2. Promovierendentage zur deutschen Zeitgeschichte. Methoden, Inhalte und Techniken im Umgang mit Streitgeschichte

2. Promovierendentage zur deutschen Zeitgeschichte. Methoden, Inhalte und Techniken im Umgang mit Streitgeschichte

Organisatoren
Institut für Hochschulforschung Wittenberg – HoF Wittenberg an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Jens Hüttmann, in Kooperation mit der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Berlin, Dr. Ulrich Mählert
Ort
Wittenberg
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.07.2006 - 09.07.2006
Url der Konferenzwebsite
Von
Anne Krüger, Berlin

„Promovieren, promovieren, promovieren und immer an die Leser denken.“ So lautete der inoffizielle Slogan der „2. Promovierendentage zur deutschen Zeitgeschichte“, die nach der Premiere von 2005 1 vom 6. bis zum 9. Juli 2006 in Wittenberg in der Stiftung Leucorea 2 stattfanden. Immer an die Leser denken mussten die 30 teilnehmenden Doktoranden, da die Veranstalter – HoF Wittenberg und die Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, Berlin – diesmal u.a. eine Frage in den Mittelpunkt gestellt hatten, mit denen alle Wissenschaftler in ihrem Alltag konfrontiert sind: Wie schreibe ich einen wissenschaftlichen Text, der gleichzeitig lesbar und verständlich ist?

Diese Frage ist zentral für die Tagungsidee und -konzeption der Promovierendentage: Sie sollen auf der einen Seite sowohl ein Forum sein für die wissenschaftlichen Inhalte als auch für die persönlichen Rahmenbedingungen, mit denen Doktoranden während ihrer Promotionszeit konfrontiert sind. Gleichzeitig wird hier aber auch die „handwerkliche“ Seite des Promovierens thematisiert. Während im Vorjahr die Frage gestellt worden war, wie man wissenschaftliche Inhalte angemessen mündlich präsentieren kann, war der diesjährige Schwerpunkt „Schreiben“ nicht zuletzt auf Anregungen derjenigen Teilnehmer zurückgegangen, die bereits im letzten Jahr der Einladung nach Wittenberg gefolgt waren. Viele waren wiedergekommen, sodass die diesjährige Zusammensetzung sowohl aus alten wie auch aus einer Vielzahl neuer Teilnehmer bestand. Alle promovieren im Bereich deutsch-deutscher Zeitgeschichte.

I. „Müssen auch Zeithistoriker sich historisieren lassen?“

Den Auftakt bildete wie im letzten Jahr das Podiumsgespräch. „Müssen auch Zeithistoriker sich historisieren lassen?“ lautete die Frage, die von den eingeladenen Professoren Christoph Kleßmann (Potsdam), Dorothee Wierling (Hamburg) und Eckhard Jesse (Chemnitz) beantwortet werden sollte.

Das Stichwort stammte von Paul Nolte. In einem 1999 im „Merkur“ erschienenen Aufsatz 3 hatte er die um 1930 geborenen Historiker der Bundesrepublik analysiert und beschrieben, dass jene Historiker wie Hans-Ulrich Wehler, Hans und Wolfgang Mommsen, Helmut Berding, Gerhard A. Ritter und andere bedeutende Fachvertreter in ihrem beruflichen Wirken nie allein auf ihr akademisches Umfeld beschränkt gewesen sind, sondern sich gleichsam als fachliche und moralische Autoritäten in tagesaktuelle politische Kontroversen eingemischt haben. Noltes Prämisse lautete: Um die Konjunkturen deutscher Zeitgeschichte nach 1945 zu verstehen, müssen die Historiker selbst als historische Personen ernst- und wahrgenommen werden. Diesen Zusammenhang griff Jens Hüttmann (HoF Wittenberg) in seiner Moderation auf und lud die Podiumsgäste dazu ein, ihre akademischen Biografien im Hinblick auf ihre persönlichen Erfahrungen, ihren generationellen Standort und ihre Teilhabe an zeitgeschichtlichen Konjunkturen zu schildern.

„Selbstverständlich, jede Historikerin muss die Fähigkeit zur Selbsthistorisierung besitzen.“ beantwortete Wierling die Ausgangsfrage, die keineswegs als Zumutung verstanden werden dürfe. Gerade um die nötige Distanz zwischen sich selbst und dem Untersuchungsgegenstand zu wahren, sei es unabdinglich, seinen eigenen Standort als Historikerin zu reflektieren. Das sei ja gerade, so Wierling weiter, der Kern der Geschichtswissenschaft: sich die Fähigkeit anzueignen, Komplexität und Widersprüchlichkeit aushalten zu können. Dies beinhalte eine selbstkritische Haltung zur eigenen Arbeit.

Kleßmann betonte die Chancen, die sich eröffnen, wenn man beginne, sich mit den eigenen Fehlern auseinander zu setzen. In der Zeitgeschichte als „Geschichte der Mitlebenden“ (H. Rothfels) sei die Gefahr von Fehlurteilen besonders deutlich. Als Beispiel nannte Kleßmann seine feste Überzeugung und Fehlprognose aus den 1970er Jahren, dass ein Ende der deutschen Teilung absolut unrealistisch sei. Diese Prämisse seiner damaligen Forschungen hat sich als historischer Irrtum herausgestellt. Zum Verständnis solcher Fehlprognosen sei es jedoch unabdingbar, sie im historischen Kontext zu betrachten.

Jesse plädierte dafür, auch die heutzutage weiterhin tätigen Osthistoriker nicht von dieser Kontextualisierung auszunehmen. Ihre Publikationen vor 1989 müssten ebenfalls vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass sie zum damaligen Zeitpunkt einer Zensur unterlagen, deren Vorgaben sie bis zu einem gewissen Grad zu erfüllen hatten, um überhaupt arbeiten zu können.

II. Promovieren, betreuen, lehren

Naheliegend war im Kontext der Veranstaltung aber auch eine andere Frage: Wie haben die Diskutanten selbst ihre eigene Promotion erlebt und wie schätzen sie die gegenwärtige Situation von Doktoranden ein? Während Kleßmann für seine eigene Promotionszeit das Bild vom „einsamen Doktoranden“ entwarf, drehten sich die Bemerkungen von Wierling und Jesse insbesondere um die Zeitfrage: Wie lange darf eine Promotion dauern?

Wierling erläuterte, dass sie die Möglichkeit zur Promotion als Privileg empfunden habe, da sie zuvor bereits ein paar Jahre als Lehrerin gearbeitet hatte. Ihr Argument: „Vertane“ Zeit während des Promovierens sei immer auch produktiv, da Lebenserfahrung es ermögliche, eine gewisse Distanz zum Historikerberuf beizubehalten. Im Gegensatz dazu vertrat Jesse die Position, dass die Promotion nicht als Lebenswerk begriffen werden sollte sondern als Qualifikation, die weitere Karrierewege ermögliche. Es gelte deshalb, die Promotion zügig zu beenden. Einig war man sich jedoch in dem Punkt, dass es generell ratsam sei, bereits während der Promotion Erfahrungen außerhalb der Universität zu sammeln.

Alle drei Podiumsgäste entpuppten sich zudem in ihrem Anspruch, die Promovierenden als Forscher und nicht als Studenten wahrzunehmen, als waschechte Humboldtianer. Kleßmann differenzierte, indem er zwei Typen von Doktoranden beschrieb: Erstens diejenigen, die in einer Promotion lediglich eine Qualifikation für einen außeruniversitären Beruf sehen. Zweitens solche, die zukünftig im wissenschaftlichen Bereich arbeiten wollen. Hier sei jedoch die kuriose Situation zu beobachten, dass deren wissenschaftliche Expertise nicht selten eine Betreuung überflüssig mache.

Dieses Thema wurde von Peer Pasternack (HoF Wittenberg) zu einem späteren Zeitpunkt der Veranstaltung wieder aufgegriffen. In dem Vortrag „Promovieren und betreuen“ beleuchtete er die Beziehung zwischen Promovierendem und Betreuer und gab Tipps, wie das Betreuungsverhalten der Doktormutter oder des Doktorvaters vom Doktoranden gesteuert werden kann. Für Pasternack sollten sich akademischer Schüler und akademischer Lehrer idealtypischerweise in einem regelmäßigen Austausch befinden, bei dem beide voneinander profitieren. Davon könne aber in der Empirie keine Rede sein. Entweder fühlten sich Promovierende unzulänglich betreut, da zu intensive Zuwendungswünsche den Betreuer schlicht überforderten, oder sie empfänden fortwährende Nachfragen, Lektürewünsche und Änderungshinweise des Betreuers als penetrante Einmischung.

Auch die tägliche Morgenrunde – ein Forum für Fragen, Kritik und Erfahrungsaustausch – beleuchtete einen weiteren Aspekt des Themas. Hanno Hochmuth (Berlin), ein „Veteran“ des letzten Jahres, betonte in seinem Erfahrungsbericht „DDR-Geschichte und Humboldt-Ideal“ die Schwierigkeiten, die sich ergeben, wenn universitäre Lehre und gleichzeitige Forschung miteinander kombiniert werden sollen. Anhand eigener Erfahrungen stellte er die Doppelbelastung dar, die gerade Doktoranden mit dem Schwerpunkt DDR-Forschung treffe, da dieser Bereich in weiten Teilen Doktorandenforschung geworden sei, die zudem zunehmend nur noch außeruniversitär Raum fände. Gleichzeitig werden zur SED-Diktatur an den Universitäten immer weniger Lehrveranstaltungen angeboten, obwohl – wie er es in einem eigenen Seminar erlebt hatte – unter den Studierenden großes Interesse an diesem Thema besteht. Wolle man als Doktorand diese Lücke füllen, so gehe die Lehre, die ihm alltäglich ein Gefühl von Relevanz vermittle, auf Kosten der Forschung, für die dann kaum noch Zeit bleibe. 4

III. Zeitgeschichte schreiben

Immer an die Leser denken. Die Journalistinnen Annette Bolz (Hamburg), Kristin Hüttmann (Hamburg) und Nina C. Zimmermann (Berlin) brachten ab dem zweiten Veranstaltungstag mit ihren Schreibwerkstätten die Promovierendentage zum Kochen: In ihrem Workshop „Man nehme – Rezepte für gutes Schreiben“ vermittelten sie anhand konkreter Beispiele, wie ein wissenschaftlicher Text verständlich zubereitet werden kann. Negativbeispiele aus journalistischer Perspektive sind lange Sätze, Substantivierungen und Passivkonstruktionen – Stilmittel, die häufig gerade wissenschaftliche Texte kennzeichnen. Es sollte die Möglichkeit eröffnet werden, über den eigenen Schreibstil zu reflektieren – nicht zuletzt, um die Anregungen auch auf die eigene Dissertation anzuwenden.

Damit nicht genug: Um dies in der Praxis testen und umsetzen zu können, erhielten die Doktoranden direkt im Anschluss an die Workshops die Möglichkeit, sich selbst im verständlichen Schreiben auszuprobieren. Dazu waren bereits zu Beginn der Tagung sogenannte „Stellvertreterpaare“ unter den Promovierenden gebildet worden. Deren Ziel sollte es sein, innerhalb dieser Paare einen Austausch über Inhalt und Rahmenbedingungen des Promovierens zu ermöglichen. Aus diesem Gespräch wählte der jeweilige Partner einen Aspekt aus, über den er einen Text seiner Wahl verfasste. Auf der Grundlage von Gespräch und Text des Vortages wurde am Samstag in verschiedenen Gruppen sowohl inhaltlich über die Promotionsvorhaben diskutiert wie auch in Zweier- und Einzelgesprächen von den Journalistinnen formale Textkritik geübt. In einer letzten Arbeitsphase konnten die Promovierenden die Ratschläge in ihre Texte einarbeiten. Alle verfassten Texte sind in einen von Thomas Klemm (Leipzig) gestalteten Reader eingegangen, der für alle Teilnehmer am Ende der Veranstaltung gedruckt vorlag.

Deutlich wurde bei diesen von fast allen Teilnehmern durchgängig positiv beurteilten Übungen, dass es sich um eine Gratwanderung handelt. Wie weit darf der Anspruch auf Verständlichkeit die wissenschaftlichen Inhalte beeinflussen? Auf diese Frage zielte die These des leitenden Redakteurs für Zeitgeschichte der Tageszeitungen Berliner Morgenpost und Die WELT, Sven Felix Kellerhoff. In seinem Vortrag „History sells. Zeitgeschichte in den Medien“ konstatierte er: Zeitgeschichtliche Aufklärung benötige Reichweite, die vom wissenschaftlichen Autor verlangen könne, den wissenschaftlichen Anspruch zu senken. Wissenschaft, die niemanden erreiche, könne ihre aufklärende Funktion nicht erfüllen, da sie mit ihren wissenschaftlichen Entdeckungen und Interpretationen für sich bleibe.

Kontrovers diskutiert wurde die Frage, wie weit man dabei gehen darf. Wie wichtig ist überhaupt die Fixierung auf ein großes Publikum, wenn darunter der wissenschaftliche Anspruch leidet? Oder impliziert die Frage bereits eine typische wissenschaftliche Arroganz gegenüber der Popularisierung ihrer Ergebnisse? Doch zeigte sich in der Diskussion ebenfalls, dass auch ein großes Potential der Zusammenarbeit von Zeitgeschichtsjournalisten und -forschern liegen kann.

IV. Fazit

Zukünftige Leser sind gerettet. Substantivierungen und Bandwurmsätze werden sich in den Publikationen der Teilnehmer der 2. Promovierendentage bestimmt nicht mehr finden lassen.
Doch wo befindet sich die Grenze zwischen Wissenschaft und Journalismus?

Bei den diesjährigen „Promovierendentage zur deutschen Zeitgeschichte“ haben die dieses Mal noch zahlreicheren Teilnehmer im Selbstversuch austesten können, wo dieser Grad zwischen wissenschaftlichem Anspruch und allgemeiner Lesbarkeit verläuft. Doch blieb neben dem vielfältigen Programm ebenso genug Platz für Anregungen und spontan geäußerte Einfälle. Bemerkenswert war die große, teils auch selbstkritische Offenheit aller Teilnehmer. Hatte das Podiumsgespräch Raum für Selbstkritik gegeben, waren auch die Stellvertretergespräche gekennzeichnet durch eine vertrauensvolle Atmosphäre, die wiederum offene und kritische Diskussionen ermöglichte.

Der hier ermöglichte Austausch, der über rein fachliche Belange hinaus auch die handwerklichen und psychologischen Facetten einer Promotion thematisierte, wurde von den Doktoranden so positiv aufgenommen, dass im Sommer 2007 die „3. Promovierendentage zur deutschen Zeitgeschichte“ stattfinden werden.

1 Vgl. auch den Tagungsbericht zu den 1. Promovierendentagen: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=848 .
2 Vgl. http://www.stiftung-aufarbeitung.de/. Die Stiftung Leucorea ist eine Stiftung des öffentlichen Rechts an der Martin-Luther-Universität Halle–Wittenberg, die an die Tradition der bis 1817 bestehenden Universität Wittenberg anknüpft. Die Leucorea wurde 1994 gegründet. Für weitere Hinweise vgl. http://www.leucorea.uni-halle.de/
3 Nolte, Paul, Die Historiker der Bundesrepublik. Rückblick auf eine ‚lange Generation’, in: Merkur 53, 1999, H. 5, S. 413-432
4 Vgl. hierzu auch die Ergebnisse des Arbeitsbereichs „DDR-bezogene Hochschulforschung“ am HoF Wittenberg, die in den letzten Jahren in Kooperation mit der Stiftung Aufarbeitung entstanden sind. Zur Themenkarriere der „Gelehrten DDR“ vgl. Pasternack, Peer, Gelehrte DDR. Die DDR als Gegenstand der Lehre an deutschen Universitäten 1990-2000. Unter Mitarbeit von Anne Glück, Jens Hüttmann, Dirk Lewin, Simone Schmid und Katja Schulze. Wittenberg 2001, S. 32ff.; zur näheren Interpretation der Themenkarriere: Hüttmann, Jens, Die ‚Gelehrte DDR’ und ihre Akteure. Strategien, Inhalte, Motivationen: Die DDR als Gegenstand von Lehre und Forschung an deutschen Universitäten. Unter Mitarb. v. Peer Pasternack. HoF Wittenberg, Wittenberg 2004, S. 67 ff.


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