„Herausforderung Ressourcensicherung“ – Zur Viehseuchen- und Schädlingsbekämpfung im 18. und 19. Jahrhundert

„Herausforderung Ressourcensicherung“ – Zur Viehseuchen- und Schädlingsbekämpfung im 18. und 19. Jahrhundert

Organisatoren
DFG-Graduiertenkolleg „Interdisziplinäre Umweltgeschichte“, Göttingen
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
21.06.2006 - 22.06.2006
Url der Konferenzwebsite
Von
Mathias Mutz, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, Universität Göttingen

Heuschrecken, Wandertauben, Ratten, Rebläuse, Bienen, Spatzen und Rinder sind noch immer kein gängiges Thema für historische Betrachtungen, obwohl es zuletzt mehrfach Versuche gegeben hat, Tieren ihren Platz in der Geschichte zu geben.1 Als wichtigen Beitrag hierzu kann auch der vom Göttinger Graduiertenkolleg „Interdisziplinäre Umweltgeschichte“ veranstaltete Workshop zur „Herausforderung Ressourcensicherung“ gesehen werden, der bewusst die von Nutzeninteressen geprägte menschliche Wahrnehmung und Behandlung von Tieren in den Fokus rückte. Nachdem das seit Juli 2004 existierende DFG-Graduiertenkolleg regelmäßig kleinere Tagungen zu zentralen umweltgeschichtlichen Fragestellungen veranstaltet, stellten hier mehrere Forschungsprojekte zu den Problemfeldern Schädlinge und Viehseuchen den thematischen Anknüpfungspunkt dar.2 Übergreifendes Ziel des Workshops war es dabei, Ressourcensicherungsstrategien als ökologische, ökonomische, soziale und kulturelle Herausforderungen in den Blick zu nehmen, nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zu suchen und dadurch zu einer Erweiterung der Forschung zur Intensivierung der Landwirtschaft seit der Frühen Neuzeit beizutragen. Die acht Vorträge des Workshops waren hierzu in drei Blöcke zu Schädlingen, zu Viehseuchen und zu übergreifenden Perspektiven zusammengefasst.

Christian ROHR (Salzburg) fiel mit seinem Beitrag zur Bewältigung von Tierplagen im Alpenraum im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit die Aufgabe zu, den zeitlichen Rahmen zu öffnen und eine Folie für spätere Entwicklungen anzubieten. Als bestimmende Faktoren der Wahrnehmung hob Rohr dabei einerseits das Vorhandensein biblischer Vorbilder und andererseits den zyklischen oder einmaligen Charakter der Ereignisse hervor. So legten Heuschreckenzüge in der Steiermark, die vor allem während des Klimaoptimums des 14. Jahrhunderts auftraten, Konnotationen einer „apokalyptischen Plage“ nahe. Obwohl innerhalb weniger Stunden die lokale Nahrungsgrundlage zerstört werden konnte, dominierte der Symbolgehalt des Strafgericht Gottes den Blick auf die ökonomischen Schäden. Mit Beispielen aus Südtirol und dem Tessin zu Tierstrafen gegen Einzeltiere, Tierbann und Tierprozessen gegen Schädlinge als möglichen Reaktionsmustern untermauerte Rohr die These, dass auch im Umgang mit der Natur Verrechtlichung zu den Grundmerkmalen des 15. und 16. Jahrhunderts gehöre. Tieren wurde dabei eingeschränkte Rechtsfähigkeit zuerkannt, um für die geschädigten Menschen Rechtssicherheit bei Konflikten um Abgaben und Steuerzahlungen zu schaffen.

„Name ist Schall und Rauch“ – Mit diesem Goethe-Zitat überschrieb Karin BARTON (Waterloo) ihre Überlegungen zu historischen Konstruktionsprozessen der Nutzen- und Schadensattribute bei Tieren. Als Beispiele dienten ihr dabei die Wahrnehmung der Biene und der nordamerikanischen Wandertaube (passenger pigeon). Während die Biene als Haustier, heiliges Insekt und staatspolitisches Ideal traditionell positiv konnotiert wurde, herrschte in der Bienenkunde lange Zeit Unklarheit über die Rolle der männlichen Drohnen. Wie Barton eindrucksvoll demonstrieren konnte, schuf gerade der Widerspruch zu gängigen Männlichkeitsbildern und Geschlechterrollen, etwa der Stachel der weiblichen Tiere, Interpretationsprobleme. Angesichts des Fehlens einer beobachtbaren Funktion wurden Drohnen etwa von Linné lateinisch als „fucus“ bezeichnet und damit mit Ungeziefer gleichgesetzt. Ähnlich uneindeutig ist auch die Einordnung der nordamerikanischen Wandertaube, die zunächst wichtige Nahrungsquelle für die europäischen Siedler war, deren Schwärme aber zunehmend als Bedrohung für die Landwirtschaft wahrgenommen wurden, so dass die Tiere bis zur Ausrottung gejagt wurden. Von Interesse scheint hierbei insbesondere auch eine Parallelisierung der „Eindämmungsstrategien“ zwischen den „wild pigeons“ und den „wild men“, also den Indianern.

Die Reblaus Phylloxera stellte Lukas STRAUMANN (Basel) in den Mittelpunkt seines Vortrags über die Verwissenschaftlichung und Chemisierung der Schädlingsbekämpfung in der Schweiz im ausgehenden 19. Jahrhundert. Das Auftreten des Weinbauschädlings seit den 1870er Jahre beschrieb er dabei als Auslöser einer neuen, wissenschaftlichen Beschäftigung mit Schädlingen, die durch das Zusammenspiel von Politik, Forschung und Wirtschaft vorangetrieben wurde. Angesichts der ökonomischen Bedeutung wurde von der Schweizer Regierung bereits 1877 ein internationaler Kongress zur Reblausbekämpfung abgehalten, während die 1858 gegründete „Schweizer Entomologische Gesellschaft“ als Vereinigung der Insektenforscher einen Professionalisierungsschub erlebte. Im Rahmen einer zunehmend interventionistischen Agrarpolitik entwickelte sich die „science-based agriculture“ zum neuen Leitbild. Gleichzeitig sind hier auch Wurzeln der modernen Agrochemie zu sehen. Die experimentelle Forschung der Erfinder und Kleinfabrikanten wurde jedoch erst in den 1920er und 30er Jahren durch die großen (Farbstoff-)Chemieunternehmen systematisiert und erlebte 1939 mit der Entdeckung von DDT als Schädlingsbekämpfungsmittel durch den Chemiker Paul Hermann Müller und die J.R. Geigy AG einen ersten Höhepunkt.

An das Beispiel der Reblaus knüpfte auch Sarah JANSEN (Cambridge/MA) in ihrem Vortrag zur Konstitution des Begriffs „Schädling“ als wissenschaftlichen und politischen Gegenstand an. Dabei zeigte sie auf, wie die in der Frühen Neuzeit als lokales Problem wahrgenommenen „schädlichen Tieren“ durch die Erfahrung mit „fremden“ Insektenarten wie der Reblaus symbolisch generalisiert und als Bedrohung für den Kollektivkörper der „deutschen Landwirtschaft“ aufgefasst wurden. Jansen führt die Herausbildung des Schädlingsbegriffs im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts somit auf vielschichtige Verknüpfungen von Biowissenschaften und Politik zurück. Als besonders wichtig stellte sie die Verbindung des Diskurses über Schädlingsbekämpfung mit dem der Sozialhygiene heraus. Im Fall der Land- und Forstwirtschaft führte die Diskrepanz zwischen dem umfassenden rhetorischen Konzept des „Schädlings“ und den hauswirtschaftlich geprägten Bekämpfungsmethoden – so die pointierte These – schließlich zur Entstehung der angewandten Entomologie und zur Entwicklung neuer, generalisierbarer Strategien. Ausgehend vom Umgang der Sozial-, Kultur-, Wirtschafts- und Wissenschaftsgeschichte mit der geschilderten Problemkonstellation nutze Jansen den Schlussteil ihres Vortrags für einen im Kern sicherlich berechtigten Appell, durch problembezogene Herangehensweisen disziplinäre Grenzen zu überwinden und Symbol- und Gegenstandsgeschichte zu verbinden.

Den zweiten Block zur Viehseuchenproblematik eröffnete der dänische Historiker und Archivar Karl Peder PEDERSEN (Valby), der seine Arbeiten zur Bekämpfung der Viehseuche auf Fünen in der Mitte des 18. Jahrhunderts vorstellte. Mit Hilfe des Anschreibebuchs des Peder Madsen, den ältesten bäuerlichen Aufzeichnungen Dänemarks, war es ihm nicht nur möglich, den Seuchenverlauf über mehrere Jahrzehnte zu verfolgen, sondern auch Einblicke in den Deutungshorizont der Beteiligten zu geben. In den Notizen finden sich dabei sowohl Hinweise auf religiöse Interpretationsmuster einer Gottesstrafe als auch quasi-medizinische Rezepte zur Behandlung der Seuchen. Dieses Miteinander scheinbar widersprüchlicher Strategien spiegelte sich auch im Handeln der Behörden wider, die gleichzeitig auf Reise- und Importverbote und das Abhalten landesweiter Gottesdienste setzten. Angesichts der sozioökonomischen Konsequenzen der Seuchenzüge, etwa einer Verstärkung der Gutsabhängigkeit oder auch eines allgemeinen Preisanstiegs, verbanden sich diese Maßnahmen in der bäuerlichen Praxis mit Strategien der Risikominimierung. Nachbarschaftshilfe zum Wiederaufbau der Bestände oder auch die Substitution der Rinderhaltung durch Pferdezucht für den internationalen Markt stellen sich hier – für den heutigen Beobachter – als ökonomisch-rationale Lösungswege dar.

Die Vielschichtigkeit der ökonomischen, politischen und kulturellen Problembewältigungsstrategien, die beispielhaft für die frühneuzeitliche Gesellschaft stehen dürften, hob auch Kai F. HÜNEMÖRDER (Göttingen/Hamburg) hervor, dessen Untersuchungen sich auf die Rinderpest in Kurhannover und der preußischen Kurmark in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts konzentrieren. Mit den von ihm gewählten Beispielen der gelehrten Impfversuche und der staatlichen Viehseuchenversicherungen wandte er sich bewusst gegen die meist mit linearen Fortschrittsmodellen arbeitende, traditionelle Veterinärmedizingeschichte. Beide Strategien wurden in der Praxis nämlich nur wenig erfolgreich umgesetzt. Während die in Anlehnung an die Pockenimpfung beim Menschen durchgeführten „Inokulationsversuche“ angesichts hoher Verlustquoten von oft 50% keine Akzeptanz fanden, wurden Ideen einer institutionalisierten Schadensabsicherung überhaupt nicht realisiert. Der Beitrag dieser neuen Herangehensweisen zu einer Professionalisierung der Veterinärmedizin und der Seuchenpolizei scheint vor allem in einer gesteigerten Aufmerksamkeit der Landesadministration und einer Hinwendung zu wissenschaftlich-experimentellen Methoden im Geiste der Aufklärung zu sehen zu sein, deren kontextbedingte Grenzen sie jedoch gleichzeitig aufzeigen.

Bernd HERRMANN (Göttingen) hatte sich zum Auftakt des Blocks zu übergreifenden Perspektiven zur Aufgabe gestellt, Konzepte und Kategorien der Schädlingsbekämpfung im 18. und frühen 19. Jahrhundert herauszuarbeiten und damit „den Weg von der magischen zur rationalen Bekämpfung“ nachzuzeichnen. Dabei betonte er zunächst die ökonomische Motivation, Tiere als „Schadorganismen“ zu interpretieren, und stellte später auch die Notwendigkeit heraus, diese Rezeption mit den Ergebnissen einer rekonstruierenden Forschung abzugleichen und in Bezug zu setzen. Auf der Basis zahlreicher zeitgenössischer Abhandlungen entwickelte er schließlich eine auch chronologisch gedachte Typologie der Beschäftigung mit der Schädlingsbekämpfung, in der er zwischen einer magisch-mystisch-abergläubischen Wissenschaft, einer (kameralistischen) Staatswissenschaft, einer angewandten und einer reinen Naturwissenschaft unterschied. In einem weiteren Schritt schlug Herrmann zentrale Kategorien der Praxis der Schädlingsbekämpfung vor - etwa die Rolle des Staates und seines Gewaltmonopols, der Wandel in der Kategorisierung als Schädling oder die Entwicklung einer quantitativen Schadenserhebung. Hier zeigte er Entwicklungslinien auf, die das schematisch-lineare Modell der Indienststellung der Wissenschaft für ökonomische Zwecke ausfüllen, aber auch differenzieren können.

Mit ihrem Vortrag zur „gesellschaftlichen Verteilung von Zuständigkeiten bei der Bekämpfung von Viehseuchen und schädlichen Tieren“ lenkte Jutta NOWOSADTKO (Essen) den Blick auf Unterschiede und Gemeinsamkeiten der gesellschaftlichen Reaktionen auf die beiden Phänomene. Ihr hierfür entwickeltes Modell der Zuständigkeitsverteilung unterschied zunächst zwischen hauswirtschaftlichen Belangen im Verantwortungsbereich der Hausväter und dienstvertraglichen Rechten und Pflichten staatlicher und kommunaler Bediensteter. Während die Ebene der privaten Haushalte vor allem auf Ratgeberliteratur und der Herausbildung von Gemeinschaftsaufgaben beruhte, bildeten sich im öffentlichen Bereich seit dem Spätmittelalter spezielle Berufsgruppen, etwa „Abdecker“ oder „Ratzenglauber“, heraus. Im 18. Jahrhundert entstand schließlich eine Medizinalpolizei mit lokalen Eingriffsmöglichkeiten. Diesem Normalfall stellte Nowosadtko den akuten Handlungsbedarf einer Krise gegenüber. Hier wurden sowohl Hausväter als auch staatliche Bedienstete durch Aufgebote oder Sonderkommandos mobilisiert. Insbesondere bei der Bekämpfung von Viehseuchen konnte die Landesadministration bei der Durchsetzung von Maßnahmen zudem auf Militäreinsätze zurückgreifen. Insgesamt verdeutlichte das komplexe Mehrebenenmodell jedoch, dass eine funktionierende Krisenbewältigung an vielen Stellen von der Kooperationsbereitschaft der beteiligten Akteure abhing.

Um die „Herausforderung Ressourcensicherung“ – verstanden als Eindämmung von „natürlichen“ Gefährdungen – bestehen zu können, war es aber nicht nur nötig Konflikt- und Kooperationspotenzial zwischen Bevölkerung und Verwaltung zu moderieren. Wie die Fallstudien und konzeptionellen Entwürfe des Workshops zeigten, galt es auch, Deutungshorizonte der unterschiedlichsten Akteure zu kombinieren sowie Wissen zu ordnen und zu organisieren, um gemeinsames Handeln zu ermöglichen. Gleichzeitig prägten Systematisierung und Verwissenschaftlichung in Form von Begriffen, Theorien und Methoden die Problemwahrnehmung. In den Diskussionen während des Workshops wurde eindrücklich deutlich gemacht, wie sich in diesen Prozessen die Komplexität der gesellschaftlichen Entwicklung in Früher Neuzeit und Moderne widerspiegelt, und die Erforschung dieser Phänomene umgekehrt eine vielversprechende Erweiterung unseres Blicks auf die Vergangenheit darstellt. Gerade hier entwickelte sich das zu Beginn der Tagung nicht zwangsläufig erscheinende Zusammenführen der Themen Schädlings- und Viehseuchenbekämpfung zum Vorteil. Von „außen“, d.h. aus der naturalen Umwelt, an die Gesellschaft herangetragene Probleme gaben wesentliche Impulse für neue Bereiche obrigkeitlichen Handelns. Unabhängig von der Frage nach dem Akteurscharakter von Tieren oder der in der Umweltgeschichte immer wieder diskutierten „nature’s agency“, die auf dem Göttinger Workshop interessanterweise nur am Rande thematisiert wurde, gibt es also genügend Gründe, Heuschrecken, Wandertauben, Ratten, Rebläuse, Bienen, Spatzen und Rinder auch weiterhin zu einem Teil der Geschichte zu machen.

Anmerkungen:
1 Zur vom DHI Washington und der Anglo-Amerikanische Abteilung der Uni Köln organisierten, viertägigen Konferenz „Animals in History. Studying the Not-So Human Past” im Mai 2005 in Köln vgl. beispielsweise den Tagungsbericht von Hans Martin Krämer unter <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=783 > (17.07.2006).
2 Ausführliche Informationen zum Göttinger Graduiertenkolleg und zu den Einzelprojekten im Internet unter <http://www.anthro.uni-goettingen.de/gk/ > (17.07.2006)


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