Geschichte der Straße. Bau, Nutzung, Raumerschließung von Fernstraßen

Geschichte der Straße. Bau, Nutzung, Raumerschließung von Fernstraßen

Organisatoren
Arbeitskreis Verkehrsgeschichte der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte (GUG)
Ort
Köln
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.05.2006 - 12.05.2006
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Von
PD Dr. Christopher Kopper (Universität Bielefeld); Dr. Hans-Liudger Dienel (Zentrum für Technik und Gesellschaft der TU Berlin); Dr. Susanne Kill (Deutsche Bahn AG Berlin)

Der Bau und die Unterhaltung von Straßen gehört seit dem 20. Jahrhundert zu den zentralen Feldern staatlicher Infrastrukturpolitik. Lange jedoch stand die gesellschaftliche Bedeutung der Straßeninfrastruktur in einem diametralen Verhältnis zur geringen Bedeutung der Straße als Untersuchungsgegenstand der Geschichtswissenschaft. Neuere Forschungsarbeiten zur politischen Herrschaftsgeschichte, zur Wirtschafts- und zur Kulturgeschichte der Straße haben gezeigt, welche gesellschaftsgeschichtliche Relevanz die Straßengeschichte besitzt und wie sie zu zahlreichen Feldern der Geschichtswissenschaft anschlussfähig ist.

Zur Geschichte der Infrastrukturen gibt es seit einigen Jahren in der Geschichtswissenschaft vermehrt neue Forschungsansätze. Hier spiegelt sich auch der gesellschaftliche Diskussionsbedarf um die Zukunft der öffentlichen Güter und der Daseinsvorsorge. Auch in der Geschichte der Straße werden Fragen der Privatisierung und Deregulierung, der Wirkungen des Straßenbaus auf die räumliche Entwicklung und Sicherung gleichwertiger Lebensverhältnisse, aber auch des infrastrukturellen Rückbaus angesichts schrumpfender Bevölkerungszahlen, sowie Fragen des Denkmal- und Ensembleschutzes erörtert. Das Interesse an der diesjährigen Jahrestagung des von Hans-Liudger Dienel und Susanne Kill geleiteten Arbeitskreises Verkehrsgeschichte der Gesellschaft für Unternehmensgeschichte war größer als in den letzten Jahren. Die Tagung war in drei Sektionen zum Chausseebau seit dem späten 18. Jahrhundert, dem Bau von Autofernstraßen im 20. Jahrhundert und internationalen Vergleichen im Straßenbau gewidmet.

In einer ersten Sektion zum Chausseebau behandelten Nicole K. Longen (Universität Trier) und Dr. Oliver Sander (Bundesarchiv Koblenz) die quantitativen und qualitativen Veränderungen des staatlichen Straßenbaus in der Sattelzeit von 1770 bis 1830. Oliver Sander zeigte am Beispiel des staatlichen Chauseebaus in Preußen, dass es bereits um 1800 einen zwischenstaatlichen Erfahrungstransfer durch Studienreisen von Straßenbauingenieuren gab. Sein Vortrag zeigte zugleich die Multiperspektivität der heutigen Straßenbaugeschichte, die neben ihrer traditionellen technikgeschichtlichen und verwaltungsgeschichtlichen Perspektive auch symbolgeschichtliche und umweltgeschichtliche Fragestellungen integriert.

Nicole Longens Vortrag über die Entwicklung des Straßenbaus im Kurfürstentum Trier von 1750 bis 1850 überraschte mit der Feststellung, dass die Fronarbeit durch Fronpflichtige über die politischen Regimewechsel zur französischen und zur preußischen Herrschaft hinweg einen großen Teil der Baulast im Straßenbau trug. Während die Naturalfron während der Französischen Revolution in Frankreich abgeschafft wurde, übernahm die französische Departementsverwaltung im Rheinland lediglich die napoleonische Aufgliederung des Straßennetzes in Nationalstraßen und Departementsstraßen sowie den Impuls zu einer Professionalisierung der Straßenbauverwaltung. Erst die preußische Herrschaft schaffte die Fronpflicht für Provinzialstraßen ab, behielt aber die Fronpflicht für den kommunalen Wegebau bei.

Jan Ludwig (Basalt-Actien-Gesellschaft Linz/Rheinl.) und Benjamin Steininger 1 (Deutsches Museum München) beschäftigten sich mit den unternehmensgeschichtlichen Aspekten der Baustoffproduktion und mit den ingenieurwissenschaftlichen Diskursen über Straßenbaumaterial während der Zeit des Nationalsozialismus. Steininger stellte sein Forschungsprojekt über die Straßenbaustoffforschung vor, das die diskursanalytische Begrifflichkeit und Methodik der New Cultural History auf die Technik- und Wissenschaftsgeschichte des Straßenbaus überträgt.

Die Entwicklung des Straßenbaus im 19. Jh. und seine Auswirkungen auf die Modernisierung der Wirtschaft und die Verschiebung von Standortlagen behandelten Referate von Dr. Hans-Ulrich Schiedt (Universität Bern/ViaStoria), Dr. Uwe Müller 2 (Universität Frankfurt/Oder) und Prof. Dr. Karl Heinrich Kaufhold (Universität Göttingen). In seiner auch international vergleichenden Untersuchung erläuterte Schiedt den Schweizer Straßenbau als eine Mischform aus dem britischen Entwicklungspfad der inkrementalen Innovation im Straßenbau durch eine dezentrale Straßenbauplanung („developement by shortage“) und dem französischen Modell der zentralistischen Innovation („developement by excess“). Schiedt stellte dabei die bislang einzigartige historische Datenbank des Schweizer Straßennetzes bei, in dem die Entwicklung des Schweizer Überlandstraßennetzes mit Hilfe des Geographischen Informationssystems (GIS) dargestellt ist. Mit Fördermitteln der Schweizer Nationalstiftung ist es der an der Universität Bern angesiedelten Gesellschaft ViaStoria gelungen, lange statistische Reihen zur Entwicklung der Schweizer Straßenbauausgaben seit 1830 zu erstellen, die für eine empirisch fundierte Geschichte der Straße von großer Bedeutung sind.

Uwe Müllers Beitrag über die Bedeutung des Straßenbaus für gesellschaftliche Modernisierungsprozesse soll der historiographischen Vernachlässigung des Straßenbaus abhelfen, die der bisherigen Konzentration der Forschung auf die wirtschaftlichen Funktionen der Eisenbahn im 19. Jh. geschuldet ist. Ungeachtet des relativen Rückgangs des Straßenverkehrs seit dem Beginn des Eisenbahnzeitalters war der Straßenbau auch nach 1840 ein quantitativ bedeutendes Feld staatlicher Infrastrukturausgaben. Trotz der zunächst überlegenen Konkurrenz der Bahn konzentrierte sich der Staatsstraßenbau in Preußen zunächst auf die Fernverbindungen, ehe sie vom Ausbau des Straßennetzes zu einem komplementären Verkehrsnetz abgelöst wurde. Erst die preußischen Dotationsgesetze von 1875 und 1903 förderten die Flächenerschließung der wirtschaftlich zurückgebliebenen Kreise durch Baukostenzuschüsse und stellten damit eine interessante Parallele zum Preußischen Kleinbahngesetz dar. Müller zeigte, dass sich mit der Abschaffung der Naturalfron eine deutlich positivere Einstellung der ländlichen Bevölkerung zum Staatsstraßenbau entwickelte. Karl-Heinrich Kaufhold stellte in seinem Referat über den Wandel der Verkehrsbeziehungen im südlichen Niedersachsen dar, wie die wirtschaftliche Standortkonkurrenz der Staaten Hannover und Braunschweig mit den Mitteln des Staatstraßen- und Staatseisenbahnbaus ausgetragen und beeinflusst wurde und wie die Straßenbaupolitik des „Dritten Reiches“ und der Bundesrepublik die Zentralität von Oberzentren entweder stärkte oder schwächte.

Bernd Kreuzer 3 (Universität Linz) zitierte zunächst die literarischen Verkehrsvisionen von H.G. Wells (1902) und Anatole France (1908), bevor er sich seiner vergleichenden Untersuchung privater und staatlicher Autobahnpläne in Deutschland, Italien, Frankreich, Spanien, der Niederlande, Österreich und der Schweiz in der Zeit bis 1945 zuwandte. Der synchrone internationale Vergleich bewies seinen heuristischen Wert mit einigen wertvollen generalisierbaren Ergebnissen zur Straßengeschichte. So ließ der geringe Motorisierungsgrad im Vorkriegseuropa private Straßenbauprojekte meist scheitern oder erzwang, wie im Fall Italiens, eine Verstaatlichung privat finanzierter Autobahnen. Nur die staatliche Straßenbaufinanzierung in Deutschland und in den Niederlanden ermöglichte einen investiven Vorlauf des Schnellstraßenbaus vor dem Einsetzen der Massenmotorisierung. Der Beitrag von Dr. Michael Hascher (Deutsches Museum München) erläuterte die museale Präsentation der Straßenbau- und Straßenverkehrsgeschichte in der neu einzurichtenden Dependance des Deutschen Museums zur Entwicklung des Landverkehrs.

Dr. Reiner Ruppmann (Universität Frankfurt/Main) wechselte für seinen Beitrag „Frankfurts Plan von der Stadt der Straßen 1933-1935 und seine langfristige Wirkung“ die Perspektive, mit der bislang der Bau der Reichsautobahn untersucht wurde. Seine Untersuchung über die Rhein-Main-Sektion der Gesellschaft zur Vorbereitung der Reichsautobahn (Gezuvor) unter Leitung des Frankfurter Stadtbaurats (Stadtbaudezernenten) Niemeyer führte zu dem überraschenden Ergebnis, dass die regionalen Sektionen der Gezuvor durchaus die Linienführung der Reichsautobahn beeinflussen konnten. Die bisherige Vorstellung von der Autobahnplanung als top-down-Prozess muss aufgrund dieser Forschungsleistung relativiert werden. Der konzeptionelle Vorsprung der Rhein-Main-Sektion der Gezuvor vor den benachbarten Sektionen und selbst gegenüber Generalinspektor Fritz Todt ermöglichte es dem Frankfurter Autobahnplaner Niemeyer, die Linienführung der Autobahn im wirtschaftlichen Interesse Frankfurts zu beeinflussen und Frankfurt als Autobahnkreuz von nationaler Bedeutung zu etablieren.

Der Beitrag von Dr. Axel Doßmann „Ende der Autobahn. Zur begrenzten Mobilität in der DDR“ behandelte einen ganz anderen Aspekt der Straße: Die Straße als Ort der Kontrolle und Überwachung 4 . Die Transitautobahnen durch die DDR waren auch ein Medium des Politischen und symbolischer Ort für die Austragung des deutsch-deutschen Konfliktes. Welche politischen Sicherheitsprobleme sich für das Ministerium für Staatssicherheit und die Grenztruppen der DDR durch die Transitautobahnen ergaben, wurde nicht nur in den gewaltigen Grenzübergangsstellen in Marienborn und anderen Orten sinnfällig deutlich. Als potentielle Stätten der illegalen Begegnungen zwischen West- und Ostdeutschen stellten die Parkplätze und Raststätten an den Transitstrecken ein besonderes Sicherheitsproblem für das MfS dar.

Mit den Wechselbeziehungen der Straßenplanung von Politik und Verkehrswissenschaft im Zeitraum von 1967 bis 1975 befasste sich das Referat von Dr. Alexander Gall 5 (Deutsches Museum München). Die späten sechziger Jahre bedeuteten eine ausgeprägte Zäsur in der Entwicklung der Straßenplanung, weil sich die Straßenplaner des BMV zum ersten Male eines wissenschaftlich objektivierten Planungsverfahren bedienten, das keine Rücksicht auf haushaltspolitische Restriktionen und politische Verhandlungsprozesse zwischen dem Bund und den Ländern nahm. Gall stellt die bisherige Forschungsposition in Frage, dass der ehrgeizige Planungsvorlauf im BMV einen unüberwindbaren politischen Sachzwang für die Finanzierung eines sehr aufwändigen Straßenbauprogramms geschaffen habe. Die heute euphorisch anmutenden Fernstraßenplanungen der späten sechziger Jahre folgten erstmals konsequent langfristigen Bedarfsplänen und raumordnungspolitischen Prämissen. Der viel zitierte Satz des Bundesverkehrsministers Georg Leber, dass kein Bundesbürger mehr als 20 km bis zur nächsten Autobahnanschlussstelle fahren sollte, war kein verkehrspolitischer Selbstzweck. Dieser Satz leitete sich aus der raumordnungspolitischen Prämisse ab, das nächstgelegene Oberzentrum solle innerhalb von einer Stunde erreichbar sein.

Prof. Dr. Gijs Mom (Technische Universität Eindhoven) wies in seinem Referat auf die Desiderate der historischen Straßenforschung hin. Während es beispielsweise für Belgien, die Niederlande und die Schweiz lückenlose Datenreihen über die Straßenbauinvestitionen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts gibt, steht diese empirische Grundlagenarbeit für die größeren europäischen Nationalstaaten noch aus. International vergleichende straßenbaugeschichtliche und straßenverkehrsgeschichtliche Untersuchungen versprechen nicht nur verallgemeinerbare Ergebnisse für eine Periodisierung der Straßengeschichte. Auch die bereits angelaufenen Forschungsprojekte zur Straßenkultur („culture of roads“), zur Rolle des Straßenbaus für die Veränderung und Ausweitung staatlichen Handelns („governance“), zur Rolle technokratischen Denkens und Handelns, zur Bedeutung von Zukunftserwartungen und Visionen sowie zur Bedeutung des Straßenausbaus für die Entwicklung des nationalen und regionalen Wirtschaftswachstums können von einer international vergleichenden Perspektive profitieren. So steht beispielsweise ein „Schivelbusch of the roads“, d.h. eine Untersuchung über die Veränderung der Landschaftswahrnehmung und Landschaftserfahrung durch das Auto, noch aus. Ob die Zwischenkriegsperiode mit den Anfängen der Schnellstraßenplanung und dem langsamen Beginn der Motorisierung als eine „Sattelzeit der Straßengeschichte“ angesehen werden kann, ist bislang noch eine Arbeitshypothese der Forschung, die einer empirischen Prüfung bedarf.

Prof. Dr. Thomas Zeller 6 (University of Maryland) behandelte die Herstellung von Landschaft durch Straßen in Deutschland und den USA. Anhand seines laufenden Forschungsprojektes über die Deutsche Alpenstraße und den Blue Ridge Parkway in den Appalachen zeigte er, wie Landschaftserlebnisse für Autofahrer auf Touristikstraßen inszeniert wurden, und welche Konflikte sich durch die divergierende Nutzungsinteressen an der „Landschaft“ ergaben. Zeller benutzt dabei einen Landschaftsbegriff, der sich von der verbreiteten Auffassung einer vermeintlich natürlichen Ur-Landschaft löst und Landschaften als von Menschen gestaltet versteht, deren Wahrnehmung durch kulturell bestimmte Konstrukte (wie Reiseführer, Aussichtspunkte und eine möglichst „szenische“ Linienführung von Straßen und Wegen) beeinflusst wird. In seinem sowohl technikgeschichtlichen als auch kultur- und umweltgeschichtlichen Projekt kommt Zeller zu dem Ergebnis, dass diese beiden Touristikstraßen in zwei gänzlich unterschiedlichen politischen Systemen (dem nationalsozialistischen Deutschland und den USA in der Ära Roosevelt) mit einer fast identischen Intention als pädagogische Instrumente zur Er-fahrung einer inszenierten Landschaft geplant wurden und beide den Status eines nationalen Repräsentationsobjektes besaßen.

Jan Oliva (Feuillade, Frankreich) stellte die Pläne zur Schaffung eines tschechoslowakischen Nationalstraßennetzes zur Zeit der ersten tschechoslowakischen Republik (1919-1938) dar, die von der Absicht bestimmt waren, die politische und wirtschaftliche Integration des geographisch zerklüfteten multiethnischen Staates zu fördern. Dieses Projekt der nationalen Integration durch ein verbindendes Infrastrukturnetz scheiterte an den budgetären Restriktionen des tschechoslowakischen Staatshaushalts und dem Vorrang der Eisenbahnpolitik.

Michael Wagner (Universität Erfurt) berichtete über den Aufbau des mexikanischen Fernstraßennetzes in Mexico zwischen 1925-1945. Als Erbe der Kolonialzeit hatten sich die Infrastrukturmaßnahmen hier lange auf die Eisenbahn konzentriert. Erst nach 1920 rückte dann die Fernstraße als nationales Fortschrittsprojekt in den Vordergrund. Tatsächlich erweist sich der vom Staat initiierte Straßenbau als ein Katalysator für die Entwicklung wirtschaftlicher Potentiale und als ein gesellschaftspolitisch integrales Vorhaben.

Klaus Pirke (Rheinisches Industriemuseum Oberhausen) schließlich stellte Konzeption und Inhalte der Ausstellung „Abgefahren! Vom Straßenbau im Rheinland“ vor. Chronologisch wurde hier die Geschichte des Straßenbaus und der Verkehrsinfrastrukturentwicklung im Rheinland dargestellt. Im Kontext der musealen Aufbereitung des Themas Straße wurde noch einmal deutlich, wie eng Alltagsgeschichte und Infrastrukturgeschichte miteinander verbunden sind.

Anmerkungen:
1 Steininger, Benjamin, Raum-Maschine Reichsautobahn: Zur Dynamik eines bekannt-unbekannten Bauwerks, Berlin 2006
2 Müller, Uwe, Infrastrukturpolitik in der Industrialisierung, Berlin 2000
3 Kreuzer, Bernd, Tempo 130: Kultur und Planungsgeschichte der Autobahn in Oberösterreich, Linz 2005
4 Doßmann Axel, Begrenzte Mobilität. Eine Kulturgeschichte der Autobahnen in der DDR, Essen 2005
5 Gall, Alexander, „Gute Straßen bis ins kleinste Dorf!“. Verkehrspolitik in Bayern zwischen Wiederaufbau und Ölkrise, Frankfurt/Main 2006 (=Beiträge zur Historischen Verkehrsforschung, Bd. 7)
6 Zeller, Thomas, Straße, Bahn, Panorama. Verkehrswege und Landschaftsveränderung in Deutschland von 1930 bis 1990, Frankfurt/Main 2002 (=Beiträge zur Historischen Verkehrsforschung, Bd. 3)