Nationalsozialismus in der Region

Nationalsozialismus in der Region

Organisatoren
Institut für Schleswig-Holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte
Ort
Schleswig
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.11.2002 - 09.11.2002
Url der Konferenzwebsite
Von
Birte Claasen, Nils Köhler, Sebastian Lehmann

Konferenz des Instituts für Schleswig-Holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte am 8./9. November 2002 in Schleswig aus Anlass seines 10jährigen Bestehens

Die Gründung des Instituts für Schleswig-Holsteinische Zeit- und Regionalgeschichte (IZRG) an der Universität Flensburg vor einem Jahrzehnt war das Ergebnis beharrlichen Drängens außeruniversitärer Vereinigungen und Initiativen, dem im hohen Norden besonders augenfälligen Mangel an fundierten Regional- und Lokalstudien zur Vorgeschichte, zur Herrschaft und zur Nachgeschichte des NS-Regimes gezielt abzuhelfen. Dieses Defizit wog um so schwerer, als die besonders stark ausgeprägte territoriale Fragmentierung der politischen Kulturen in Deutschland auch mit Blick auf die NS-Zeit eine starke Gewichtung regionaler Einflussfaktoren nahe legt. Denn offenkundig sind die Beziehungen zwischen "den" Deutschen und "dem" Nationalsozialismus maßgeblich von der Kultur einzelner Regionen mit geprägt worden. Aus diesem Grunde besitzt nicht nur das Verhältnis von nationaler und regionaler Geschichte, von Zentrum und Peripherie eine besondere Relevanz, sondern ebenso der viel diskutierte Themenkomplex von Kontinuität und Diskontinuität in der deutschen Geschichte.

Seither haben die methodischen Erfordernisse sozialgeschichtlicher Untersuchungsansätze wie das alltags- und kulturgeschichtliche Interesse an einer Erarbeitung der NS-Geschichte des näheren Umfeldes die Zahl regional- und vor allem lokalgeschichtlicher Publikationen deutlich ansteigen lassen. Gleichwohl sind manche wichtigen Handlungsfelder und Gegenstandsbereiche, Regionen und Kommunen noch unzureichend erforscht. Überdies gibt es nur wenige Studien, welche längerfristige Entwicklungstrends über die politischen Zäsuren von 1933 und von 1945 hinweg untersuchen. Obwohl der Blick offenkundig weit über die Eckdaten der NS-Herrschaft hinaus reichen muss, um die Wechselwirkungen des langfristigen gesellschaftlichen Strukturwandels und spezifischer Auswirkungen nationalsozialistischer Herrschaftspraxis angemessen zu erfassen und zu gewichten, hat sich dieser Zugriff auf die deutsche (Regional-)Geschichte des 20. Jahrhunderts forschungspraktisch noch längst nicht auf breiter Front durchgesetzt.

Zur den inhaltlich wie methodisch schwer wiegenden Defiziten zählt weiterhin der Mangel an interregional vergleichenden Untersuchungen. Allzu häufig präsentiert sich die jeweilige Region als singulärer Ausnahmefall. Sie legt dann den Eindruck nahe, die unitarischen Aspirationen des Berliner Gewaltregimes hätten sich in der Fläche oftmals an regionalen Besonderheiten der politischen Kultur gebrochen, weshalb vor Ort jeweils die schlimmsten Exzesse unterblieben seien. Eine solche Darstellungsweise wird der polykratischen Dynamik des NS-Maßnahmestaates nicht gerecht. Tatsächlich haben radikalisierende Impulse aus allen möglichen Regionen und Institutionen dazu beigetragen, den Herrschaftsvisionen und Rassenobsessionen des "Führers" in besonderer Weise "entgegenzuarbeiten" (I. Kershaw). Von den Kritikern wurden und werden solche Beobachtungen nicht selten als Beleg einer umgekehrten Thesenbildung genommen: Das jeweilige Land, die jeweilige Region scheinen aus dieser kritischen Perspektive in besonderem Maße durch eine besonders rigide Herrschaftspraxis ihrer NS-Eliten und deren Fortwirken kontaminiert zu sein.

Jenseits solcher "Sonderweg"-Diskurse gilt es, die Aufmerksamkeit noch konsequenter auf die quellenmäßig belegbaren Ursachen von Modifikationen des "Normalfalls" im regionalen Maßstab zu lenken. Damit würde zugleich die Perspektive für jene hoch differenzierte und ambivalente, bisweilen auch widersprüchliche Wirklichkeit weiter geöffnet, welche sich hinter der Fassade des vermeintlich monolithischen, nur tendenziell totalitären Maßnahmestaates vor Ort entfaltet hat. Inwieweit ließen sich dort spezifische Traditionen und Wertesysteme für die gesellschaftliche und machtpolitische Durchsetzung des NS-Regimes in Dienst nehmen? Inwiefern hemmten sie diesen Durchsetzungsprozess in der Fläche? Wurden solche regionalen und lokalen Sonderkulturen durch Penetrationsversuche und Repressionsmaßnahmen der NS-Gewalten nachhaltig verändert oder gar planiert? Oder gehen solche - dann: mittelbaren - Effekte gegebenenfalls eher auf das Konto der Kriegs- und Expansionspolitik NS-Deutschlands?

Dass Regionaluntersuchungen erst in Form einer komparativen Analyse zu generalisierbaren Aussagen über die Funktionsweise des NS-Herrschaftsgefüges und die Sozialgeschichte der NS-Zeit von nationaler Reichweite führen können, ist im Grundsatz kaum noch strittig. Freilich stehen solchen Vorhaben in aller Regel personelle, finanzielle und forschungspraktische Hemmnisse entgegen. Umso dringlicher ist es, die jeweiligen Einzelforschungen methodisch so anzulegen, dass spätere Untersuchungen über andere Regionen daran anschließen können. Nur auf diesem Wege können kumulativ Ansatzpunkte für systematische Sekundäranalysen in vergleichender Absicht geschaffen werden. Unerlässliche Voraussetzung dafür ist zum einen die Kenntnis dessen, was anderwärts geschieht; zum anderen bedarf es eines interregionalen Austausches über angemessene Erkenntnisziele und Forschungsstrategien wie auch über Desiderata auf dem Gebiet der regional- und lokalhistorischen NS-Forschung.

Die Schleswiger Konferenz konnte und sollte dazu nur einen eng begrenzten Beitrag leisten. In seinem Tagungsexposée hatte Prof. Dr. Michael Ruck (Schleswig/Flensburg) es als das vorrangige Ziel der Organisatoren beschrieben, vor dem Hintergrund des mittlerweile erreichten Forschungsstandes einige Anregungen darüber zu gewinnen, wo es sich besonders lohnen könnte, intensiver weiter zu forschen. In diesem Sinne sollten sich die Referate und Diskussionen auf drei Schwerpunkte konzentrieren: Zunächst sollte aus theoretischer und forschungspraktischer Sicht eine Zwischenbilanz der methodischen Probleme und sachlichen Erkenntnischancen gezogen werden, die sich nach gut zwei Jahrzehnten intensiver Forschungen zur Regionalgeschichte der NS-Herrschaft schwerpunktmäßig abzeichnen. Dann sollte grundsätzlich und am Beispiel von einzel- und gruppenbiographischen Fallstudien zu nordwestdeutschen Gau- und Kreisleitern der NSDAP die Schlüsselfrage erörtert werden, welchen Einfluss das personale Element auf die regionale Herrschaftswirklichkeit der Jahre 1933 bis 1945 gehabt hat. Schließlich sollte das Problem der Kontinuität über diese Zäsuren hinweg in den Mittelpunkt der Diskussionen rücken: einerseits am Beispiel eines Wissenschaftlers und einer bislang wenig beachteten Gruppe der kulturellen Eliten, andererseits an Hand von Fallstudien zur regionalen und kommunalen Festkultur.

Das IZRG hat seinen Sitz praktischer Weise in unmittelbarer Nachbarschaft des Schleswig-Holsteinischen Landesarchivs. Dessen Räume standen für die Tagung zur Verfügung. In seiner Eröffnungsansprache erinnerte der geschäftsführende Direktor des IZRG, Prof. Dr. Robert Bohn, kurz daran, dass die Gründungsveranstaltung des Instituts 1992 dort zu einer Zeit stattgefunden habe, als in anderen Bundesländern die NS-Forschung an entsprechenden Forschungseinrichtungen oder Hochschulinstituten längst einen festen Platz gefunden hatte. Umso größere Erwartungen richteten sich im Lande an die neue Institution. Im IZRG selbst stand von Beginn an außer Zweifel, dass nur eine komparativ ausgerichtete, theoretisch wie methodisch reflektierte Regionalgeschichte den Anforderungen an eine moderne NS-Forschung gerecht werden könne. Deshalb waren und sind die Projekte des Instituts durchweg in einen wissenschaftlichen Diskurs und in Kooperationsbeziehungen eingebunden, der beiderseits weit über Schleswig-Holstein hinaus reicht. Daneben sind im IZRG regelmäßig auch - kurzfristig und intensiv - zeitgeschichtliche Themen aufgearbeitet worden, die aktuell weit oben auf der zeithistorische Agenda standen. Als Beispiele nannte Bohn das Jugendbuch "Erzählt es euren Kindern", das seit 1999 jährlich zum Holocaust-Gedenktag an den Schulen des Landes verteilt wird, sowie mehrere Gutachten über Zwangsarbeitende in Schleswig-Holstein, die unlängst in Buchform veröffentlicht wurden. Es gehört zum spezifischen Auftrag und Selbstverständnis des IZRG und seiner Mitarbeiter, die Ergebnisse aller dieser Forschungsaktivitäten selbst zeitnah und offensiv nach außen zu tragen. In seinem Vorspruch zu den eigentlichen Verhandlungen der Konferenz bekräftigte Prof. Dr. Uwe Danker (Schleswig/Flensburg) nochmals, dass sämtliche bearbeiteten Themen jeweils über regionale Zeitungen, andere Massenmedien oder Broschüren der Landeszentrale für politische Bildung sowie über Vortrage, Seminare und Volkshochschulen in die Gesellschaft kommuniziert würden. Nicht zuletzt auch dank dieser Öffentlichkeitsarbeit hat sich das Institut während der zehn Jahren seiner bisherigen Existenz von einem zunächst durchaus umstrittenen landespolitischen Projekt zu einem wissenschaftlichen Modell entwickelt, dessen erfolgreiche Arbeit nicht nur in Schleswig-Holstein breite Anerkennung und Unterstützung finde. Dieses Fazit des geschäftsführenden Direktors Bohn wurde von der Ministerin für Bildung, Wissenschaft, Forschung und Kultur ausdrücklich aufgenommen und bestätigt. Ute Erdsiek-Rave erklärte gleich zu Beginn ihrer Festrede, welche - am Vorabend des 9. November - eingehend die aktuellen Prioritäten des Umganges mit der NS-Vergangenheit in den Blick rückte, dass dafür ihr wichtigster Partner im Lande das IZRG in Schleswig sei. Der Rektor der Universität Flensburg, Prof. Dr. Heiner Dunckel, unterstrich ebenfalls den hohen Stellenwert, den die Hochschule gerade auch dieser öffentlichen Rolle ihres An-Institutes zumesse.

Der thematische Einstieg in die Konferenz erfolgte über den Komplex "theoretisch-methodische Chancen und Probleme regionalgeschichtlicher Forschung zur NS-Zeit". Dr. Claus-Christian Szejnmann (Leicester) behandelte das Thema aus der theoretischer Perspektive. Der Region komme bei der Erklärung und Deutung gesellschaftlicher Entwicklungen entscheidende Bedeutung zu. Die regional sehr unterschiedlichen Ergebnisse der NSDAP bei der Wahl von 1932 seien dafür nur ein Beispiel. Mit welchem theoretischen Ansatz können diese regionalen "Sonderwege" erklärt werden? Nach Ansicht Szejnmanns liegt die Antwort in einer komparativ angelegten regionalhistorischen Forschung. Allerdings ergäben sich aus dem regionalgeschichtlichen Zugriff neben zahlreichen Vorteilen auch Probleme. Im Gegensatz zur Bezugsgröße "Land" - als einer festumrissenen, operationalisierbaren Größe - seien Regionen eben nicht konstant, sondern steten Veränderungen unterworfen. In Regionen spiegele sich die lokale Orientierung der Bevölkerung. Szejmann verdeutlichte, dass die Nationalsozialisten sich dieser Orientierung anpassen mussten, um Flächen deckend erfolgreich zu sein. Deshalb erscheine ein doppelter regionalgeschichtlicher Blick auf die Partei - von oben wie von unten - besonders ergiebig. Dabei müsse vergleichend vorgegangen und - fokussiert auf strukturelle Gemeinsamkeiten - Ähnlichkeiten, Kontraste und Wirkungen von regionalen Kontexten auf das dortige Wirken der NSDAP herausgearbeitet werden. Unter der essentiellen Voraussetzung des Vergleichs könne ein differenzierteres, umfassenderes Bild entstehen.

In dem Konzept sozialmoralischer Milieus (M. R. Lepsius) sieht Szejnmann ein besonders geeignetes Instrument, regionalgeschichtliche Forschung vergleichend anzulegen. Dies nicht zuletzt, weil das Milieukonzept die kulturelle Dimension ausdrücklich einbeziehe. Er unterstrich die für diesen Zusammenhang größere Bedeutung von kultureller Charakteristik, Mentalität und Lebensführung im Vergleich zum sozialen Hintergrund. Ein weiterer Vorteil liege in der Flexibilität des Milieukonzepts. Im Gegensatz zu Begriffen wie "Konfession" oder "Klasse" würden hier Überschneidungen, Wechselwirkungen und Konflikte ganz unterschiedlicher Einflussfaktoren auf die Verhaltensdispositionen und das tatsächliche Verhalten der Menschen betont. Als prioritär zu schließende Forschungslücken benannte Szejnmann den Bereich des konservativ-liberalen Milieus, das bisher weitgehend ignoriert worden sei, sowie die Frage nach den gesellschaftlichen Bedingungen der nationalsozialistischen Mobilisierungserfolge und ihre nachhaltig destruktiven Wirkungen auf verschiedene regionale und lokale Milieus. Weiterhin klärungsbedürftig seien ferner zentrale methodische Probleme des interdisziplinären Vorgehens - etwa die analytische Verknüpfung von Milieustudien und biographischen Ansätzen. Theoretisch-methodische Grundlage solcher Forschungen sollte ein komparativ angelegter regionalgeschichtlicher Zugriff sein, der sich dazu auf das Milieukonzept stützt. Dabei habe "topical" statt "general history" das Leitbild zu sein. Durch gezieltes Freilegen individueller und kollektiver Verhaltensweisen könne so ein tiefenschärferes, komplexes Bild der Lebens- und Herrschaftswirklichkeit während der NS-Zeit entstehen.

Prof. Dr. Michael Kißener (Mainz) erörterte das Thema aus der forschungspraktischen Perspektive. Zunächst wies er auf den im Vergleich zur nationalen Ebene wesentlich größeren Umfang der regionalen Quellenbestände hin. Diese würden oftmals nur zum Schließen quellenbedingter Lücken auf der nationalen Ebene herangezogen. Nach Ansicht Kißeners entfalten solche Quellen aber nur dann ihre volle Aussagekraft, wenn sie in ihrer regionalen Entstehungsgeschichte ernst genommen würden. Dann ergäbe sich ein präziserer Einblick in historische Entwicklungen. Kißener erläuterte seine These am Beispiel eines Forschungsprojekts, das er noch an der Forschungsstelle für die Geschichte des Widerstandes im deutschen Südwesten an der Universität Karlsruhe durchgeführt hat. Dort wurde eine Kollektivbiographie aller badischen Richter von der späteren Weimarer Republik bis in die frühen Nachkriegsjahre erstellt. Nach einer Totalerhebung des Samples wurden alle irgendwie verfügbaren personenbezogenen Quellen ermittelt und ausgewertet. Bemerkenswert sei die Vielzahl von Hinweisen auf überregionale Zusammenhänge, die im Zuge dieser Suche nach regionalen Zeugnissen angefallen seien. Auch deshalb lohnten sich die Mühen der breitangelegten Quellenrecherchen im Untersuchungsgebiet. Die Zusammenschau verschiedenster Quellen - einschließlich privater Nachlässe und der Befragung von Zeitzeugen - lasse ein vielschichtiges Bild der Untersuchungsgruppe als Ganzes wie auch einzelner Personen entstehen. Andererseits seien Menge, Heterogenität und Widersprüchlichkeit der ermittelbaren Informationen eine besondere Herausforderung für eine stringente Analyse. Überdies seien regionalhistorische Studien dieses Zuschnitts vor allen aufgrund der unterschiedlich angelegten Untersuchungsdesigns schwer vergleichbar. In der Forschungspraxis werde man sich häufig nur impressionistisch auf Ähnlichkeiten beziehen können. Umso nachdrücklicher plädierte Kißener deshalb für vergleichend angelegte Studien einschließlich der gemeinsamen Entwicklung von Datenbanken und für eine engere Zusammenarbeit bei der Erforschung größerer Zusammenhänge im Sinne von "topical history".

Prof. Dr. Dirk Stegmann (Lüneburg) unterstrich in seinem Kommentar die nicht nur aus disparaten Quellenlagen, sondern auch aus mangelnder Kooperation resultierenden Probleme in der Forschungspraxis. Dringend nötig seien verstärkte Absprachen bei der Anlage von Untersuchungen mit dem Ziel einheitlicher oder kompatibler Forschungsdesigns bei gleichzeitiger Ergebnisoffenheit. Darüber hinaus appellierte Stegmann an die einschlägige Forschung, die Region selbst verstärkt ins Blickfeld zu rücken und dabei deren Entstehung und Definition intensiver zu diskutieren.

Die Debatte konzentrierte sich zunächst auf die Frage, inwieweit das Milieukonzept für die Erklärung und Deutung von Entwicklungen nach 1933 erklärungskräftig sein kann. Hilft dieser Ansatz die milieuübergreifende Zustimmung zur NSDAP hinreichend zu erklären? Es wurde herausgestellt, dass zwar seit 1933 die Individualisierung im Zeichen totalitärer Volksgemeinschaftspropaganda und der weitgehenden Ausschaltung intermediärer Institutionen die Gruppenkohäsion erodieren ließ, zumindest die Kernmilieus den Nationalsozialismus gleichwohl überdauerten und nach 1945 in bemerkenswertem Umfang wieder auf den Plan treten konnten. Milieuzentrierte Untersuchungsansätze seien vor allem bei langfristig angelegten Studien von hohem analytischen Wert. Freilich erklären sie eher beharrende als dynamische Tendenzen. Aus Sicht der Praxis stelle die Definition des "Milieus" ein schwer lösbares Problem dar. Das Milieukonzept sollte daher eher als Forschungsleitbild denn als stets operationales Konzept betrachtet werden, brachte Kißener den Tenor der Diskussion auf den Punkt.

In der zweiten Sektion gab Dr. Thomas Etzemüller (Tübingen/Hamburg) zunächst einen problemorientierten Überblick über die wesentlichen theoretischen und methodischen Ansätze biographischer Forschungen. Dabei stellte er deren besonderen Erkenntniswert für die Erforschung des Nationalsozialismus heraus.

Prof. Dr. Uwe Danker (Schleswig/Flensburg) erläuterte seine methodischen Vorüberlegungen zu einer Biographie des schleswig-holsteinischen NSDAP-Gauleiters Hinrich Lohse. Der war 1925 zum Gauleiter ernannt worden und amtierte seit März 1933 auch als Oberpräsident dieser preußischen Provinz. Nach dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion wurde ihm 1941 zusätzlich der Posten eines Reichskommissars im "Ostland" übertragen. Von Riga aus organisierte Lohse mit 5.000 Mitarbeitern seiner Zivilverwaltung, darunter nicht wenigen Schleswig-Holsteinern, die Ausbeutung und Vernichtung der Juden in seinem großräumigen Zuständigkeitsbereich maßgeblich mit. 1944 flüchtete er nach Schleswig-Holstein und war dort nach seiner Internierung im Mai 1945 bis 1951 inhaftiert. Danker zeichnete das Bild eines mäßig begabten, kleinbürgerlichen Aufsteigers, der zwar nie der eigentlichen NS-Führung angehörte, sich aber über zwanzig Jahre unangefochten in der "zweiten Reihe" behaupten konnte. In diesem Zusammenhang betonte er die Selbstwahrnehmung Lohses, der sich vor allem als politischer Kämpfer definierte. Durch Anpassung, Fleiß und eine Reihe "richtiger" Entscheidungen erkämpfte und verteidigte er seine "Elitenzugehörigkeit", die er (sich) immer wieder neu beweisen musste. Im Herbst 1941 wurde der frisch ernannte Reichskommissar auf dem Zenit seiner politischen Karriere mit der Judenvernichtung konfrontiert. Danker verwies mit Nachdruck auf Lohses widersprüchliche Haltung: der antisemitische "alte Kämpfer" zeigte im Angesicht des Massenmords unverkennbare Skrupel, funktionierte aber weiter, wenngleich ihn Schuldgefühle plagten. Er beschränkte sein Mitwirken bald auf die "rechtmäßigen Teile" des Vernichtungsgeschehens. An dieser selektiven Selbstdeutung seines eigenen Handelns hielt der vormalige Gauleiter und Reichskommissar auch nach dem Krieg konsequent fest.

Die NSDAP-Kreisleiter in Schleswig-Holstein standen im Mittelpunkt der Betrachtung des folgenden Vortrags. Sebastian Lehmann M.A. (Schleswig/Flensburg) erörterte die Möglichkeiten eines sammelbiografischen Ansatzes und beschrieb die unterschiedlichen Möglichkeiten der Ausübung und Charakterisierung des Amtes am Beispiel der Kreisleiter von Eiderstedt und Stormarn. In ihrer Gegensätzlichkeit bildeten Otto Hamkens und Erich Friedrich die Eckpunkte des Spannungsbogens der 81 ermittelten Amtsinhaber im Gau zwischen 1927 und 1945. Anhand der Skizzierung der Lebensläufe und der Einordnung dieser beiden Kreisleiter in die Gesamtgruppe demonstrierte Lehmann sein methodisches Vorgehen. Sodann skizzierte er auf der Grundlage seiner Auswertung der - teils disparaten - Quellen ein Sozialprofil der schleswig-holsteinischen Kreisleiter, deren Riege sich aus Juristen, Großgrundbesitzern und Arbeitern, vor allem aber aus Angehörigen der unteren Mittelschicht zusammen setzte. Lehmanns vorläufiger Befund deutet darauf hin, dass sich das Kreisleiterkorps offenbar bei aller Heterogenität nicht nur als eine geschlossene Machtelite verstand, sondern auch als eine klar definierte und identifizierbare Gruppe innerhalb des NS-Herrschaftsgefüges agierte.

Dr. Wolfgang Stelbrink (Soest) zeichnete ein ähnliches Bild der NSDAP-Kreisleiter in den Gauen Westfalen-Nord und -Süd. Seine Kollektivbiographie rückt die Sozialprofile der NS-Repräsentanten auf Kreisebene ebenfalls in den Vordergrund. Generell stellte er die bemerkenswert hohe Fluktuation der Amtsinhaber heraus. Im Anschluss an die Machtübernahme kam es zu einer tiefen personellen Zäsur, da zahlreiche Kreisleiter in den Staatsdienst wechselten. Stelbrink charakterisierte das in der Nachkriegszeit entworfene Bild der unfähigen "Goldfasane" als Versuch der Verschleierung, stammte doch die große Mehrheit der Kreisleiter aus der Mitte der Gesellschaft. Die Analyse der in den 1950er Jahren ausgeübten Berufe führt zu der Erkenntnis, dass zwar nur jedem neunten Ex-Kreisleiter ein beruflicher Aufstieg gegenüber seiner vor 1933 ausgeübten Tätigkeit gelang; allerdings erlebte nur jeder zehnte einen professionellen Abstieg. Den meisten ehemaligen Kreisleitern gelang der zügige Wiedereinstieg in eine bürgerliche Existenz - die Ausübung eines prominenten politischen Amtes im NS-Staat spielte in dieser Hinsicht schon wenige Jahre nach dem Krieg keine Rolle mehr. Durchgängige Deklassierungserfahrungen blieben mithin dieser regionalen Schlüsselgruppe des NS-Herrschaftsapparates weitgehend erspart.

In seinem Kommentar bemerkte Dr. Frank Bajohr (Hamburg) mit Blick auf die Ambivalenzen des Gauleiters und Reichskommissars Lohse, dass stringente Biographien sich bei näherem Hinsehen nicht selten als stringente Konstruktionen entpuppen, die mehr oder minder umstandslos an die (retrospektiven) Selbstdeutungen der jeweiligen Protagonisten anknüpfen. Die vorgestellten Sammelbiographien von NSDAP-Kreisleitern wiesen von ihrer Anlage her deutlich über einschlägige Arbeiten hinaus, deren primär sozialstatistische Fundierung ein allzu statisches Bild erzeuge. Die Einbeziehung der regionalen Personalpolitik und der - nicht zuletzt symbolisch vermittelten - Gruppenzusammenhänge sei offensichtlich geeignet, dieses Bild realitätsnah zu dynamisieren. Ein Forschungsdesiderat sei und bleibe freilich die Rolle der Kreisleiter in der alltäglichen Herrschaftspraxis. Einerseits gebe es mancherlei Hinweise darauf, dass die notorische Korruptionsanfälligkeit der NS-Funktionäre auf dieser mittleren regionalen Ebene eher schwächer ausgeprägt war, als auf der lokalen und der Gauebene. Andererseits treffe der generelle Befund zu, dass die nicht zu leugnende Massenloyalität gegenüber dem Regime trotz, nicht etwa wegen der Existenz dieser Leute so anhaltend hoch blieb. Bajohr formulierte dazu die Hypothese, dass ein regional und lokal wie auch persönlich spezifischer Mix aus professioneller Verwaltungsroutine, sozialpopulistischer Attitüde - auch als Surrogat der liquidierten Repräsentationsinstanzen - und Gewalt(drohung) die Position der Kreisleiter im regionalen Kräftefeld der NS-Herrschaft ziemlich stabil zu halten vermochte.

Die Diskussion kreiste zum einen um das Problem, die widersprüchlichen Befunde vorliegender Studien zum Tätigkeitsprofil der Kreisleiter methodisch angemessen miteinander zu vergleichen. Zum wurde die Qualität jener gesellschaftlichen Reintegration in ihr bisheriges regionales Umfeld erörtert, welche diese - durch Selbsttötungen kaum dezimierte - Gruppe seit den späten 1940er Jahren weithin erlebte. Aus seinen eigenen Forschungserfahrungen im Südwesten heraus gab Michael Kißener zu bedenken, ob nicht zutreffender von "hinnehmender Ignorierung" als von gesellschaftlicher "Integration" dieser NS-Protagonisten gesprochen werde solle.

In seinem öffentlichen Abendvortrag über "Die Bedeutung der regionalen Zeitgeschichte heute" setzte sich Prof. Dr. Karl Heinrich Pohl (Schleswig/Kiel) mit der gesellschaftlichen Verantwortung der Geschichtswissenschaft insgesamt auseinander. Er betonte dabei insbesondere die wichtige Rolle von Regional- und Zeitgeschichte. In diesem Kontext mahnte er an, mit den Ergebnissen der wissenschaftlichen Forschung auf die Öffentlichkeit zuzugehen, deren Fragen und Bedürfnisse ernst zu nehmen und die Verantwortung für die historische Aufklärung nicht in erster Linie "Fernseh- und Zeitungshistorikern" zu überlassen.

Der zweite Tag der Konferenz stand unter der Überschrift "Kulturelle Kontinuitäten und Brüche in Regionen zwischen Demokratie und Diktatur". Den Auftakt bildete ein Diskussionsbeitrag von Jean-Christoph Caron M.A. (Bielefeld) zur Relevanz der kulturwissenschaftlichen Perspektive in der regionalen NS-Forschung und zur Reichweite ihrer spezifischen Deutungsmuster. Exemplarisch betonte er den forschungspraktischen Wert regionaler Quellenbestände für die Interpretation des Verhältnisses von Zentrum und Peripherie als symbolische Kommunikationssituation.

Dr. Beate Meyer (Hamburg) erläuterte am Beispiel des "Rasseanthropologen" Prof. Dr. Hans Weinert die Kontinuitäten und Brüche eines zur "Leitdisziplin" avancierten Faches und eines ihrer weniger prominenten Vertreter zwischen Weimar und der Bundesrepublik. Von einzelnen Größen des Faches protegiert erlebte Weinert die Aufwertung der "Rasseanthropolgie" zu einer der zentralen Legitimationswissenschaften des NS-Regimes als persönliche und - vermittels seiner ausufernden "rassebiologischen" Gutachtertätigkeit - auch als finanzielle Erfolgsgeschichte. In der frühen Bundesrepublik behielt er seinen Lehrstuhl für "Erbbiologie" in Kiel wie auch seine Funktion als Gutachter bis zu seiner Emeritierung 1955. Selbst eine ernst zu nehmende Anzeige wegen sexuellen Missbrauchs beschädigte seine Karriere nur marginal, ohne sie zu beenden. Verantwortlich dafür war nicht so sehr seine Außenseiterposition in der wissenschaftlichen Community; vielmehr waren es auch hier zuvörderst regionale Elitennetzwerke, die eines ihrer kompromittierten Mitglieder vor gesellschaftlichen und strafrechtlichen Sanktionen bewahrten.

Diplomarchitekt Ulrich Höhns (Schleswig) richtete in seinem Vortrag über "Architekten in Schleswig-Holstein in den 1920er und 1930er Jahren" den Fokus auf eine kleine künstlerisch-technische Elite, welche die Errungenschaften der Moderne über die politische Zäsur von 1933 weiterführten. Dabei zeigte Höhns anhand von Lebensläufen einiger schleswig-holsteinischer Architekten einerseits und an einer Reihe ihrer Bauten andererseits, wie die Moderne in der Architektur und auch im Städtebau sich ihr Nischendasein parallel zu der auch zuvor schon dominanten, nun vom Nationalsozialismus vereinnahmten Heimatschutzarchitektur bewahren konnte.

Katrin Minner M.A. (Halle/S.) lieferte mit ihrem Beitrag über "Ortsjubiläen in Sachsen-Anhalt und Westfalen im 20. Jahrhundert" einen komparativen Längsschnitt der Entwicklung lokaler Festkultur vom Kaiserreich bis weit in die nationalsozialistische Herrschaftszeit hinein. Diente die Feier der Jubiläen den lokalen Eliten zunächst - neben der nach innen gerichteten Identitätsstiftung - vor allem auch zur Selbstdarstellung der "Erfolgsgeschichte" des bürgerlichen Lebensmodells, so zeigte sich nach 1933 eine - keineswegs abrupte - Überformung der Feiergestaltung durch die Nationalsozialisten. In Form und Inhalt wandelte sich die Darstellung bürgerlichen Selbstverständnisses allmählich in eine Präsentation der NS-"Heilsgeschichte". Kontinuitäten in der Zusammensetzung der Festkomitees sollten dabei den schleichenden Bedeutungsverlust traditioneller Eliten verschleiern helfen. Gleichzeitig zielten Wettbewerbe zur Festgestaltung darauf, gesellschaftliche Akzeptanz auf breiter Basis zu schaffen.

Dr. Ralph Trost (Baden-Baden/Flensburg) spannte in seinem Vortrag über "Lokale Vereinskultur am Niederrhein vom Kaiserreich bis zur NS-Zeit - das Beispiel Xanten." zeitlich einen ähnlich weiten Rahmen. Er belegte die grundsätzlich hohe milieustabilisierende Wirkung der - in dem von ihm betrachteten Untersuchungsraum überwiegend konfessionell festgelegten - Vereine bis über das Jahr 1933 hinaus. Allerdings offenbarten insbesondere die Heimatvereine und Schützenvereinigungen schon frühzeitig eine hohe inhaltliche Anschlussfähigkeit an das NS-Regime. Deshalb konnten dessen Repräsentanten vor Ort einstweilen auf die organisatorische Zerschlagung der Vereinskultur verzichten. Statt dessen wurde die bürgerlichen Vereine überwiegend durch Integration in die lokalen und regionalen Inszenierungen der NS-Volksgemeinschaft und durch personelle Penetration für die gesellschaftliche Fundierung der NS-Herrschaft nutzbar gemacht. Ungeachtet dessen stilisierten sich die weiter bestehenden Vereine nach dem Krieg zumeist als Opfer der NS-Repression. Freilich lässt die personelle Besetzung der Vereinsvorstände mit ehemaligen NS-Funktionsträgern das Jahr 1945 kaum als eine markante Zäsur hervor treten.

In seinem Kommentar fächerte PD Dr. Karl Ditt (Münster) zunächst den Kulturbegriff auf: Hochkultur, Kultur der Avantgarde und Moderne, Heimat- und Volkskultur, Arbeiter(bewegungs)kultur, Massenkultur. Mit diesem hochdifferenzierten kulturellen Bestand seien das NS-Regime und seine Protagonisten in der Fläche durchaus selektiv umgegangen. Vor dem Hintergrund einer durchgehenden Verabsolutierung des Rassegedankens wurde die traditionelle Ereigniskultur für politisch neu aufgeladene Inszenierungen von Öffentlichkeit genutzt, während andere Kulturen ausgeblendet wurden. Das Beispiel der (architektonischen) Avantgarde zeige, dass dies nicht durchgängig auf jene vollständige Liquidierung hinaus laufen musste, wie sie die Arbeiterbewegungskultur erlitt. Alltagspraktisch wurde der totalitäre Herrschaftsanspruch eben mit durchaus selektiver Rigidität zur Geltung gebracht.

Im Verlauf der Diskussion wurde mehrfach auf jene symbolischen Anknüpfungspunkte abgehoben, welche die bürgerlich-nationale Formensprache in der Festkultur und im Vereinswesen wie auch in der Architektur den Protagonisten des NS-Regimes gerade auch im lokalen und regionalen Umfeld bot. Sie gaben vor Ort den Rahmen ab für je spezifische Herrschaftsarrangements zwischen den alten Führungsschichten und den neuen Machteliten auf der Basis von kulturell vermittelten Interessenkompromissen. Umstritten blieb hingegen der Grad nachhaltiger Diskreditierung, welche die hergebrachte Heimatkultur durch ihre Indienstnahme unter NS-Auspizien während der Nachkriegsjahrzehnte erfuhr. In methodischer Hinsicht hoben die Diskutanten einhellig den offenkundig hohen, noch längst nicht ausgeschöpften Erkenntniswert visueller Quellen (Filme, Fotos) für die Ästhetisierung der Politik im Nationalsozialismus unterhalb der Ebene Goebbelscher Großinszenierungen hervor.

In seinem Schlusswort verband Michael Ruck den Dank für die engagierten Referate und Debatten mit der Ankündigung, dass der facettenreiche Ertrag dieser Konferenz im Herbst 2003 in Buchform zur weiteren Diskussion gestellt werde.


Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts