Europa neu zusammensetzen. Die Rekonstruktion der Oder als ein europäischer Kulturraum / Nadodrze na nowej mapie Europy. Rekonstrukcja Odry jako przestrzeni kulturowej

Europa neu zusammensetzen. Die Rekonstruktion der Oder als ein europäischer Kulturraum / Nadodrze na nowej mapie Europy. Rekonstrukcja Odry jako przestrzeni kulturowej

Organisatoren
Europa-Universität Viadrina, Lehrstuhl für Geschichte Osteuropas, Frankfurt an der Oder (Karl Schlögel); in Zusammenarbeit mit „Büro Kopernikus. Deutsch-Polnische Kulturprojekte. Eine Initiative der Kulturstiftung des Bundes“. Gefördert von der Bundeszentrale für politische Bildung und vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen des Deutsch-Polnischen Jahres 2005/2006
Ort
Frankfurt an der Oder
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.04.2006 - 30.04.2006
Url der Konferenzwebsite
Von
Markus Ackeret

Die Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder begeht in diesem Sommersemester die fünfhundertste Wiederkehr der Gründung der alten Alma Mater Viadrina mit festlichen Anlässen und zahlreichen wissenschaftlichen Konferenzen. Den Fluss, der ihr den Namen gegeben hat, zum Thema einer grossen Tagung zu machen, lag in mehrfacher Hinsicht nahe. An seinem Ufer liegen nicht nur die zentralen Stätten der Universität; er steht auch für die Grenzregion, für welche die Viadrina eine Brücke und eine Plattform der Begegnung und wissenschaftlichen Auseinandersetzung sein will. Und nicht zuletzt hat Karl Schlögel, Professor für Geschichte Osteuropas an der Viadrina, seit Jahren in Vorträgen und Essays an die Geschichte und Gegenwart dieses Flusses erinnert und zur interdisziplinären Beschäftigung mit ihm aufgerufen. 1

Karl Schlögel war der spiritus rector und wissenschaftliche Leiter der Konferenz, die unter dem Titel „Europa neu zusammensetzen. Die Rekonstruktion der Oder als ein europäischer Kulturraum“ in deutscher und polnischer Sprache vom 27. bis zum 30. April in Frankfurt/Oder stattgefunden hat. Die wissenschaftliche Organisation, auch für die zum Projekt gehörende Ausstellung „Oder-Panorama / Panorama Odry“, welche Stationen entlang des Flusses in Text und Bild dokumentiert 2, lagen bei Beata Halicka und Mateusz Hartwich sowie beim Büro Kopernikus, Deutsch-polnische Kulturprojekte, eine Initiative der Kulturstiftung des Bundes. Referenten aus Deutschland, Polen, Tschechien und Frankreich machten die Tagung zu einer internationalen und wahrhaft multidisziplinären Veranstaltung – Historiker, Kunsthistoriker, Literatur- und Sprachwissenschaftler, Ingenieure, Ökologen, Ökonomen und Publizisten, sowohl aus der Forschung als auch aus Museen, der Politik, nichtstaatlichen Organisationen und den Medien, behandelten über zwei Dutzend Themen in einem äußerst dichten Programm.

In seinen Eröffnungsworten am Vorabend des ersten Konferenztages, an dem die Wissenschaftsministerin von Brandenburg, Johanna Wanka, die Präsidentin der Europa-Universität, Gesine Schwan, und die Rektorin der Hochschule für Wirtschaft und Tourismus in Szczecin, Elzbieta Marszalek, Grussworte sprachen und der Basler Mediävist Achatz von Müller über den „Fluss als imaginärer Raum der Geschichte“ den Festvortrag hielt, stellte Schlögel die Tagung in die Reihe der zum Thema bereits abgehaltenen Veranstaltungen, unter anderem vor einigen Jahren im Collegium Polonicum in Slubice. Trotz den bereits erfolgten Anstrengungen sprach er von einer doppelten Asymmetrie im Umgang mit der Oder: von einer Vernachlässigung im Vergleich mit anderen großen Strömen (Rhein, Elbe, Donau) und von einer Nichtbeachtung in der deutschen Geschichts- und Kulturwissenschaft. Die Rückkehr der Oderregion von der Peripherie der Blöcke im Kalten Krieg ins Zentrum Europas stellt die Frage nach der angemessenen Auseinandersetzung mit der Oder neu und dringlich. Vielfalt und Vernichtung, Verflechtung und Trennung – die Oder, so Schlögel, steht für den Reichtum der Kultur und ihren Verlust, für Zerstörung und Wiederaufbau, für Verlust der alten Heimat und Gewinnung einer neuen, für Exzesse des Nationalismus und für kulturelle Leistungen. Schlögel skizzierte damit das Programm, das an den kommenden drei Tagen zunächst in Vorträgen und Diskussionen und zuletzt mit einer Fahrt auf dem Fluss von Slubice nach Kostrzyn (Küstrin) entfaltet wurde.

Fluss-Diskurse

Die erste Sektion am Freitag stand unter dem Titel „Die Oder und die Fluss-Diskurse“ (Moderation: Karl Schlögel). Der Journalist und Oder-Biograph Uwe Rada (Berlin) 3 widmete sich der „Wiederentdeckung der Oder“. Zunächst allerdings zeichnete er nochmals die Rolle nach, die der Strom im 20. Jahrhundert für die Region wahrgenommen hatte, insbesondere die Jahrzehnte, in denen er zwischen Reitwein und Szczecin eine Grenze bildete und gleichsam zum Nicht-Ort wurde. Die Städte, die an seinen Ufern liegen, wandten ihr Gesicht von ihm ab; politisch konnotiert, geriet er kulturell in Vergessenheit. Die Wiederentdeckung erfolgte spätestens mit dem Hochwasser 1997; Potenziale, namentlich touristische, wurden erkannt und grenzüberschreitend auszunutzen versucht. Vor allem aber begann eine neue Beschäftigung mit der Geschichte der Oderregion. Rada rief dazu auf, den Fluss nicht mehr als Grenzfluss, sondern als narrativen Raum wahrzunehmen.

Weniger in einem einheitlichen Oder-Raum als vielmehr in der Darstellung seiner historischen Regionen sieht der Historiker und Zivilisationsgeograph Andrzej Piskozub (Gdansk/Danzig) die Voraussetzung für eine Oder-Monographie, die es seiner Meinung nach bis jetzt nicht in adäquater Form gibt. In seinen „methodologischen Voraussetzungen der Monographie eines grossen baltischen Flusses“ thematisierte er ferner die Grenzbedeutung des Stroms – eine Funktion, die er bis 1945 nie besessen hatte – und verknüpfte seine Ausführungen insofern mit einer politischen Botschaft, als er eindringlich für ein Europa der Regionen eintrat, in dem die Oder-Region jenseits der Staatsgrenzen zur Geltung käme. Leider war Piskozub selbst nicht anwesend; sein Plädoyer für eine Oder-Geschichte der regionalen Differenzen stieß in der Diskussion auf zunächst skeptische, aber dann durchaus wohlwollende Resonanz. Hingewiesen wurde auf die problematische Bezeichnung „europäischer Kulturraum“, die ihrerseits wieder Ausschlusscharakter haben kann, wie Achatz von Müller aus Schweizer Perspektive zu bedenken gab. Thematisch nahe zu Piskozub, legte Jerzy Kultuniak (Katowice/Kattowitz) in seinem Vortrag über „Die kulturelle Sicht auf einen Fluss“ Prämissen der Auseinandersetzung mit Flussgeschichte und -kultur anhand der Oder dar und stellte, neben eigenen Überlegungen zur kulturellen Kartierung der Oder-Landschaft, unter anderem das „Band der Museen“ entlang des Flusslaufs vor.

Der Beitrag des französischen Historikers Nicolas Beaupré (Paris/Berlin), der sich mit dem „französischen und deutschen Rhein“ beschäftigte und also der unterschiedlichen Funktion und Wahrnehmung des Rheins in der deutschen und französischen Geschichte nachging, wirkte etwas verloren, blieb er doch die einzige explizite Bezugnahme auf einen anderen europäischen Strom. Während die Franzosen den Rhein als Grenzfluss wahrnahmen, erschien er in den Augen der Deutschen lange als deutscher Fluss. Erst nach 1945 wurde er zum europäischen Strom, der für die europäische Nachkriegseinigung symbolhaft wurde. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und der Verlagerung des europäischen politischen Zentrums ostwärts büßte er diese Rolle zum Leidwesen der Franzosen ein. Zum Abschluss der Sektion sprach die Sprachhistorikerin Tatjana Reitmann (Ostrava) über die Herkunft der Flussnamen Oder/Odra und Viadrus. Sie verortete die im Deutschen, Polnischen und Tschechischen verwendete Bezeichnung im Indogermanischen. Der lateinische Name Viadrus trat erstmals in schriftlicher Form auf der Weltkarte des Ptolemäus auf; er könnte auch aus dem Avestitischen (altiranische Sprache) abgeleitet sein.

Verkehrs- und Kulturraum

In der zweiten Sektion (Moderation: Beata Halicka) ging es um „Elemente des Kulturraumes Oder“. Der überaus weit gefasste Titel umfasste Vorträge zum Naturschutz ebenso wie kunst- und kulturhistorische Beiträge. Dariusz Urbaniak und Piotr Nieznanski (Wroclaw/Breslau) von der Umweltorganisation WWF Polska berichteten über die „Naturschätze des Odertals und seinem Schutz gewidmete Projekte von WWF Polska“. Sie hoben die Bedeutung der natürlichen Überflutungsgebiete, namentlich der einzigartigen Auenwälder, als Rückzugsort seltener Pflanzen und Tiere und als Hochwasserschutz hervor und forderten deren Unterschutzstellung. Gleichzeitig übten sie Kritik am staatlichen Regulierungsprogramm für die Oder „Programm für die Oder 2006“, das in einer späteren Sektion vorgestellt wurde.

Der Ur- und Frühhistoriker Eike Gringmuth-Dallmer (Berlin) leitete zum kulturhistorischen Teil über. In einem konzisen Referat zeigte sie auf, dass die Oder in ur- und frühgeschichtlicher Zeit nicht standortbestimmend für Siedlungen gewesen war, sondern die Bodenverhältnisse entscheidend waren. Kultureinflüsse und Verkehrsleitlinien – konkrete Wege sind kaum zu rekonstruieren – verliefen bis ins frühe Mittelalter nicht parallel, sondern quer zum Fluss; seines Mäandrierens und seiner schwankenden Wasserführung wegen eignete er sich nicht als Wasserstraße, stellte aber auch kein Hindernis dar. Gringmuth-Dallmer verwies darauf, dass das Attribut „Verkehrsader“ generell Flüsse nur sehr einseitig und unzureichend bestimmt. Horst Wernickes (Greifswald) Beitrag über „Stettin, Frankfurt an der Oder und Breslau – drei Hansestädte im Vergleich“ schloss sich daran bestens an, arbeitete er doch heraus, dass für alle drei Städte die Oderquerungen bedeutsamer gewesen waren als der Flussverkehr und der Handel zu Schiff. Überhaupt ergab die vergleichende Betrachtung der drei an der Oder gelegenen Hansestädte letztlich, dass sich jede von ihnen individuell entwickelt und die Lage am selben Strom nur in geringem Maße die Verbindung untereinander befördert hatte. In der Diskussion wurde denn auch der Ansatz, die Städte über die Hanse zu untersuchen, als zu wenig ergiebig in Frage gestellt, zumal dadurch die Stadt-Umland-Beziehungen unberücksichtigt blieben.

Einen anderen Akzent setzte dagegen der Kunsthistoriker Jan Harasimowicz (Wroclaw/Breslau), der die Oder als „Achse des Kulturtransfers im Mittelalter und der frühen Neuzeit“ behandelte. Aus kunsthistorischer Sicht bildete die Oder ab dem 14. Jahrhundert vor allem eine Einflusslinie von Prag via Schlesien in die Mark Brandenburg. Im 16. Jahrhundert wurde, ermöglicht durch die im Oder-Einzugsgebiet herrschenden Protestantenhäuser, die norditalienische Renaissance bis Brieg (Brzeg) und weiter flussabwärts verbreitet, ebenso wie späthumanistische Ideen. Nach dem Dreißigjährigen Krieg kam die Blütezeit des schlesischen Barock, wie er im Kloster Leubus (Lubiaz) zum Ausdruck kommt und bis nach Neuzelle südlich von Frankfurt/Oder reichte. Mit der Inbesitznahme praktisch des ganzen Odergebietes durch Preussen 1763 vereinheitlichte sich der Kulturraum; umfassende Festungsbauten prägten fortan architektonisch zahlreiche Städte an der Oder. Wie mit diesem Kulturerbe in der Oderregion umgegangen wurde und wird, fächerte Uta Hengelhaupt (Frankfurt/Oder), Lehrstuhlinhaberin für Kulturgüterschutz, auf. Sie sprach von einem „kollektiven Vergessen“ bezogen auf die materiellen Kulturgüter entlang der Oder. Wo man eine Ortsmitte erwarten würde, finden sich in zahlreichen Dörfern und Städten bis heute Brachflächen; Ruinen in Siedlungen und Landschaften zeugen vom Desinteresse an historischer Bausubstanz. Dieses zeigt sich auch in der lange Zeit marginalen wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Zeugnissen. Eine angemessene, die Vielfalt und Mehrfachkodierungen berücksichtigende Beschäftigung mit der Erinnerungslandschaft jenseits nationaler Gedächtniskonstruktionen könnte einen Beitrag zur Bildung lokaler und regionaler und dadurch europäischer Identität leisten. Zum Schluss der Sektion präsentierte Stephan Kaiser (Königswinter-Heisterbacherrott) vom Museum für schlesische Landeskunde im Haus Schlesien eine Tour d’horizont durch die deutschen Schifffahrtsmuseen mit besonderer Berücksichtigung der Oder. Hierzu bemerkte Jerzy Kultuniak in der Diskussion, dass nicht jeder Ort am Strom ein eigenes Museum führen müsse; bedeutsamer sei es, im Oderraum selbst die Geschichte zu sehen und die technischen Denkmäler, etwa Schleusenanlagen, zu bewahren.

Kurze Blüte als Wasserstraße

Die letzte Sektion am Freitag beschäftigte sich mit der Schifffahrt auf der Oder (Moderation: Marek Zawadka). Der Wirtschaftshistoriker Uwe Müller (Frankfurt/Oder) untersuchte die „Stellung der Oder im mitteleuropäischen Verkehrsnetz und die preußische Wasserstraßenpolitik während der Industrialisierung“. Ausgehend vom statistisch belegbaren Umstand, dass die Oder auch auf dem Höhepunkt ihrer Funktion als Wasserstraße kurz vor dem Ersten Weltkrieg auf bloß zwei Drittel des Verkehrsaufkommens der Elbe kam, hob er die große Konkurrenz des Landverkehrs hervor, gegenüber welchem die stark regulierungsbedürftige Oder nicht mithalten konnte. Der Chaussee- und der Eisenbahnbau ging einher mit der Industrialisierung namentlich in Schlesien. Die späten Regulierungsmaßnahmen im mittleren und oberen Bereich des Stroms ermöglichten ab dem 19. Jahrhundert immerhin einen kleinen Aufschwung der Binnenschifffahrt, vor allem zwischen Schlesien und dem Raum Berlin. Ungünstig wirkte sich besonders die – bereits in früheren Zeiten bestimmende – Ost-West-Richtung der Handelsströme aus. Österreichische Kanalbauprojekte, welche die Oder mit Donau und Weichsel verbunden hätten, stießen in Preußen auf keine Resonanz. So erlebte die Oder bloß eine kurze Blüte als Wasserstraße am Ende des Kaiserreichs.

Horst Linde (Berlin), Emeritus für Seeverkehr an der TU Berlin, knüpfte an Müllers Ausführungen an und skizzierte die gegenwärtige Position der Oder im Binnenschifffahrtsverkehr. Derzeit herrschen sehr unterschiedliche Bedingungen; der Strom ist nicht durchgängig schiffbar. Das größte Problem besteht im Bereich der mittleren Oder, wo die Regulierungsmaßnahmen in einem schlechten Zustand sind. Am meisten frequentiert ist der Abschnitt der unteren Oder, wo dank der Hohensaaten-Friedrichsthaler-Wasserstraße zwei parallele Wege bestehen. Die Schifffahrt ist hier für den Industriestandort Schwedt bedeutsam, aber auch für Berlin, das über die Havel-Oder-Wasserstraße an die untere Oder angeschlossen ist. Die Zugangsmöglichkeit für Fluss-/Seeschiffe bis Schwedt zählt, neben Regulierungsmaßnahmen an der mittleren Oder, zu wichtigen Vorhaben auf deutscher Seite. Die Koordination mit Polen, unter anderem hinsichtlich der Durchfahrt in Szczecin/Stettin, wäre dafür allerdings unabdingbar. Linde ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, dass er es für lohnenswert hält, in den Ausbau der Oder als Wasserstraße zu investieren. In der Diskussion äußerte sich dazu ein Vertreter des Bundes für Umwelt- und Naturschutz Deutschland eher skeptisch.

Einen sehr anschaulichen, praxisnahen Einblick in die Bewahrung des historischen Erbes der Oder-Schifffahrt gewährte zum Schluss der Sektion der Technikhistoriker Stanislaw Januszewski (Wroclaw/Breslau). Er stellte Denkmäler des Wasserbaus und der Schifffahrt vor und berichtete von seinen Erfahrungen in der Stiftung Offenes Museum für Technik, die an Bord alter Schiffe ein Odermuseum betreibt, das von der aktiven Mitarbeit Studierender des Breslauer Politechnikums lebt.

Ende und Neubeginn

Die erste Hälfte des zweiten Konferenztags war einem Themenblock zu „Auflösung und Neubildung des Oderraums im 20. Jahrhundert“ gewidmet (Moderation: Ruth Henning). Zu Anfang wurde das Referat von Markus Krzoska (Mainz) vorgetragen, der krankheitshalber nicht anwesend sein konnte. Krzoskas Vortrag behandelte „Zygmunt Wojciechowskis Plädoyer für eine polnische Westgrenze an der Oder“. Wojciechowski, der maßgeblich an der ideologischen Fundierung der Westgrenze nach 1945 und des Umgangs mit den „wiedergewonnenen Gebieten“ beteiligt war, hatte schon in den zwanziger Jahren für eine geopolitische Neugestaltung Polens unter piastischer, also westlicher Orientierung geworben und dies mit der Unmöglichkeit des friedlichen Zusammenlebens zwischen Deutschen und Polen begründet. Während des Krieges versuchte er frühzeitig, die Übernahme der „Westgebiete“ vorzubereiten, und erklärte die Linie der Oder und Lausitzer Neiße zur idealen, da günstig zu verteidigenden künftigen Grenze. Deren ideologische Begründung untermauerte er unter anderem in der Schrift „Polen – Deutschland: Zehn Jahrhunderte Kampf“. Nach 1944 setzte er dabei auf die Sowjetunion und distanzierte sich von der Londoner Exilregierung. Im „Westinstitut“ (Instytut Zachodni), das nun eingerichtet wurde und dem er vorstand, versuchte er gar zu begründen, weshalb auch das linke Oderufer polnisch werden sollte. Bewusst einseitig betrieb er die Aufklärung der polnischen Gesellschaft über die polnische Geschichte des Oderraums. Im Zuge der Entmachtung Gomulkas 1948 verlor er jedoch seinen Posten; sein Einfluss und sein Modell aber überdauerten.
Wojciechowskis Konzeption bildete die ideologische Hintergrundfolie für das Geschehen, das sich ab 1945, bereits vor und dann vor allem nach der Potsdamer Konferenz, in den östlich der Oder und Lausitzer Neiße gelegenen Gebiete abspielte. Bernadetta Nitschke (Zielona Góra) referierte über das „Schicksal der deutschen Bevölkerung in der Oderregion in den ersten Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs“ 4. Der Oderraum gehörte zu den ersten Regionen, in denen noch vor August 1945 Aussiedlungsaktionen stattfanden. Chaos, Rücksichtslosigkeit des mit der Aufgabe betrauten Militärs und fehlende einheitliche Normen für den Umgang mit Deutschen kennzeichneten diese erste Phase. Ab Januar 1946 begann die organisierte Aussiedlung, basierend auf den Beschlüssen von Potsdam. Bis 1947 wurde der Großteil der Deutschen aus den nunmehr polnischen Gebieten ausgesiedelt. In geringerem Umfang dauerte der Prozess bis in die fünfziger Jahre fort, nicht zuletzt auch deshalb, weil die polnischen Behörden ein Interesse daran hatten, deutsche Fachkräfte zunächst noch im Land zu behalten.

Weit weniger bekannt als das Schicksal der ausgesiedelten Deutschen sind die Umstände der Neubesiedlung der nun polnischen Gebiete im Oderraum. Hier hakte Beata Halicka (Frankfurt/Oder) mit ihrem Vortrag über „Erinnerungen von Neusiedlern der Oderregion im Zwiespalt zwischen Wirklichkeit und Propaganda“ ein. Die Region um die obere und mittlere Oder, in denen ein fast vollständiger Bevölkerungsaustausch zum Bruch mit einer Kulturtradition führte, galt nach 1945 als „polnischer Wilder Westen“. Das implizierte einerseits Chaos und Unsicherheit, anderseits aber auch Aufbruchstimmung und Enthusiasmus. Halicka untersuchte unter anderem anhand zensierter und unzensierter Erinnerungen den Vorgang der Besiedlung, die Träume und Realitäten der Neusiedler und die Rolle des sozialistischen Staates bei der Integration der Westgebiete. Der Oderraum wurde ungleichmäßig neu besiedelt; die Region um Opole/Oppeln nahm die ersten Zwangsumgesiedelten aus dem Osten auf, die Ziemia Lubuska (Lebuser Land, ehemalige Neumark und Sternberger Land) blieb bis in die fünfziger Jahre teilweise wenig bevölkert. Die meisten Höfe und Haushalte waren längst von den durchgezogenen Soldaten und von Zwischenbewohnern geplündert; die Unsicherheit und mangelnde Ausstattung zehrte an den Neusiedlern. Diese bildeten keine homogene Gruppe; die unterschiedliche Herkunft – viele kamen aus Zentral- und Großpolen, viele aus den verlorenen Ostgebieten, andere galten als „Autochthone“ (Altansässige; wer bleiben wollte, musste die polnische Staatsangehörigkeit annehmen) – war die Grundlage für Ressentiments und Konflikte. Der sozialistische Staat versuchte die Unterschiede einzuebnen; Traditionen und die Besinnung auf die Herkunft spielten nur im Familienkreis eine Rolle. Nach der Wende kam es zu einer doppelten Spurensuche: Die Herkunft der Eltern wurde ebenso zum Thema wie die Geschichte des Oderraums mit seiner deutschen Vergangenheit.

Eine Tour d’horizont durch die tschechisch-polnisch-deutschen Beziehungen im Oderraum nach 1945 unternahm im Anschluss daran der tschechische Historiker Zdenek Jirásek (Opava); er schilderte die Konjunkturen von Distanz und Annäherung und hob die sich aufbrechenden starren Fronten zwischen Tschechen und Deutschen einerseits und Tschechen und Polen anderseits hervor. Einen weniger aufgehellten Blick warf dagegen Kazimierz Woycicki (Szczecin/Stettin) auf die deutsch-polnischen Beziehungen. Implizit machte er vor allem die russische bzw. sowjetische Politik für den Grenzverlauf im Oderraum verantwortlich und identifizierte den polnischen Anteil daran (Wojciechowski) als „Appendix“. Insofern wurden geopolitische Vorstellungen des 19. Jahrhunderts 1945 realisiert. Vor diesem Hintergrund entwickelte sich das Verhältnis zwischen Polen und Deutschen, das stark vom deutschen Umgang mit dem Verlust der einstigen Ostgebiete geprägt ist; Polens Verhältnis zu seinen ehemaligen Ostgebieten charakterisierte Woycicki als weniger emotional und weder von Revisionismus noch Ressentiments, sondern vielmehr von Interesse an den politischen Vorgängen (in Belarus, in der Ukraine, in Litauen) geprägt. Mit deutlichem Unbehagen sprach er von einer Tendenz der Deutschen, sich in Bezug auf die früheren Ostgebiete als Opfer zu sehen. Seine Thesen, zumal jene zur Entstehung der Odergrenze, weckte den Widerspruch im Publikum. Die daran anschließende Diskussion zeigte eindrücklich, dass die Debatten sogleich sehr emotional werden, sobald das deutsch-polnische Verhältnis zur Sprache kommt – wenngleich alle Beteiligten dies vehement bestreiten mögen.
Das letzte Referat der Sektion spannte den Bogen noch einmal zurück zur Schifffahrt auf der Oder und zur (wirtschaftlichen) Bedeutung des Flusses im 20. Jahrhundert. Marek Zawadka (Opole/Oppeln) sprach von einer durchgängig vernachlässigten Region. Bis 1944 wurde der Fluss vor allem dank Warentransporten zwischen Schlesien und Stettin von zahlreichen Reedern als Wasserstraße bewirtschaftet; Zentrum dieser regen Aktivitäten war Berlin, das dadurch eine gleichsam vom Fluss abgesetzte Oder-Metropole darstellte. Nach 1945, als der Fluss zur Grenze geworden war, nutzten ihn zunächst die sowjetischen Besatzungstruppen als Verkehrsweg. Anfang der sechziger Jahren geriet er ins Abseits; auch wenn durch die Industrialisierung in Polen der Bedarf nach Flusstransport wieder zunahm, wurde in die Infrastruktur nicht genügend investiert. Der Rückstand auf die technologisch weiterentwickelten Landverkehrsmittel wurde dadurch so groß, dass die Oder an Bedeutung als Verkehrsweg einbüßte und heute eine marginale Rolle spielt.

Spuren der Vergangenheit, Netze der Gegenwart

Die letzte Sektion der Tagung stand unter dem Titel „Neue Wege an der Oder, auf der Oder“ (Moderation: Mariusz Urbanek). Der Literaturwissenschaftler Andrzej Zawada (Wroclaw/Breslau) zeichnete in seinem „Literarischen Portrait vor dem Hintergrund der Oder“ den Stellenwert der Oderregion in der polnischen Literatur nach und stellte gleich zu Beginn fest, dass es nur wenige literarische Zeugnisse dazu gebe. Nach 1945 begann zwar eine Spurensuche nach dem polnischen Niederschlesien in Literaturgeschichte, Essayistik und Literaturkritik, aber in der gesamtpolnischen Dichtung blieben die Spuren lokaler niederschlesischer Realitäten bescheiden. Die neunziger Jahre des 20. Jahrhunderts öffneten auch im literarischen Feld einen neuen Blick auf Land, Geschichte und regionale Identität; etwa bei Olga Tokarczuk („Taghaus, Nachthaus“) wurde die Oderregion zum Schauplatz, der die Brüche und das lokale Bewusstsein reflektiert.
Davon, wie schwierig die Auseinandersetzung mit Flucht, Vertreibung und Neuordnung der Grenzen im Oderraum nach wie vor ist, berichtete Ruth Hennig (Potsdam) in ihrem Beitrag über das Projekt „Spurensuche – Po sladach – in der deutsch-polnischen Grenzregion: Alte, neue, fremde Heimat an der Oder“. Weil auf beiden Seiten des Flusses Menschen leben, die ihre Heimat verlassen mussten, und beiderseits, in der DDR wie in Polen, das Thema tabuisiert gewesen war, lösen die Kontroversen etwa über das Zentrum gegen Vertreibungen besonders hier Emotionen aus. Begegnungen mit der alten Heimat und den Bewohnern, denen sie zur neuen geworden ist, ermöglichen eine differenzierte Auseinandersetzung, auch wenn auf beiden Seiten die Unkenntnis oft groß und das gegenseitige Verstehen schwierig ist. Mit Diskussionsveranstaltungen, Film- und Vortragsabenden, Ausstellungen und anderem versucht die Initiative (wie andere auch), auf einen neuen Umgang mit der Vergangenheit hinzuwirken.

Für die abschließenden vier Vorträge kehrte die Tagung noch einmal zu Wirtschaft und Ökologie zurück. Aneta Klodek (Wroclaw/Breslau) stellte das namentlich in Umweltschutzkreisen sehr umstrittene „Programm für die Oder 2006“ vor. Dieses groß angelegte Maßnahmenpaket hat im Sinne sowohl den aktiven und passiven Hochwasserschutz zu erneuern und verbessern, die Ökosysteme entlang des Flusses zu renaturieren und zu bewirtschaften als auch die Nutzung des Stroms für die Binnenschifffahrt zu entwickeln. Entstanden nach dem Hochwasser von 1997 und seit 2002 in der Realisierungsphase, soll es in internationaler Kooperation umgesetzt werden. Daran, aber auch am konkreten Nutzen, an der Nachhaltigkeit und der Berücksichtigung der Umweltanliegen wurden in der Diskussion Zweifel angemeldet. Skeptisch waren auch die Ausführungen des Umweltwissenschaftlers Wojciech Halicki (Skórzyn) zur nachhaltigen Entwicklung der Oder. Nachdem der Fluss vom 18. bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts vom Natur- zum Kulturstrom entwickelt worden war, verschlechterte sich nach 1945 der ökologische Zustand der Oder sehr. Erst nach der Wende trat langsam eine Verbesserung ein. Die Auenabschnitte haben sich renaturiert. Zur bedeutendsten Gefahr wurde die Landwirtschaft, vor allem durch deren Intensivierung. Die Schwankungen des Wasserstands nehmen zu; während grundsätzlich eine gewisse Entwässerung stattfindet, wird die Gefahr der Überflutung immer größer.
Davor hatte Guido Bockelmann (Berlin) von der Berliner Senatsverwaltung erläutert, wie wichtig die Oderregion für Berlin ist. Durch den EU-Beitritt Polens und das deutsch-polnische Jahr ist nach seiner Darstellung einiges bewegt worden; unlängst fand ein Wirtschaftsforum zur Oderregion in Berlin statt. Die Zusammenarbeit auf regionaler Ebene zwischen Brandenburg, Berlin und den westpolnischen Wojewodschaften soll, unter Berücksichtigung auch der ländlichen Regionen, intensiviert werden, namentlich in den Bereichen Innovation, Tourismus und – dafür besonders zentral – Verkehrsinfrastruktur. Bockelmann verwies darauf, dass es gerade hier oft vor allem um ein Koordinationsproblem gehe, etwa bei den Zugsverbindungen von Berlin via Kostrzyn nach Gorzów. Zum Abschluss der thematischen Referate beleuchtete Elzbieta Marszalek (Szczecin/Stettin) die touristische Nutzung der Oder und des Oderraums. Sie verwies darauf, dass die Oder bis vor kurzem an den Ufern leer und nicht dafür eingerichtet gewesen sei, dass Menschen an Land gingen. Eine jährlich stattfindende „Oderexpedition“ von Brzeg/Brieg nach Szczecin/Stettin auf Flößen und Schiffen dient nicht nur wissenschaftlichen Zwecken, sondern trägt auch zur Vernetzung des Raumes bei, indem Anstöße zum Bau von Anlegestellen für Schiffe und überhaupt zum Ausbau der touristischen Infrastruktur gegeben werden. Marszalek glaubt fest an die touristische Entwicklungsfähigkeit des Oderraums und die Anziehungskraft für Menschen aus allen Teilen Europas.

Als eine wesentliche Erkenntnis der zweitägigen intensiven Auseinandersetzung mit der Oder hob der Konferenzleiter Karl Schlögel in seiner knappen Schlussbilanz hervor, dass zum einen die Beschäftigung mit dem Fluss nur interdisziplär möglich sei und dass zum andern ein homogener Oderraum darzustellen nicht das Ziel sein könne. Vielleicht wäre es sogar ein neuer Mythos, die Oder von der Quelle bis zur Mündung als einheitlichen Kulturraum zu denken; viel eher sei sie eine Kette vielfältiger Regionen mit Städten von eigener Individualität. Der Reichtum und die Dramatik der Region besteht nach Schlögel in der Polyphonie, und die Kunst der Arbeit mit dem Fluss ist es, diese zum Klingen zu bringen. Dazu gehört für ihn auch die differenzierte Sicht auf den Umgang mit dem Fluss – Modernisierung und Schutz der Landschaft sollen gemeinsam zu einer behutsamen Inbetriebnahme der Oder und zur Restaurierung der „Flussruine“ führen. Er wünschte sich aber auch, dass vom „Oder-Bazillus“ (Kultuniak) ein ganzes Netz von Institutionen zur Beschäftigung mit dem Strom und dem Raum, den er konstituiert, angeregt wird.
Die Tagung hat, im Sinne eines neuen Anlaufs, Kräfte dafür zu mobilisieren und das Interesse zu wecken, ohne Zweifel einen gewichtigen Beitrag dazu zu leisten vermocht, ein plastischeres Bild von dem faszinierend vielschichtigen Raum zu gewinnen. Auch wenn die Dichte und der Umfang des Programms an der Grenze dessen lagen, was binnen zweier Tage reflektierend aufzunehmen ist: Ihre besondere Atmosphäre verdankte sie dem Umstand, dass es den Organisatoren gelang, ein bunt gemischtes, nur zu einem kleineren Teil primär akademisch interessiertes Publikum zu multidisziplinär ausgerichteten Vorträgen anzusprechen. Das schlug sich in den Diskussionen nieder, in denen oft überraschende Perspektiven eingebracht wurden. Der Sammelband, der die Vorträge der Konferenz dokumentieren soll, wird nicht minder dazu beitragen können, die Vielgestaltigkeit des Oderraums abzubilden und die Auseinandersetzung mit dessen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auf eine neue Basis zu stellen. Zum eigentlichen Höhepunkt der Veranstaltung – wie Karl Schlögel sich ausdrückte – wurde aber die Schifffahrt auf der Oder von Slubice nach Kostrzyn/Küstrin: Unterwegs auf dem Strom, der zwei intensive Tage lang Gegenstand der Vorträge und Diskussionen gewesen war, sprang der „Oder-Bazillus“ endgültig auf die Teilnehmer über.

Anmerkungen:
1 Vgl. u.a. Schlögel, Karl, Oder, Odra, Oderstromland, in: Lettre International Heft 50, Oktober 2000, S. 19-23; ders., Oder, Strom zwischen den Zeiten, in: ders., Promenade in Jalta und andere Städtebilder, München/Wien 2001, S. 252-271.
2 Die Ausstellung "Oder Panorama | Panorama Odry. Bilder von einem europäischen Strom" ist noch bis zum 11. Juli 2006 in der Reithalle, Logenstr. 15, 15230 Frankfurt (Oder) zu besichtigen. – Siehe auch www.odra-oder.org mit weiteren Angaben zum gesamten Projekt.
3 Rada, Uwe, Die Oder, Lebenslauf eines Flusses, Leipzig 2005.
4 Vgl. dazu den entsprechenden Band der Dokumente aus polnischen Archiven, die für das Herder-Institut Marburg von Wlodzimierz Borodziej und Hans Lemberg herausgegeben wurden: «Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden…». Die Deutschen östlich von Oder und Neisse 1945-1950. Dokumente aus polnischen Archiven, Band 3: Wojewodschaft Posen, Wojewodschaft Stettin (Hinterpommern). (Quellen zur Geschichte und Landeskunde Ostmitteleuropas 4/III), Marburg 2004.


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