aspekte wurden – mit Ausnahme des Vortrags von Barbara Stollberg-Rilinger, die eindringlich vor Ressentimentrekorden und Wohlstandschauvinismus des kursierenden Wertbegriffs warnte – erst im letzten Tagungsteil mitreflektiert. Auf europäischer Ebene fällt ein Patt von ethischen Universalien auf, von denen ihre Fürsprecher den jeweiligen Opponenten begütigend suggerieren, es handle sich hierbei lediglich um eigentlich analoge Heilverheißungen in unterschiedlichem Gewand: Zur Begründung eines vagen gemeinsamen Wertehorizonts, dessen Spannbreite sich vom Gottesbezug bis zu den Minderheitenrechten erstreckt, wird dann zumeist auf die zwingende Evidenz „gemeinsamer Geschichte“ verwiesen. Die historische Argumentation ist also eine legitimative Verlegenheitslösung (vgl. die Debatte auf H-Soz-u-Kult über „Europäizität des europäischen Ostens“). Das Postulat der historischen Gemeinsamkeiten ist nun nicht nur aufgrund der Teleologie des Zusammenwachsens fragwürdig, sondern als Evidenz vage, da die Aufweisbarkeit oder scheinbare Reziprozität historischer Beziehungen nichts über Asymmetrien, Diskrepanzen und die Zielgerichtetheit von Entwicklungen sagt.
Dabei bleibt auffällig, wie wenig Scheckbuchdiplomatie eine – ja nach politischer Opportunität wünschenswerte oder vernachlässigbare – Wertkohärenz zu beeinflussen vermag. Auch hier fällt die Kluft zwischen ethischen Universalien und deren Implementierungsszenarien bzw. dem Appellieren an historische Prozessen auf, wobei mit Vorliebe eine Teleologie von Demokratie- und Entwicklungsfähigkeit vor dem Hintergrund „allgemeinmenschlicher“ – freilich aber distinkt westlicher und spezifisch „moderner“ – Werte projiziert wird. So entsteht ein Terrain um Europa gelagerter Freilichtmuseen abgestreifter Werte, von „frozen polities“, in denen sich Epochen der europäischen Geschichte verkörpert finden, denen aber begütigend die Kapazität zur Aufholjagd in Menschen- und Bürgerrechten, Säkularisierung und – je nach Standpunkt – Marktökonomie konzediert wird. Diese Vorstellung von Trittbrettfahrern des Weltgeists erweist sich freilich als verkappte Überlegenheitsgewissheit des Westens. Wenn in der Diskussion zur Tagung unter interkulturellem Blickwinkel somit für eine „wechselseitige“ Annäherung von Wertstandards plädiert wurde, ist dies entweder politisch insuffizient oder naiv.

Von reziproken Beweihräucherungszeremonien war das Colloquium ebenso weit entfernt wie von halsstarrig ausgetragenen Rivalitäten. Der unvoreingenommene, befruchtende Disput dominierte. Sardonisch könnte man kommentieren, dass die Tagung freilich gegenüber dem „Wertepapsttum“ autokephal blieb: Hans Joas stand mit seinem Enthusiasmus für die Trennschärfe und Relevanz des Wertbegriffs allein. Dass der Wertbegriff weniger ein heuristisches, operationalisierbares Rüstzeug als ein Gummiparagraph und Expanderterminus in der allseitig geborgten Begriffsapparatur der Kulturwissenschaften ist, kristallisierte sich zunehmend heraus. Plädoyers für Pragmatismus prägten die Schlussdiskussion, in der Otto Gerhard Oexle (Göttingen) nochmals eindringlich auf die Grundbestimmung der Historizität von Forschungsrüstzeug, Kategoriensystemen und Quellenbefunden hinwies. Es steht zu hoffen, dass die vom Organisationskomitee in Aussicht gestellte Publikation der Tagungserträge sich rasch umsetzen lässt.

1http://www.imprs-hist.mpg.de/
2http://www.uni-muenster.de/SFB496/
3 Aus dem Forschungsprogramm des Münsteraner SFB: „Gleichfalls weit fassen wir den Begriff der Werte(systeme). Wir subsumieren darunter Ordnungsvorstellungen, Normen, Tugenden, Vorbilder, Utopien usw., die soziales Handeln orientieren und in einigen Fällen zur Grundlage von Sanktionen werden können.“, im weiteren ist von „Wertenormen“ und „Wertekanones“ die Rede, http://www.unimuenster.de/SFB496/forschung/forschungsprogramm-d.html
4 Siehe Prudovsky, Gad, “Can we ascribe to past thinkers concepts they had no linguistic means to express?”, History and Theory 36 (1997), 15-31.
5 „Die Menschen machen ihre eigene Geschichte, aber sie machen sie nicht aus freien Stücken, nicht unter selbstgewählten, sondern unter unmittelbar vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.“, Karl Marx: “Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ in Marx-Engels-Werke, 8, Berlin, 1972, 115.
6 „Vielleicht drückt noch unser Wort "Mensch" (manas) gerade etwas von diesem Selbstgefühl aus: der Mensch bezeichnete sich als das Wesen, welches Werte misst, wertet und misst als das ‚abschätzende’ Tier an sich.“, Friedrich Nietzsche, „Zur Genealogie der Moral“, 2. Abhandlung, Paragraph 8.


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