Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus: Erinnerung- und Gedenkkultur, Entnazifizierung, Wiedergutmachungspraxis

Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus: Erinnerung- und Gedenkkultur, Entnazifizierung, Wiedergutmachungspraxis

Organisatoren
Arbeitskreis für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen, Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt
Ort
Wolfsburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
18.02.2006 -
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Von
Wolfgang Brandes, Stadtarchiv Bad Fallingbostel

Mehr als 70 Teilnehmer(innen) konnten am 18. Februar 2006 bei der 15. Tagung des Arbeitskreises für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen begrüßt werden, die in Zusammenarbeit mit der Landeszentrale für politische Bildung Sachsen-Anhalt veranstaltet wurde. Als Tagungsort stellte freundlicherweise die Historische Kommunikation der Volkswagen AG, Wolfsburg, ihre Räumlichkeiten zur Verfügung. In angenehmer Atmosphäre konnte hier eingehend das Thema „Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus: Erinnerungs- und Gedenkkultur, Entnazifizierung, Wiedergutmachungspraxis“ erörtert werden.

Detlef Schmiechen-Ackermann hob in seiner Begrüßung hervor, dass mit dem Tagungsthema und dem Tagungsort ein zwei Bundesländer verbindender Brückenschlag gemacht werde. Die NS-Zeit im Gebiet des heutigen Landes Niedersachsen weist viele Parallelen zu den damaligen Ereignissen im Gebiet des heutigen Landes Sachsen-Anhalt auf. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit verlief aber in beiden Regionen unterschiedlich.

Dietmar von Reeken leitete mit der „Einführung ‚Erinnerungskultur zum Nationalsozialismus’“ die Tagung ein: Die Erforschung von Erinnerung und Gedächtnis hat in den letzten Jahren einen Boom erlebt – nicht nur, aber auch in der Geschichtswissenschaft. In dem Vortrag wurden zunächst die gesellschaftlichen Hintergründe dieses Booms und seine theoretischen Grundlegungen (Halbwachs, Nora, Assmann) erörtert. Eines der zentralen Forschungsfelder zumindest im deutschsprachigen Raum ist die Erinnerung an den Nationalsozialismus. Nach einer Darstellung der wichtigsten Phasen des Erinnerns seit 1945 und der Schwerpunkte der bisherigen Forschungen (Vergangenheits- und Geschichtspolitik, Familiengedächtnis) stand im Mittelpunkt des letzten Teils des Vortrags die Entwicklung eigener Forschungsperspektiven (Forschungsfragen, Untersuchungsfelder, Quellen) zu „lokalen Erinnerungskulturen“ in Niedersachsen zwischen 1945 und der Gegenwart, die Teil des geplanten niedersächsischen Forschungsverbundes zur Geschichte des Nationalsozialismus werden sollen.

Marc Buggeln referierte über den Umgang mit dem Gedächtnisort „U-Boot-Bunker ‚Valentin’ in Bremen-Farge“ in der Nachkriegszeit. Für den Hintergrund stellte er kurz die Entstehungsgeschichte des - 1943 bis 1945 von etwa 10.000 Zwangsarbeitern gebauten - 500 m langen und 100 m breiten Bunkers dar. In der unmittelbaren Nachkriegszeit versuchte die lokale Bevölkerung in Farge dann, das Verschwinden des Bunkers unter einem Sandberg durchzusetzen. Sie scheiterte mit diesem Begehren aber am Stolz seines Erbauers, der inzwischen zum Bremer Hafendirektor aufgestiegen war. In den fünfziger Jahren wurde der ungenutzte Bunker zur Projektionsfläche der träumenden Wirtschaftswunderrepublik: Vom Yachthafen bis zum Atomreaktor schien alles möglich. Die Phantasien endeten, als die Bundeswehr in den sechziger Jahren den Bunker übernahm und den vorderen Teil zu einem Marinematerialdepot umbaute. Damit verschwand der Bunker aus dem Bremer Gedächtnis. Erst in den achtziger Jahren setzte durch die Besuche ehemaliger französischer KZ-Häftlinge die Erinnerung an die beim Bunkerbau begangenen Verbrechen wieder ein. Die letzten zwanzig Jahre sind nun geprägt von verschiedenen Initiativen, bei denen es auch immer darum ging, eine historische Dokumentationsstätte und würdiges Gedenken am Ort zu ermöglichen. Der Referent betonte abschließend die Probleme im Umgang mit dem Bunker und den umliegenden Lagern. Insbesondere wies er daraufhin, dass die Besucher vor allem durch die Faszination für den riesigen Bunker nach Farge kämen und die wenigen verbliebenen Lagerreste kaum Beachtung fänden. Deswegen bedürfe es gestalterischer Pläne, wie die beiden Orte verbunden werden könnten.

Alexander Bastian sprach über das Thema „Psychiatrie und Zwangssterilisation in Haldensleben“. Die Zwangssterilisation im „Dritten Reich“ als Bestandteil deutscher Erinnerungskultur ist sowohl von kollektiven Ausschlussprozessen nach Ende des Zweiten Weltkrieges als auch von gesellschaftlichen Identitätsprozessen seit den 1980er Jahren gekennzeichnet. Gründe des „Vergessens“ sind neben dem fehlenden gesellschaftlichen Prestige und Status psychiatrischer Patienten, der weitgehenden Kontinuität medizinischer und juristischer Eliten sowie der Hierarchisierung von Opfergruppen zu Ungunsten psychiatrischer Patienten vor allem das Ausbleiben der juristischen Anerkennung der sterilisierten Personen als Opfer des Nationalsozialismus.

Im Zeitraum zwischen 1934 bis 1945 wurden in der Landesheilanstalt Haldensleben mindestens 594 Personen unfruchtbar gemacht. Rassenhygienische Erkenntnisse, die die generelle Vererbung von körperlichen, aber auch von charakterologischen und sozialen „Anormalitäten“ konstruierten, waren maßgebliche Grundlage der nationalsozialistischen Zwangssterilisation. Die Ergebnisse zur Landesheilanstalt Haldensleben bezeugen den radikalen rassisch-biologischen Gestaltungswillen im „Dritten Reich“, „unnormale“ oder „unkonforme“ Menschen von der Fortpflanzung endgültig auszuschließen. Sie finden unter Berücksichtigung der diagnostischen Praxis weitere Bestätigung, indem Patienten als „Material“ oder als „minderwertige Psychopathen“ bezeichnet werden.

Die Gegenwart, die zur Ausbildung von Identitätsprozessen eine entscheidende Funktion innehat, erweist sich hinsichtlich der nationalsozialistischen Zwangssterilisation als zentrales Antriebsmoment kollektiver und selektiver Erinnerungskultur. In Anbetracht der heutigen schwelenden Diskurse über Gesundheit und Krankheit, medizinische Versorgung und Altersbetreuung stellt sich in Bezug auf Klaus Dörner die weiterhin aktuelle Frage: „Was machen wir Bürger mit denen, die nicht so sind wie wir, deren Leistungswert sie industriell unbrauchbar macht; wofür sind sie da und wie gehen wir mit ihnen um?“

Ute Hofmann referierte über die „Thematisierung der Täter in der ‚Euthanasie’-Gedenkstätte Bernburg“. Bereits Mitte der 90er Jahre wurde in der Gedenkstätte Bernburg eine umfangreiche Erhebung zu Herkunft, Bildung und Eintrittsmotivation von Beschäftigen der „Euthanasie“-Anstalt Bernburg durchgeführt. Ermittelt wurden rund 140 Personen, das Gros von ihnen Zivilangestellte. Zwei von ihnen haben ohne Folgen gekündigt. Es geht vor allem um die Frage, unter welchen Bedingungen Menschen bereit sind, ohne Notwehr gegen andere vorzugehen. Bei den heutigen Besuchern der Gedenkstätte gibt es mehrheitlich feste Einstellungen zur Frage der Täterschaft: als Alternative zur Arbeitslosigkeit, als Lösung der Finanzknappheit im sozialen Bereich und als Zwang zur Erhaltung der eigenen Sicherheit. Erfahrungsgemäß reicht es deshalb nicht, die Biographien von Täten in eine Ausstellung aufzunehmen, weil damit noch nicht zwangsläufig eine Auseinandersetzung mit deren Motivationen stattfindet. In der Gedenkstätte Bernburg erfolgt die Thematisierung der Täter anhand von drei Schwerpunkten: 1. Die Diskussion über die Ausgrenzung bestimmter Bevölkerungsgruppen entsteht zu einer Zeit, als die NSDAP noch nicht einmal gegründet war; 2. in vielen Situationen gab es durchaus Handlungsalternativen, ohne die eigene Person zu gefährden; 3. die Frage der Verführbarkeit, auch außerhalb einer Diktatur. Als Arbeitsmittel stehen eigens entwickelte fiktive Biographien und Mappen mit realen Biographien und den Gerichtsaussagen zur Verfügung. Entscheidend ist aber in jeden Fall eine kompetente Betreuung der Besucher durch pädagogische Kräfte.

Volker Friedrich Drecktrah sprach „Zur Tätigkeit des Spruchgerichts Stade im Lager Sandbostel“. Das Kontrollratsgesetz Nr. 10 vom 20.Dezember 1945 erklärte die Mitgliedschaft in verbrecherischen Organisationen dann zu einem Verbrechen, wenn diese vom Internationalen Militär-Gerichtshof in Nürnberg zu verbrecherischen Organisationen erklärt werden würden. Darauf stand von Vermögensverfall über Freiheitsstrafe bis Todesstrafe nahezu jede denkbare Sanktion. Das Nürnberger Urteil vom 30.09./1.10.1946 erklärte von sechs angeklagten Organisationen nur drei – nämlich das Führer-Korps der NSDAP (Gauleiter bis Ortsgruppenleiter), Gestapo mit SD und SS (sowohl allgemeine wie Waffen-SS) – zu „verbrecherischen Organisationen“. Damit war der Tatbestand des „Organisationsverbrechens“ geschaffen worden, d. h. die individuelle Schuld sollte hinter die bloße Mitgliedschaft in einer dieser Organisationen zurücktreten und Grundlage einer Verurteilung werden, wenn Kenntnis der verbrecherischen Ziele der jeweiligen Organisation vorlag. Der Personenkreis war zudem auf diejenigen beschränkt, die noch nach dem 1. September 1939 Mitglieder dieser Organisationen waren.

Gegen genau 27.748 Zivil-Internierte aus den genannten drei Gruppen der verbrecherischen Organisationen wurde ermittelt. Sie befanden sich in sechs Lagern der brit. Zone (C.I.C. = Civil Internment Camp). Je Lager wurde ein Spruchgericht eingerichtet, jedoch mit sehr unterschiedlichen Gerichtsgrößen. In Stade bestanden 16 Kammern, die für die Verhandlungen gegen die 4.000 im Lager Sandbostel Internierten zuständig waren. Bereits im Juli 1947 nahm die Staatsanwaltschaft im Lager ihre Arbeit auf. Am 4. August 1947 fand die erste Sitzung des Gerichts statt, am 21. Dezember 1948 kam es zum letzten Mal zusammen. Insgesamt ergingen in Stade 3.500 Urteile und Strafbescheide, die höchste Strafe betrug hier sechs Jahre.

In der gesamten britischen Zone betrug die Zahl der Urteile und Strafbescheide per Oktober 1949 24.154, davon wurden 10.110 Angeklagte mit einer Geldstrafe belegt sowie 5.614 mit einer Gefängnisstrafe. Fast alle der zu Gefängnisstrafen Verurteilten wurden mit dem Urteilsspruch auf freien Fuß gesetzt, denn die Internierungszeit wurde in voller Länge angerechnet, die meisten waren seit Mai 1945 interniert. Nur 830 Verurteilte mussten noch nach dem Urteil in Haft bleiben.

Das politische Ziel der Entfernung aus öffentlichen oder wirtschaftlich bedeutsamen Ämtern kollidierte schnell mit der Notwendigkeit, die Daseinsfürsorge, also die Sicherung des täglichen Überlebens, nicht zu gefährden. Das niedersächsische Innenministerium nahm schließlich den Spruchgerichtsurteilen den letzten Rest an Bedeutung. Im Oktober 1951 wurden die Regierungs-Präsidenten angewiesen, alle Verurteilungen von fünf Jahren und weniger nicht mehr in Führungszeugnisse einzutragen. Verurteilungen zu mehr als fünf Jahren betrafen jedoch nur 18 Personen, das waren lediglich 0,7 ‰ aller ursprünglich Internierten.

Karl-Ludwig Sommer informierte über die „Zentrale Dokumentation der Verfolgung während der NS-Zeit in Bremen“. Im Staatsarchiv Bremen ist ein Projekt „Zentrale Dokumentation der Verfolgung in den Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft in Bremen (ZeDoV)“ konzipiert worden. Kern des Projekts ist der Aufbau einer zentralen Datenbank, in der die Namen und biographische Grunddaten möglichst aller Opfer nationalsozialistischer Verfolgung in Bremen sowie wesentliche Angaben zu ihrem Schicksal erfasst werden. Ausgehend von den Recherchen, die für den Aufbau dieser Datenbank erforderlich sind, soll zum einen eine wissenschaftlich qualifizierte Begrifflichkeit entwickelt werden, mit der das im Einzelnen höchst unterschiedliche Verfolgungsgeschehen in den Jahren zwischen 1933 und 1945 adäquat beschrieben und erklärt werden kann. Im Unterschied zum Begriff „Widerstand gegen den Nationalsozialismus“, der seit Ende der 1970er Jahre intensiv diskutiert und in Bezug auf unterschiedliche Formen widerständigen Verhaltens und deren jeweilige Reichweite ausdifferenziert worden ist, wird „nationalsozialistische Verfolgung“, die Kehrseite der unter dem Stichwort „Zustimmungsdiktatur“ zu subsummierenden Aktivitäten der Nationalsozialisten, nämlich bis heute ohne exakte begriffliche Klärung zumeist schlicht als Faktum unterstellt, da es sie ja unstreitig gegeben hat.

Zum anderen soll mit der zentralen Datenbank eine Material- und Quellengrundlage für weiterführende vergleichende Untersuchungen und biographische Studien geschaffen sowie ein Impuls zur Weiterentwicklung der örtlichen Erinnerungskultur in der Form gegeben werden, dass eine personenbezogene Erinnerung an die bis heute in der Öffentlichkeit zumeist „namenlosen“ Opfer der Gewaltherrschaft neben die bislang dominierende Ausrichtung des Gedenkens auf die Jahrestage besonderer Vorkommnisse tritt. Ein solches Projekt ist nach derzeitigem Kenntnisstand weder in Deutschland noch im anglo- oder frankophonen Sprachraum durchgeführt worden oder in Arbeit. Bremen scheint für ein Pilotprojekt besonders geeignet, weil der regional begrenzte Untersuchungsraum die Auswertung aller verfügbaren einschlägigen Unterlagen bei einem zeitlich und finanziell zu vertretenden Aufwand ermöglicht und zugleich groß und in Bezug auf die Wirtschafts- und Sozialstruktur differenziert genug ist, um zu Ergebnissen zu gelangen, die über spezifisch örtliche Bedingtheiten hinausgehende Aussagen zulassen. Es ist allerdings ungewiss, ob das Projekt realisiert werden kann, weil die Finanzierung noch nicht geklärt ist.

Thomas Rahe stellte Überlegungen an „Zur Neukonzeption der Gedenkstätte Bergen-Belsen“. Im Jahr 2000 ist die Gedenkstätte Bergen-Belsen in die Projektförderung des Bundes aufgenommen worden. Diese positiv veränderten Rahmenbedingungen haben das Projekt einer baulichen Erweiterung der Gedenkstätte Bergen-Belsen sowie der Erarbeitung einer neuen Dauerausstellung zur Geschichte des Lagers Bergen-Belsen ermöglicht, die im April 2007 eröffnet werden soll. Sie wird die Geschichte des Kriegsgefangenen- und Konzentrationslagers darstellen. Eine weitere Teilausstellung wird sich der Geschichte des DP-Camps Bergen-Belsen widmen. Angesichts der Heterogenität der Besucherschaft soll zwischen einer Basisausstellung und Vertiefungszonen differenziert werden, in der die Besucher weiterführende und kontextualisierende Informationen erhalten können. Diese Vertiefungszonen sollen so gestaltet werden, dass sie jederzeit ergänzt und so auch dem fortlaufenden Forschungsstand angepasst werden können.

Manfred Grieger berichtete über „Entnazifizierung in Landstädten – das Beispiel Vorsfelde und Fallersleben“. Die historische Forschung zum Entnazifizierungsprozess der deutschen Nachkriegsgesellschaft folgt bis heute dem 1972 von Lutz Niethammer gelegtem Muster der „Mitläuferfabrik“: Die Chance zur gesellschaftlichen Neuordnung durch dauerhaften Ausschluss ehemaliger Nazis und zur „moralischen Selbstreinigung“ sei nicht genutzt worden. Im Gegensatz zu Studien, die Besatzungszonen, Regierungsbezirke oder doch Großstädte betrachten, bemüht sich das skizzierte Forschungsvorhaben am Beispiel der niedersächsischen Landstädte Vorsfelde und Fallersleben, die 1945 jeweils 2.000 Einwohner zählten, um einen kleinräumigen Zugang. Eine Totalerhebung der erhaltenen Entnazifizierungsunterlagen ermöglicht dabei zum einen den Verwaltungsprozess, also die Verfahren und die Verfahrensbeteiligten auf britischer und deutscher Seite, in den Blick zu nehmen. Zusammen mit der Einbeziehung des Phasenverlaufs ergeben sich zum anderen Hinweise auf die jeweiligen Gründe, die für die Kategorisierung im Entnazifizierungsverfahren herangezogen wurden.

Schon die erste Datenerhebung regt dazu an, das vorherrschende Bild eines gesamtgesellschaftlichen Komplottes zur unmittelbaren Reintegration nationalsozialistischer Parteigänger zu differenzieren. Zum einen erstaunt, dass über die Hälfte der Verfahren Nicht-NSDAP-Mitglieder betraf. Außerdem saß eine merkliche Zahl der später Entnazifizierten zuvor in Internierungshaft. Zu den Entnazifizierten gehörten zudem vereinzelt NS-Opfer, die konsequenterweise der Kategorie der „Unbelasteten" zugeschlagen wurden. Gleichwohl lassen sich in den ziemlich komplett überlieferten Verfahrensunterlagen zum Teil haarsträubende Eigenaussagen und unsägliche Leumundszeugnis finden - und dies über alle Parteien hinweg. Von entscheidender Bedeutung für den schlussendlichen Ausgang der Entnazifizierung dürften die Bürgermeister und Stadtdirektoren aus dem rechtskonservativen Milieu, wie insgesamt die sich entwickelnde Honoratiorendemokratie gewesen sein. Deren Wunsch nach Inklusion der Nachbarn hat die Leistungen der Entnazifizierungsstellen hintertrieben. Zudem wird sich eine abschließende Bewertung auch daran zu orientieren haben, dass der zunehmende Verrechtlichungsgrad des Verfahrens durch den Nachweis individueller Schuld die Bestrafung der NS-Trägergruppen in den Vordergrund treten ließ. Deshalb plädierte der Referent dafür, das von den Alliierten eingeführte und in deutsche Verantwortung übergegangene Entnazifizierungssystem nicht mit heutigen Anforderungen einer rechtsförmigen Diktaturverarbeitung zu überlasten. Die Materialerhebung und Analyse soll in einem zweiten Schritt auf die Entnazifizierung der Belegschaft des Volkswagenwerks erweitert werden.

Daniel Bohse setzte sich mit der „Entnazifizierung in Sachsen-Anhalt“ auseinander. Hier bestand die besondere Situation, dass bis zum Juli 1945 Teile der Provinz Sachsen, dem späteren Sachsen-Anhalt, zunächst von den Amerikanern und Briten besetzt waren, die die ersten Entnazifierungsmaßnahmen durchführten. Auch wenn von ihnen die Entnazifierung durchaus ernst genommen wurde, hing es nicht zuletzt von der persönlichen Einstellung des jeweils zuständigen Kommandanten ab, ob Nationalsozialisten im Interesse des Funktionierens der Verwaltung in ihren Ämtern belassen wurden. Eine Rolle spielte auch, dass vielen Verantwortlichen politisch aktive Kommunisten und Gewerkschaftsfunktionäre suspekt erschienen. Briten und Amerikaner verhielten sich im Grunde zunächst nicht anders als die Sowjets, die NSDAP-Mitglieder oftmals als Bürgermeister beließen, allerdings unter der Voraussetzung, dass sie loyal zur Besatzungsmacht standen. Auch die sowjetischen Kommandanten verhinderten umfassende und radikale Entlassungen, um die Arbeit der Behörden sicherzustellen.

In dieser ersten Phase der Entnazifierung ist bei den sowjetischen Militärbehörden eine Konzeptlosigkeit auszumachen. Nach der Übernahme der von den Briten und Amerikanern geräumten Gebiete wurde dann aber verstärkt gegen NSDAP-Mitglieder in den Kernbereichen der Verwaltung sowie in Justiz und Polizei vorgegangen. Schätzungen nahmen an, dass von den 140.000 Mitarbeitern in den Verwaltungen (einschließlich Post und Bahn) rund 50.000 aktive oder nominelle Nationalsozialisten waren. Die am 6. September 1945 erlassenen „Richtlinien über die Säuberung der Verwaltung“ verschärften die Anforderungen, die für ein Belassen im Amt erfüllt werden mussten. Säuberungskommissionen konstituierten sich, die Einzelfallüberprüfungen vornahmen. Von den Mitläufern und Stützen des NS-Systems wurden 21.000 entfernt und 24.000 weiter beschäftigt. Angesichts der im September und Oktober 1946 anstehenden Landtagswahl begannen in der Sowjetischen Besatzungszone dann alle Parteien einschließlich der SED, um die Gunst der früheren Parteigenossen zu werben. Der Anteil früherer NSDAP-Mitglieder in der öffentlichen Verwaltung stieg nun wieder an, Schlüsselstellungen wurden aber von SED-Mitgliedern besetzt.

Christoph Hölscher referierte abschließend zum Thema „NS-Verfolgte im ‚antifaschistischen Staat’ und in der Bundesrepublik – Wiedergut¬machungs¬praxis in Ost und West“. In der ersten Phase unmittelbar nach der Befreiung aus den KZs und der Entlassung aus den Zuchthäusern stand der soziale Versorgungscharakter (medizinische Betreuung, Lebensmittel) in Ost und West gleichermaßen im Vordergrund. Die Maßnahmen für die politisch Verfolgten wurden auf lokaler Ebene ergriffen. Für die politisch Verfolgten leitete sich daraus eine moralische Anerkennung ab, auf Grund derer sie eine politische Führungsrolle beanspruchten.

Eine gesamtdeutsche Option sollte zunächst auch in der Wiedergutmachungsfrage offen gehalten werden. Doch mit der Verschärfung des Kalten Krieges und der Stalinisierung der Sowjetischen Besatzungszone, in der die Herrschaftssicherung wichtiger als die gesamtdeutsche Perspektive wurde, koppelten sich ab 1948 die Wiedergutmachungskonzepte in Ost und West von einander ab. In der DDR bildete sich die klar umrissene, mit besonderen Privilegien bei der sozialen Versorgung und den Renten ausgestattete Gruppe der (insbesondere den Arbeiterparteien angehörenden) politisch Verfolgten des Naziregimes heraus. Diese Gruppe sollte auch dem Legitimationsbedürfnis des Staates genügen, der das Erbe der Widerstandsopfer und NS-Opfer verkörpern wollte. In der Bundesrepublik fand dagegen der Versuch statt, durch individuelle Zahlungen eine Integration der Verfolgten in den Staat zu schaffen. Dies entsprach der schon vor Kriegsende von den Amerikanern formulierten Prämisse, auf keinen Fall eine Gruppe besser gestellter, von der Restbevölkerung getrennter Verfolgter oder Widerstandskämpfer schaffen zu wollen.

Die lebhafte Diskussion im Anschluss an die einzelnen Blöcke unterstrich die Relevanz des Themas, das gerade im Vergleich der unterschiedlichen Praxis in Ost und West neue Konturen gewann. Befruchtend wirkte sich der breit gefächerte Teilnehmerkreis aus, der neben der Diskussion von theoretischen Aspekten immer wieder auch Bezug auf konkrete Erfahrungen nahm.

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