Geburt oder Leistung? Elitenbildung im deutsch-britischen Vergleich. Birth or Talent? The Formation of Elites in a British-German Comparison

Geburt oder Leistung? Elitenbildung im deutsch-britischen Vergleich. Birth or Talent? The Formation of Elites in a British-German Comparison

Organisatoren
Prinz-Albert-Gesellschaft, Coburg
Ort
Coburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.09.2002 - 14.09.2002
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Von
Bernd Buchner, München

21. Konferenz der Prinz-Albert-Gesellschaft vom 13.-14. September 2002 in Coburg

Die Frage nach Eliten ist in modernen, demokratisch verfassten Gesellschaften lange Zeit verdrängt worden, da sie der postulierten Chancengleichheit in Bildungswesen und Berufswelt zuwider zu laufen schien. Erst in den vergangenen beiden Jahrzehnten haben Historiker, Soziologen und Politologen das Thema wieder entdeckt. Auch eine breitere Öffentlichkeit beginnt Notiz davon zu nehmen, in Deutschland zuletzt in der Debatte um das mangelhafte Bildungssystem. Mit ihrer jüngsten Tagung, die unter dem Titel "Geburt oder Leistung?" die Prozesse der Elitenbildung in der deutschen und britischen Geschichte verglich, griff die Coburger Prinz-Albert-Gesellschaft insofern einen Trend auf. "Wir möchten aufmerksam machen auf ein aktuelles politisches, kulturelles und soziales Problem", sagte der Vorsitzende der Gesellschaft, Franz BOSBACH (Bayreuth), zu Beginn der Konferenz. Wie sich die Führungsschichten in der neueren Geschichte beider Länder bildeten, reproduzierten und ablösten, wollte die Tagung mit einem Blick auf einzelne soziale und berufliche Gruppen - Kirche, Militär, Wirtschaft und Diplomatie - erkunden und dabei den Zusammenhang von inneren Mechanismen und äußeren Einflussfaktoren untersuchen.

Am Beispiel der Argumentationsstrategien von Adel und Bürgertum erläuterte Karina URBACH (Bayreuth/München) in ihrem einleitenden Vortrag die Konkurrenz zweier sozialer Gruppen im 19. und 20. Jahrhundert, die von einer irritierenden Mischung aus Bewunderung und Verachtung geprägt war. Urbach beschrieb das deutsche und englische Beispiel als die Fahrt zweier Züge mit ähnlichem Zielbahnhof. Wege und Waggons sowie die "politischen Nebelbänke", die zu durchfahren waren, unterschieden sich allerdings erheblich. Die englische Aristokratie sei reicher, städtischer und sozial durchlässiger gewesen, während in Deutschland die Versuche zur Bildung einer übergreifenden Oberschicht gescheitert seien. In beiden Ländern habe die Aristokratie ihre hergebrachten sozialen und kulturellen Vorteile noch lange nutzen und sich als Wahrer des Gemeinnutzes profilieren können, sei aber gegenüber dem Leistungsethos der modernen, bürgerlich geprägten Gesellschaft zunehmend in die Defensive geraten.

Die Auswirkung der Reformation auf die Eliten stand im Mittelpunkt der ersten Tagungssektion. Scott DIXON (Belfast) konnte zeigen, wie stark die Privilegien des deutschen Adels bis in den lokalen Bereich hinein schon damals beschnitten wurden. Der religiöse Wandel habe in den protestantischen Gebieten tief greifende soziale Folgen gehabt, die Spannungen seien vor allem auf Grund des zunehmenden Selbstbewusstseins des städtischen Bürgertums stark gestiegen. Nicht Geburt oder Leistung, allein der Glaube habe über Macht und Machtverlust entschieden, die Religion sei zum entscheidenden sozialen Kriterium geworden. Der Blick auf den Elitenwandel, so wurde in der anschließenden Diskussion deutlich, relativiert die grundlegende Konfessionalisierungsthese, wonach sich die Prozesse auf katholischer und auf protestantischer Ebene ähnlich entwickelt haben. Da in England die Gesellschaft von jeher offener gewesen sei als in Deutschland, wie Glyn REDWORTH (Manchester) betonte, habe es dort durch die Reformation keine ähnlich großen Veränderungen gegeben. Der Machtverlust des Adels stelle sich deshalb weit weniger gravierend dar. Obwohl auch in England Katholiken aus den lokalen Regierungen entfernt worden seien, habe es lediglich den Anschein eines Wandels gegeben. Die beiden folgenden Sektionen widmeten sich den militärischen Eliten von der frühen Neuzeit bis zum 19. Jahrhundert. Für England im Stuart-Zeitalter erübrigt sich die Alternative "Geburt oder Leistung", da es nach Darstellung von John CHILDS (Leeds) keine militärische Elite gab und Versuche, sie zu bilden, auf Grund der bleibenden Vorbehalte im Adel gegen die Schaffung eines stehenden Heeres scheiterten. Ob das deutsche Militär in der Epoche des Dreißigjährigen Krieges die Domäne des Adels blieb oder eher Chancen für Aufsteiger bot, wollte Michael KAISER (Köln) nicht abschließend entscheiden. Als Beispiel führte er Jan van Werth an, der vom einfachen Kriegsknecht blitzartig zum kommandierenden General aufgestiegen und in den Reichsfreiherrnstand erhoben worden sei. "Krisensituationen ließen ständische Vorbehalte in den Hintergrund treten", so Kaiser. Allerdings hätten nur sehr wenige Nichtadelige hohe Kommandostellen erreicht. Diesen Befund unterstützte Eckart CONZE (Tübingen/Erlangen) mit Blick auf die militärischen Eliten in Preußen-Deutschland 1850 bis 1950. Der Adel habe sich seine Dominanz und kulturelle Hegemonie auch dann bewahrt, als sich durch die Heeresvergrößerungen der Anteil bürgerlicher Offiziere erhöht habe. Das Offizierskorps sei trotz einer langsamen "Entadelung" ein sozial stabiles Gebilde geblieben, während das Zeitalter der Massen die Klassendifferenzen schrittweise nivelliert habe. Diesen Befund unterstützte Hugh CUNNINGHAM (Kent) für den englischen Fall. Auch hier sei der Zugang zu den Offiziersrängen bekanntermaßen sozial sehr restriktiv gehandhabt worden. Im englischen Wirtschaftsbürgertum seien Geburt und Leistung keine Gegensätze gewesen, sondern hätten nur in Kombination zum Erfolg geführt, betonte Andreas FAHRMEIR (Frankfurt a.M.) in seinem Referat, das die Sektion über Wirtschaftseliten im 19. Jahrhundert einleitete. Die Wirtschaft habe insofern nicht anders als Parlament oder Armee funktioniert, als die Herkunft über die finanzielle Grundausstattung zukünftiger Unternehmer entschieden habe und die Voraussetzung für Leistung gewesen sei. Ökonomisches Kapital spiele eine ebenso wichtige Rolle wie soziales Kapital. Zu ähnlichen Ergebnissen kam Dolores L. AUGUSTINE (New York), die unter dem Titel "Patrizier, Parvenüs, Professionelle" über die deutschen Unternehmer im Kaiserreich sprach. Der Adel habe sich nach der Reichsgründung zunehmend aus der industriellen und gewerblichen Tätigkeit zurückgezogen, was die Kluft zwischen altadeliger Elite und Bürgertum vertieft habe. Die Unternehmersöhne seien am besten für ihre Karriere vorbereitet gewesen. Mit dem Aufstieg der Aktiengesellschaften habe der Rekrutierungsprozess zunehmend meritokratische Züge angenommen.

Während der ökonomische Bereich großbürgerlich geprägt war, blieb die Diplomatie in beiden Ländern eine Domäne des Adels, wie in der Sektion über Karrieren im Auswärtigen Dienst deutlich wurde. In Großbritanniens außenpolitischer Elite gebe es von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg eine ungebrochene Dominanz des Adels, stellte Magnus BRECHTKEN (München/Nottingham) fest. Die nachgeborenen Söhne der Aristokratie, die häufig in den Staatsdienst strebten, hätten ihre generationellen Prägungen in den public schools und in den Eliteuniversitäten erfahren. Ständische Geburt war, wie Ralf FORSBACH (Bonn) hervorhob, auch im Auswärtigen Dienst in Deutschland lange Zeit die Voraussetzung für Karrieren. Im Kaiserreich seien rund 70 Prozent der Diplomaten adelig gewesen, bis zum Ersten Weltkrieg habe es keinen einzigen bürgerlichen Botschafter gegeben. Erst in der Republik sei ein Wandel eingetreten, doch der Adel habe seine kulturelle Hegemonie bewahren können. Die abschließende Sektion zum Verhältnis von Eliten und Bildung brachte die Tagung in die Nähe der gegenwärtigen politischen und gesellschaftlichen Debatten. Rolf-Ulrich KUNZE (Frankfurt a.M.) betonte in seinen Ausführungen über die Studienstiftung des deutschen Volkes, die Begabtenförderung weise einen strukturell elitären Zug auf. Die 1925 gegründete Einrichtung habe anfangs vor allem Arbeiterkinder gefördert, gegenwärtig stammten jedoch bis zu 80 Prozent der Stipendiaten aus höheren sozialen Schichten. Aus den bildungspolitischen Diskussionen habe sich die Stiftung eigentümlicherweise zurückgezogen. In seinem Beitrag über die soziale Veränderungen an den britischen Universitäten seit Mitte des 19. Jahrhunderts hob Richard TRAINOR (London) das Wechselspiel von Beständigkeit und Wandel hervor, das bei der studentischen Rekrutierung an den Elitehochschulen Oxford und Cambridge zu beobachten sei. Sein Überblick reichte bis zu den jüngsten Reformvorschlägen der Blair-Regierung, darunter eine weitere Erhöhung der Studiengebühren.

Im Mittelpunkt der Podiumsdiskussion unter Leitung von Keith ROBBINS (Lampeter), mit der die Konferenz der Prinz-Albert-Gesellschaft zu Ende ging, stand neben den Perspektiven der vergleichenden Geschichte sowie dem Verhältnis von Geburt und Leistung die Frage nach der Definition von "Elite" in Großbritannien und Deutschland. Dabei trat eine erstaunliche begriffliche Unschärfe zu Tage. Selbst- und Fremdsicht von politischen, gesellschaftlichen und sozialen Führungsschichten differieren in Geschichte und Gegenwart erheblich, klare empirische Charakteristika fehlen. "Es gibt kein überzeitliches, übergreifendes Konzept von Elite", konstatierte Janos Riesz, Vizepräsident der Universität Bayreuth. Daraufhin wurde an den Aphorismus eines englischen Adelsforschers erinnert: Jeder wisse, was Klasse ist - bis er ein Buch darüber schreiben müsse. In Band 21 der Prinz-Albert-Studien, der 2003 im Verlag K. G. Saur (München) erscheint, werden die Ergebnisse der Coburger Tagung dokumentiert.


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