Identität und Krise? Konzepte zur Deutung vormoderner Selbst-, Fremd- und Welterfahrungen

Identität und Krise? Konzepte zur Deutung vormoderner Selbst-, Fremd- und Welterfahrungen

Organisatoren
Christoph Dartmann (Münster); Carla Meyer (Heidelberg)
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
29.06.2006 - 30.06.2006
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Von
Andrea Briechle, Historisches Seminar, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Eine Debatte über „Identität und Krise“ erscheint nicht nur in Zeiten brisant, in denen das Potenzial des Fußballs für die Identitätsstiftung ausgelotet wird. Ausgehend von der Präsenz eines oft nur unscharfen Identitätsbegriffs im wissenschaftlichen wie außerwissenschaftlichen Diskurs der Gegenwart fand am 29. und 30. Juni in Münster die Tagung „Identität und Krise? Konzepte zur Deutung vormoderner Selbst-, Fremd- und Welterfahrungen“ statt.

Unter der organisatorischen Leitung von Christoph Dartmann (Münster) und Carla Meyer (Heidelberg) problematisierten Referierende der mittelalterlichen wie frühneuzeitlichen Geschichte, Kunstgeschichte, Religionswissenschaft und Philologie die Tauglichkeit des Konzeptes „Identität“ für kulturwissenschaftliche Forschungen. Die Beiträge und die rege Diskussion, die auch durch einen im Vorfeld bereitgestellten „Reader“ mit theoretischen Texten zum Identitätsbegriff angeregt wurde1, argumentierten auf der gemeinsamen Grundlage, dass essentialistische Vorstellungen zur Identität keine Rolle mehr spielen können: Identität hat man nicht, sie wird stets neu ausgehandelt und in konkreten historischen Situationen aktualisiert. Maßgeblich erscheint dabei die bewusste Reflexion, durch die Wahrnehmungen der Wirklichkeit in das Selbstverständnis integriert werden. Über den Anlass für die notwendige „Identitätsarbeit“ herrschte weniger Klarheit. So wurden unterschiedliche Paradigmen wie Krisen oder die Erfahrung von Alterität als Anlass zur Verschriftlichung von „Identität“ an den Quellen erprobt.

Ein erster inhaltlicher Block setzte sich mit städtischen kollektiven Identitäten auseinander. Christoph Dartmann (Münster) ging der Frage nach, inwieweit „kollektive Identität“ als Konzept für die Erforschung symbolischer Kommunikation nutzbar zu machen ist. Anhand der Historiografie wie auch der rituellen Praktiken italienischer Kommunen verfolgte er Versuche städtischer Selbstvergewisserung, die aus akuten Krisensituationen erwuchsen. Als instruktives Beispiel analysierte er einen feierlichen Friedensschluss unter Beteiligung des Klerus und der Bürger von Genua, der einen zwischen 1164 und 1169 unter Mitgliedern der städtischen Führungsschicht eskalierten Streit beilegen sollte. Konsuln und Erzbischof nutzten dabei Symbole mit hohem integrativen Potenzial wie die Reliquien Johannes’ des Täufers, um den Streitparteien die Versöhnung als einzige Handlungsoption nahe zu legen. Im Diskurs wie in den performativen Akten wird die Bemühung deutlich, die gemeinsamen Grundlagen des Kollektivs zu definieren. Solche Prozesse des Entwerfens kollektiver Identitäten lassen sich zwischen dem 11. bis 14. Jahrhundert in kommunalen Überlieferungen nachzeichnen, die gemeinhin als Belege für das besondere Selbstverständnis der Städte gedeutet wurden. Entscheidend ist – so Christoph Dartmann –, dass diese Identitätsentwürfe jedoch erst durch mehr oder weniger subtile Machtausübung gegen alternative Optionen durchgesetzt wurden.

Ruth Schilling (Berlin) nahm Venedigs Reaktionen auf die Schlacht von Lepanto und den Sieg gegen die Osmanen von 1571 in den Blick. Der durch die Zusammenarbeit der spanischen, päpstlichen und venezianischen Flotte errungene gesamt-katholische Sieg war schwer in das eigene Selbstbild zu integrieren. Aufgrund der politischen Situation stilisierte sich die Lagunenstadt üblicherweise als autonome, zwischen den anderen Mächten stehende politische Kraft. Im unmittelbaren Anschluss an die Siegesnachricht kam es laut zahlreichen Berichten zwar zu spontanen Äußerungen universal-christlicher Begeisterung und Verbrüderung. Das Gedenken an Lepanto wurde jedoch bald in städtische Kontexte integriert, indem die Erinnerungsfeierlichkeiten durch eine jährliche Prozession des Dogen zur Kirche der Tagesheiligen Santa Giustina in das venezianische Prozessionswesen eingebaut wurden. Das an die heilige Maria geknüpfte päpstlich-habsburgische Gedenken konnte sich in Venedig dagegen nicht durchsetzen.

Um städtische Selbstbilder in ihrer materiellen Ausformung ging es Zita Ágota Pataki (Leipzig), die bei der Untersuchung der zwischen 1457 und 1480 entstandenen Illustrationen zur Augsburger Meisterlin-Chronik nach deren identitätsstiftenden Funktionen fragte. Durch die Auswahl der zur bildlichen Darstellung gewählten Passagen der Chronik wurden bei den Adressaten, die im Umfeld des Augsburger Rates zu verorten sein dürften, gezielt Erinnerungen angesprochen, die sich etwa mit den Themenfeldern des städtischen Ursprungs, der Kaisertreue Augsburgs und der Christianisierung umreißen lassen. Die Bilder zeigten ein Idealbild der Stadt, das zur Bestärkung der Augsburger Gemeinschaft dienen konnte, indem sie die Handlung der Bürger als Gruppe innerhalb der Stadt oder bei der Abwehr der Feinde vor den Mauern kontextualisierten. Als „Bürger der Stadt“ treten dabei Repräsentanten des Augsburger Patriziats in den Darstellungen auf.

Christian Schneider (Heidelberg) brachte den Hof als weiteren Raum kollektiver Identitätsbildung in die Diskussion. Am Beispiel der im Umfeld des Hofes Herzog Albrechts III. von Österreich (1365-1395) entstandenen Preisgedichte Peter Suchenwirts zeigte er auf, wie die Texte auf die Inszenierung einer kohärenten kollektiven Identität im tatsächlich eher instabilen Kommunikationsgefüge des Hofes zielten. Als in dieser Form neues Element der Dichtung des 14. Jahrhunderts und insbesondere Peter Suchenwirts rekurrieren die Texte zwar auf reale zeithistorische Ereignisse. Doch motivieren sie die Handlungen der in den Gedichten verherrlichten Protagonisten nicht politisch, sondern führen sie auf topische höfische Verhaltensmuster zurück. Die superlative Häufung höfischer Begriffe wie „trew unde tzucht, milt unde scham“ diene laut Schneider nicht der individuellen Kennzeichnung der Gepriesenen, sondern verweise auf deren Zuordnung zu einer sozialen Schicht. Die Exempelhaftigkeit der Text lege die Demonstration eines gesellschaftlichen Selbstdeutungskonzeptes nahe, das gerade in der stereotypischen Wiederholung des höfischen Wertekanons aufscheine.

Die Bedeutung des in der klinischen Psychologie entwickelten Konnexes zwischen Krise und Identitätsbildung für kulturwissenschaftliche Kontexte hinterfragte Carla Meyer (Heidelberg) in einer Analyse Nürnberger Stadtlobgedichte von Hans Rosenplüt und Hans Sachs. Nürnbergs Geschichte lasse sich als Geschichte aus der Krise heraus schreiben, die zur ständigen Selbstvergewisserung geführt habe. So können auch bei den untersuchten Lobsprüchen sowohl persönliche Krisenmomente der Autoren wie auch die Idee der Gefährdung des städtischen Gemeinwesen durch äußere Feinde wie innere Konflikte als Anlass der Verschriftlichung wahrscheinlich gemacht werden. Daneben präsentieren die vielfältigen Nürnberger Preisgedichte ihre Stadt jedoch durchgängig als positives Erfolgsmodell, so dass eine Reduzierung auf die Krisentheorie der Ausbildung kollektiver Identität in Nürnberg nicht hinreichend gerecht werde.

Ein weiterer Vortragsblock brachte verstärkt das Paradigma der „Alterität“, der Abgrenzung zum Anderen, als Grundlage identitätsbildender Prozesse in die Diskussion. Auf Basis der im Freiburger SFB 541 „Identitäten und Alteritäten“ geführten Theoriediskussion entwickelte Andreas Bihrer (Freiburg) methodische Grundlagen für ein Forschungsprojekt zu den Beziehungen zwischen England und dem Reich im frühen Mittelalter. Während die klassische Komparatistik zu sehr die Andersartigkeit Englands gesehen habe und die Beziehungsforschung stark von der Idee eines kulturellen Gefälles beeinflußt werde, plädierte Bihrer dafür, im Auflösen binärer Kategorien wie Identität und Alterität die ständige Veränderung beider Seiten und der Grenzen zwischen ihnen zu untersuchen. So sei z.B. das Bewusstsein einer gemeinsamen Abstammung von Sachsen und Angelsachsen durch neue in Kontakten und Erinnerungen hergestellte Gemeinsamkeiten und Abgrenzungen abgelöst worden. In einer präzisen Beschreibung der Personenverbindungen und Netzwerke, der Begegnungen und Wahrnehmungen, des Umgangs mit Transfergütern und der Konstitution von Erinnerungen könne deutlich gemacht werden, wie durch Kontakte gemeinsame und geteilte Geschichten immer neu definiert wurden.

Şevket Küçükhüseyin (Bonn) nahm Selbst- und Fremdbilder am Beispiel hagiographischer Texte, Heldenepen und Chroniken des spätmittelalterlichen Anatoliens in den Blick. Die Niederlage der Byzantiner gegen die nach Kleinasien ziehenden turkmenischen Stämme leitete im späten 11. Jahrhundert einen umfassenden Transformationsprozess ein, in dem das christlich-byzantinische Kleinasien zu einem Teil der islamischen Welt wurde. Im Verlauf der Etablierung eigener dynastischer Herrschaften gaben die Eliten der turkmenischen Stämme das Nomadenleben auf und wurden in den kleinasiatischen Städten sesshaft. Wie die gegenseitigen Etikettierungen in den Quellen aufzeigen, verlief aufgrund dieser Entwicklungen die Demarkationslinie bald weniger zwischen Einheimischen und Zuwanderern als zwischen den sesshaften Vertretern einer literaten Hochkultur und den turkmenischen Nomaden. So verunglimpften die höfischen persischsprachigen Werke die Turkmenen etwa als „Teufel in der Flasche“, während diese ihre sesshaften Nachbarn als „hässliche, dickbäuchige Städter“ bezeichneten. Die Fremdzuschreibungen zeigen, wie die identitätsstiftende Abgrenzung von der Übermacht des Lebensweltlichen geprägt wurde: nicht die Dichotomie von Islam und Christentum wurde zum maßgeblichen Kriterium der Abgrenzung, sondern der Unterschied zwischen der Lebensweise als Städter und Vertreter einer islamischen Hochkultur und der des in Stammesstrukturen eingebundenen und von einem heterodoxen Islam geprägten Nomaden.

Aus der „Krise“ der Fremdheitserfahrung entstehende Identitätskonstruktionen untersuchte Antje Flüchter (Münster) anhand von Reiseberichten deutschsprachiger Angestellter der niederländischen Ost-Indien-Kompanie des 17. Jahrhunderts. Anhand der Untersuchungsfelder „Kleidung“, „Religion“ und „Heiratskreise“ betrachtete sie Kriterien der Fremdwahrnehmung und mögliche Praktiken performativer Inszenierungen der Differenz. Dabei eröffnete der Vergleich der indonesischen Inseln, wo die Ost-Indien-Kompanie mit dem Hauptsitz Batavia eigenständige Herrschaftsstrukturen etablierte, mit dem von hoher Zivilisation unter der Mogul-Herrschaft geprägten indischen Festland unterschiedliche Abgrenzungsphänomene. So lässt sich in den Reiseberichten gegenüber den Bewohnern der indonesischen Inseln eine starke zivilisatorische Abgrenzung feststellen, bei der Grenzüberschreitungen und Hybridkulturen Misstrauen erzeugten. Auf dem indischen Festland wurde die Grenzziehung seitens der indischen Hochkultur durch den Druck zur Anpassung an Kleidungsstile oder Abschließung der Heiratskreise vorgenommen, worauf in den Reiseberichten eine stärker moralisch konnotierte Abgrenzung fassbar wird. Die niederländisch geführte, in ihrem Personal jedoch transnational besetzte Ost-Indien-Kompanie selbst taugte dabei offenbar wenig als Bezugspunkt einer durch individuelle Identifikationsprozesse ausgebildeten kollektiven Identität.

Die Beeinflussung auch des wissenschaftlichen Diskurses durch einen essentialistisch verstandenen Identitätsbegriff wird besonders deutlich im Schlagwort der „europäischen Identität“, die Klaus Oschema (Bern) anhand der Betrachtung des mittelalterlichen Europabegriffs hinterfragte. In Abgrenzung zur Idee eines „materiellen Europa“ (Hermann Heimpel, Jacques Le Goff), auf deren Grundlage in der spezifischen geschichtlichen Entwicklung eines vagen geographischen Raumes ein Europa „avant la lettre“ konstruiert werde, betonte er die Notwendigkeit einer konzisen Begriffs- und Konzeptgeschichte Europas im Mittelalter. Zwar scheine sich in der Vorstellung einer Verflachung des politischen Europabegriffs hin zu einem geographischen Terminus im Verlauf des Mittelalters, der erst durch die sog. Türkengefahr wieder politisch aufgeladen wurde, die Krisentheorie der Identitätsstiftung zu bewahrheiten. Doch sei die Rolle des Begriffs für die eigene kulturelle Verortung tatsächlich entscheidender als die politische Dimension. Die mittelalterlichen Intellektuellen positionierten sich in der „christianitas“, in „Europa“, das eine Rahmengröße darstelle, die ihrerseits wiederum durch eine starke Binnendifferenzierung und Fragmentierung gekennzeichnet sei.

Der in den Beiträgen der Tagung gespannte Bogen war weit. Es ging um politische Inszenierung kollektiver Werte, das Spannungsverhältnis zwischen universalem Horizont und kleinteiligen Gruppenbezügen, die Darstellung und Propagierung von Selbstdeutungskonzepten in Literatur oder Kunst, um auf Krisen reagierende Selbstvergewisserungen, die ständige Umdeutung und Transformierung von Fremd- und Eigenwahrnehmungen, das Aufbrechen scheinbar eindeutiger Abgrenzungen von eigen und fremd aufgrund lebensweltlicher Erfahrungen, Hybridisierungstendenzen im Kontakt mit dem Fremden und raumgebundene Verortungen. Dabei eröffneten sich Vergleichsperspektiven vor allem dank der in großem Maße gegebenen Kohärenz des von den Referenten genutzten Identitätsbegriffs, die monierte Begriffsunschärfen relativierte. So gelang der Tagung aufzuzeigen, wie der moderne Identitätsbegriff zwischen den Extremen eines kaum erkenntnisfördernden „Überstülpens“ der Theorie auf die eigenen Quellen und eines theoriefernen Positivismus als Deutungskonzept vormoderner Erfahrungen erfolgreich angewandt werden kann.

Anmerkungen:
1 Die Auswahl umfasste folgende Texte: Assmann, Jan, Kulturelle Identität und politische Imagination, in: Ders., Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 2002, S. 130–160; Giesen, Bernhard, Codes kollektiver Identität, in: Gephart, Werner; Waldenfels, Hans (Hgg.), Religion und Identität. Im Horizont des Pluralismus, Frankfurt am Main 1999, S. 13–43; Straub, Jürgen, Personale und kollektive Identität. Zur Analyse eines theoretischen Begriffs, in: Assmann, Aleida; Friese, Heidrun (Hgg.), Identitäten (Erinnerung, Geschichte, Identität 3), Frankfurt am Main 1998, S. 73–104; Wagner, Peter, Fest-Stellungen. Beobachtungen zur sozialwissenschaftlichen Diskussion über Identität, in: Ebd., S. 44–72.