Die lesende Frau: Traditionen, Projektionen, Metaphern im fächer- und epochenübergreifenden Vergleich

Die lesende Frau: Traditionen, Projektionen, Metaphern im fächer- und epochenübergreifenden Vergleich

Organisatoren
Gabriela Signori, Konstanz; Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel; gefördert von der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung, Köln
Ort
Wolfenbüttel
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.02.2006 - 24.02.2006
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Von
Gabriela Signori, Konstanz

Vom 22. bis zum 24. Februar 2006 fand im Bibelsaal der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel ein Arbeitsgespräch über „Die lesende Frau: Traditionen, Projektionen, Metaphern im fächer- und epochenübergreifenden Vergleich” statt, die ihr Thema im epochenübergreifenden Überblick von der Antike bis ins 20. Jahrhundert hinein behandelte. Sie leistet damit einen Beitrag zu einer Kulturgeschichte des weiblichen Lesens, deren Komplexität nur durch einen interdisziplinären Zugriff angemessen zu erfassen ist. Die Vortragenden rekrutierten sich daher aus unterschiedlichen Fächern, der Geschichts- und der Buchwissenschaft, der Volkskunde, Kunstgeschichte, Judaistik und Theologie.

Die Leiterin der Tagung, GABRIELA SIGNORI (Konstanz), führte in die Fragestellung ein, indem sie die wichtigsten Etappen vorstellte, welche die Geschichte des Lesens in den letzten vierzig Jahren zurücklegte. Über Hans Robert Jauss, Roland Barthes und Michel de Certeau führte der Weg zu Robert Darnton und Rogier Chartier sowie zu den mittlerweile zahlreichen anglo-amerikanischen Studien, die sich speziell mit dem Thema der lesenden Frau befassen. Im Anschluss daran fasste sie das Tagungskonzept zusammen, das um die drei Themenblöcke 1) die lesende Frau als Metapher in Wort und Bild, 2) die Frau als Adressatin und Leserin, und 3) Lesestoffe und Erziehungsmodelle für Frauen kreise. Das Hauptaugenmerk gelte indes vor allem der kulturellen Semantik, der Metaphorik der lesenden Frau, wie sie in Wort und Bild, von der Spätantike bis weit in die Moderne, mit wandelnder Bedeutung und wandelndem Lesestoff und wandelndem Schriftträger hundert-, wenn nicht gar tausendfach abgebildet worden sei. An diesem Grundgerüst orientierten sich auch die 16 Referate, die Bilder der lesenden Frau im diachronen Durchgang vom Hellenismus bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts untersuchten. Der diachrone Vergleich sollte es erleichtern, die kultur- und epochenspezifischen Partikularitäten zu profilieren.

Den Anfang machte JOHANNA FABRICIUS (Göttingen) mit ihrem Vortrag „Kleobulines Schwestern. Bilder lesender und schreibender Frauen im Hellenismus”. Das Aufkommen einer in hellenistischen Städten ausgeprägten Lesekultur spiegele sich seit dem 3. Jahrhundert v.d.Z. auch in der Bilderwelt wider. Während die Bilder Männer durch die Zufügung von Buchrollen als literarisch und philosophisch Gebildete charakterisierten, höben sie bei Frauen – die ebenso wie Kinder meist ein Schreibtäfelchen in den Händen hielten – eher ihre Lese- und Schreibfähigkeit hervor. Eine Ausnahme stelle ein rhodischer Grabaltar dar, dessen exzeptionelle Reliefszene mit der Wiedergabe einer gelagerten, in einer Buchrolle lesenden Frau ein genuin männliches Bildschema adaptiere. Ein dichtes Netz epigraphischer und literarischer Quellen belege, wie stark die Frauen der vermögenden Oberschicht im sozialen und ökonomischen Leben der internationalen Handlungsmetropole Rhodos involviert gewesen wären. In der Bildmetapher der gelagerten, lesenden Frau flössen somit mehrere Aspekte zusammen: eine in anderen hellenistischen Städten undenkbare Transgression konventioneller Geschlechtergrenzen sowie eine gleichsam lokalpatriotische Verknüpfung der eigenen Identität mit dem Ruf der Stadt Rhodos als hellenistischer Bildungshochburg.

Im Anschluss daran beschäftigte sich CHRISTIANE KUNST (Potsdam) mit den „Lesenden Frauen im antiken Rom”. Sie bot eine kurze Übersicht über die Bilder des Lesens von der späten Römischen Republik bis in die Spätantike. Weibliches Lesen in der Oberschicht wurde als zweckgebunden dargestellt. Es stehe in engster Beziehung zur Aufgabe der römischen Matrone als Leiterin des Haushalts und Ehefrau. Entsprechend sei der ihr zugeschriebene Lesestoff Ausweis ihres Geschlechts wie ihres Alters. Er bereite sie auf ihre Rolle als gebildete Unterhalterin vor, die in Korrespondenz zu ihrem Status Mann und Gästen eine Zuhörerin, wenn nicht Gesprächspartnerin zu sein habe. Im bildlichen Diskurs werde dies durch die Schreibtafel kommuniziert, die als Medium weiblicher Literalität diene. Dargestellt werde die Frau meist als Rezipientin des männlich geschriebenen Wortes, als Adressatin seiner Briefe, als Kritikerin seiner Textproduktion, als Revisorin der Haushaltsbücher. Daran ändere prinzipiell auch die stärkere philosophische Bildung der Frauen seit dem 1. Jh. n.Chr. nichts, die den Gatten in die Erzieherrolle gegenüber seiner Frau rücke. Das Thema sei auch bildlich verarbeitet worden. Im Mittelpunkt des literarischen Bildes einer lesenden Gattin stehe die Harmonie des Paares.

Die dem Mittelalter gewidmeten Beiträge eröffnete KATRINETTE BODARWÉ (Göttingen) mit ihrem Vortrag „Cum dialogum accepisset in manum et studiose intendisset legendum. Lesende Frauen im Frühen Mittelalter“. Seit den Anfängen des Christentums sei ein Gott geweihtes Leben ohne die Beherrschung der Kulturtechnik des Lesens kaum denkbar gewesen. Tatsächlich gehe die Verbindung von religiöser Lebensweise mit der Kulturtechnik des Lesens bis in die Anfänge des Christentums zurück. Dieses sei auf eine bereits existierende Kultur der Schriftlichkeit getroffen, und die Festigung der Glaubenslehre ginge daher einher mit dem schriftlichen Niederschlag: Der christliche Glaube manifestiere sich als Buchreligion, und Lesen sei daher eine natürliche Art der Rezeption. Kirchenväter wie Hieronymus sähen das Lesen als grundlegende religiöse Übung an, legten aber großen Wert darauf, die Inhalte dieses Lesens christlich zu bestimmen und heidnisch-klassische Bildungsinhalte zu vermeiden. Ihren Vorgaben folgten auch weitgehend die Vorstellungen für eine angemessene Bildung von Frauen in der Spätantike und im frühen Mittelalter. Grundsätzlich habe für alle, die ihr Leben Gott widmen wollten, gegolten: Omnes litteras discant (Caesarius von Arles). Mit der Entstehung der Volkssprachen und ihrer Abgrenzung vom Lateinischen sowie dem Verlust der spätantiken Kulturtradition habe sich aber die Bedeutung des Termini litteras discere oder legere verschoben. Die bildlichen Darstellungen verdeutlichten bis ins 11. Jahrhundert hinein, dass das Buch zur Kennzeichnung von Sanktimonialen oder heiligen Frauen diene. Wer las, war zum Ordo der Oratores, der Betenden zu zählen.

JEFFREY HAMBURGER (Harvard) stellte in seinem Referat „Representations of Reading – Reading Representations: The Female Reader from the Hedwig Codex to Châtillon's Léopoldine au Livre d'Heures” grundlegende, an den Doppelsinn des Ausdrucks „reading representations” anknüpfende Überlegungen zur mittelalterlichen Darstellung des Lesens an, die der uns geläufigen Selbstverständlichkeit von literacy zuwiderliefen. Im Mittelpunkt seiner Ausführungen steht vor allem der Vorgang des Lesens als selbstreferentielles Bildsujet. Zahlreiche Handschriften zeigten Verfasser, Schreiber und Leser bei der Herstellung und Benutzung ebensolcher Objekte, wie sie der Betrachter selbst in den Händen halte. Beobachtbar sei eine allmähliche Verlagerung des Schwerpunkts vom Körper zum Buch, bis schließlich letzterer zur Schreibfläche werde, in welcher Wort und Bild zusammenfallen. Im Mittelpunkt seines Interesses stand die ganzseitige Abbildung der Heiligen Hedwig von Schlesien aus dem Hedwigs Codex, der 1353 im Auftrag ihres Urenkels Herzog Ludwig I. von Liegnitz und Brieg hergestellt wurde.

ANNE BOLLMANN (Groningen) beschäftigte sich unter dem Titel „Dies pflegten ihre Schutzschilde zu sein. Lesekult und Leseskepsis in den Frauengemeinschaften der Devotio moderna“ mit der Lesekultur in den Frauengemeinschaften der spätmittelalterlichen Frömmigkeitsbewegung der Devotio moderna. In den Sammlungen mit Schwesternbiografien des ausgehenden 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts, die aus einem Zirkel von Konventen in der heutigen niederländisch-deutschen Grenzregion überliefert sind, werde der tägliche Umgang devoter Frauen mit Buch und Schrift thematisiert. Die „lesende Frau“ erscheine in den Texten als (metaphorisches) Motiv, als „lebendes Exempel“ im klassisch-didaktischen Sinn, als erziehende und zu erziehende Instanz sowie als aktive Teilnehmerin an den individuellen und gemeinschaftlichen Schreibaktivitäten im Konvent, deren intendierte Adressatin sie zugleich darstelle. Die von und für devote Schwestern in der Volkssprache abgefassten Lebensbeschreibungen zeigten, dass die regelmäßige Lektüre als eine Tätigkeit betrachtet wurde, die sowohl für das Erreichen der persönlichen Kontemplation hilfreich war wie auch für die gegenseitige Belehrung und Förderung des Gemeinschaftsgefühls. Das (Vor-)Lesen sei in diesem Zusammenhang als förderlich für die fruchtbare Wechselbeziehung zwischen der Oral- und der Schriftkultur im Konvent angesehen worden. Gleichzeitig dokumentierten die Schwesternbiografien aber auch die deutliche Skepsis der Konventualinnen gegenüber der Vorstellung, dass geistliche Lektüre als Lern- und Lehrmittel eine Vorrangstellung einzunehmen habe.

THOMAS LENTES (Münster) sprach über „Gebetbücher in Frauenhänden“, wobei entsprechend den Gebetsformen drei verschiedene Arten spätmittelalterlicher Gebetbücher unterschied: zum einen liturgische Gebetbücher, die im Chor Verwendung fanden, zum anderen liturgische Gebetbücher im Privatgebrauch einzelner Nonnen, zum dritten Gebetbücher zur Privatnutzung, die im 11. Jahrhundert aufgekommen seien. Zum Modebuch geworden sei das Gebetbuch indes erst im 13. Jahrhundert. Nonnenkonvente seien prinzipiell Lesegemeinschaften gewesen. Lectio bedeute in diesem Kontext aber immer auch Vorlesen bzw. Zuhören. Gelesen worden sei im Werkhaus, Refektorium, Dormitorium bzw. in der Zelle. Die in den Gebetbüchern für Nonnen enthaltenen Texte enthielten wenig Ordensspezifisches. Gleichsam sei die Heterogenität der Gebetstexte bemerkenswert. Kaum ein Gebetbuch zur privaten Nutzung gleiche dem anderem. Manch eine Nonne habe auch mehrere Exemplare besessen. Bemerkenswert seien schließlich auch die „Regieanweisungen“ im Text, wie die Gebete gelesen werden sollten.

KLAUS SCHREINER (Bielefeld/München) lieferte einen Vortrag zum „Lesen und lesen lernen in heilsgeschichtlichen Kontexten. Maria und ihre Mutter Anna als Symbolfiguren weiblicher Lesekultur“. Da die lesende Maria keine Frage historischer Faktizität sei, verdanke sie ihre Existenz der Vorstellungskraft mittelalterlicher Theologen, die sich die Mutter des Erlösers nur als gebildete, lesefähige Frau vorstellen konnten. Fromme Imagination verwandele die biblische, mit einem Handwerker verehelichte „Magd des Herrn“ in eine Frau, die sich mit Büchern befasste und die sieben freien Künste beherrschte. An Hand des Psalters hätte ihr ihre Mutter Anna das Lesen beigebracht. Maria ihrerseits habe sich einer ABC-Tafel bedient, um ihren Sohn lesen zu lehren. Als lesende Gottesmutter erfülle Maria die Funktion einer Symbolfigur, die Frauen zum Lesen andachtsbildender Schriften anspornte und darüber hinaus legitimierte, was die mittelalterliche Gesellschaft Frauen gemeinhin vorenthielt: den Erwerb religiöser Bildung, die als Ort der Selbstfindung zu selbstständigem Denken und Verhalten anleite.

Der Beitrag von DAGMAR EICHBERGER (Heidelberg) leitete in die frühe Neuzeit über. Unter dem Titel „Una libreria per donne assai ornata et riccha. Frauenbibliotheken des 16. Jahrhunderts zwischen Ideal und Wirklichkeit“ ging es um weiblichen Buchbesitz. Im 15. und 16. Jahrhundert habe es unzählige Frauen gegeben, die einzelne Bücher besaßen, aber nur wenige, die sich den Luxus einer eigenen Bibliothek hätten leisten können. Margarete von Flandern, Isabella von Kastilien und Margarete von Österreich taten dies auf Grund ihrer hervorgehobenen sozialen Stellung und ihres persönlichen Reichtums. Humanisten wie Erasmus von Rotterdam und Juan Luis Vives äußerten sich in ihren Schriften zu weiblicher Bildung und Gelehrsamkeit und verknüpften das kontrovers diskutierte Thema mit Fragen weiblicher Moral und dem sich wandelnden Rollenverständnis von Mann und Frau. Die Bibliothek Margaretes von Österreich lasse erkennen, dass die Regentin der Niederlande keine Bibliothek speziell für Frauen (una libreria per donne) eingerichtet, sondern andere Kriterien angelegt habe. Ihre Rolle als Stellvertreterin des Kaisers und als Erzieherin des habsburgischen Nachwuchses trüge wesentlich zum Charakter ihrer Büchersammlung bei. Angelegt worden sei eine Bibliothek von enzyklopädischer Breite, die der Tradition der berühmten Burgunderbibliothek Rechnung trug und ihrem Herrschaftsanspruch Ausdruck verlieh.

BIRGIT KLEIN (Heidelberg) befasste sich in ihrem Referat über „‚Ze’ena u-re’ena‘“:‚Geht hinaus und seht, Töchter Zions‘ (Hoheslied 3,11). Jüdische ‚Weiberbibeln‘ in der Frühen Neuzeit“ mit einer speziell an jüdische Frauen gerichteten Überlieferung. Das Werk Ze’ena u-re’ena, auf Jiddisch auch „Weiberbibel“ genannt, ist keine Übersetzung der Hebräischen Bibel, sondern vielmehr eine Anthologie der wichtigsten religiösen Literatur seit der Antike, auf Jiddisch zusammengestellt um 1600 von R. Jakob b. Isaak Aschkenasi aus dem polnischen Janov zu den am Sabbat in der Synagoge gelesenen Wochenabschnitten des Pentateuch und aus den „Propheten“ sowie zu den fünf Festrollen Hoheslied, Ruth, Klagelieder, Kohelet und Esther. Ze’ena u-re’ena sei bis ins 20. Jahrhundert in mehr als zweihundert Ausgaben gedruckt und als wesentliche Bildungs- und Erziehungsgrundlage für Frauen angesehen worden. Aus dieser Standardlektüre am Sabbatnachmittag hätten Frauen allein oder in Gruppen gelesen und auch ihren Kindern vorgetragen. Ze’ena u-re’ena habe Frauen in mehrerlei Hinsicht angesprochen: Das Werk biete ihnen erstmals die Möglichkeit, Teile der ihnen sonst weitgehend unzugänglichen „mündlichen Tora“ kennen zu lernen, die seit der Antike die „schriftliche Tora“, die Hebräische Bibel, auslege und fortführe und u. a. im Babylonischen Talmud redigiert vorliege.

ANTJE FLÜCHTER (Münster) stellte in „Gelehrte Empfindsamkeit. Sophie La Roche schreibt sich ihren Weg zwischen den Geschlechtern“ die Frage, wie gebildete Frauen mit dem Umbruch um 1800 umgingen. Sie untersuchte dabei, wie sie sich gegenüber der Polarisierung der Geschlechtscharaktere und dem Wandel vom frühaufklärerischen Ideal der gelehrten zur empfindsamen Frau positionierten und sich die Argumente und neuen Verhaltensnormen aneigneten. Mögliche Antworten finden sich in der von Sophie von La Roche herausgegebenen Zeitschrift Pomona - Für Teutschlands Töchter, und zwar in dreierlei Hinsicht: 1. der dort vertretene Begriff der Gelehrsamkeit; 2. die dort auffindbaren zwei Varianten weiblicher Lebensgestaltung, d.h. der Kontrast zwischen den in den Länderberichten vorgestellten gelehrten Frauen einerseits und der empfindsamen und gebildeten Hausfrau andererseits, wie sie als Ideal in den Briefen an Lina erscheine; 3. die dort gegebenen Leseanweisungen, die zum einen das stille Lesen empfahlen und zum anderen dafür plädierten, innerhalb des Lesestoffes auszuwählen, wobei trotz einer spielerischen Selektion das einmal Gewählte ernsthaft zu überdenken sei. La Roche weiche zumindest graduell von den hegemonialen, vor allem in männlichen Erziehungsratgebern vertretenen Vorstellungen ab, wie Frauen lesen und sich Wissen aneignen sollten.

KARIN SCHMID-KOHBERG (München) ging in ihrem Beitrag den „Repräsentationen gelehrter Frauen in Frauenzimmerlexika des 17. und 18. Jahrhunderts“ nach. In der Frühen Neuzeit seien die intellektuellen und moralischen Fähigkeiten von Frauen und das Wesen der Frau allgemein breit diskutiert worden. Einen Niederschlag gefunden habe die Diskussion auch in den sogenannten Frauenzimmerlexika, Sammlungen von (Kurz-)Biografien gelehrter Frauen), welche im 17. und 18. Jahrhundert im Alten Reich in deutscher Sprache erschienen. Die Referentin erläuterte, wie sich die Autoren dieser Werke zu den geistigen Fähigkeiten von Frauen und damit auch ihren Möglichkeiten zur Lektüre äußerten. In einem weiteren Schritt legte sie dar, zu welchem Zweck sich Frauen in den Augen der Verfasser mit „gelehrten" Fragen und Themen beschäftigen sollten, bevor sie analysierte, welche intellektuellen „Leistungen“ den weiblichen Personen konkret zugesprochen wurden. Dabei spiele der Zusammenhang von Gelehrsamkeit auf der einen und Tugend und gottgemäßem Leben auf der anderen Seite eine Rolle.

ALFRED MESSERLI (Zürich) beschäftigte sich in seinem Beitrag „Gebildetes versus gelehrtes Frauenzimmer: Scheingefecht oder eigentliche Kontroverse des 17. und des 18. Jahrhunderts", mit dem Wertewandel, der sich an der Schwelle zur Neuzeit in Bildungsfragen abzeichne. Indes stand nicht das Lesen, sondern das Schreiben im Blickpunkt seiner Aufmerksamkeit. Dass Mädchen schreiben lernen (das Schreiben von Liebesbriefen), dagegen hätte früher die Möglichkeit des Missbrauches gesprochen. Fortan aber beunruhigte die Gefahr der weiblichen Gelehrtheit. Unter Gelehrtheit sei eine, bezogen auf die Geschlechterrolle disfunktionale, meist literarische “Überbildung“ verstanden und disqualifiziert worden. Die Unterscheidung gehe auf Christian Fürchtegott Gellert zurück. Frauen aus dem Bürgertum sollten gebildet, aber nicht gelehrt sein. Ihre Bildung habe sich in der Öffentlichkeit und in der Unterhaltung mit dem Ehegatten, als Status- und Identitätsarbeit, zu bewähren. Weibliche Gelehrtheit hingegen laufe, so Gellert, entweder auf Dilettantismus hinaus oder aber stoße in der professionellen Variante an die Grenzen der weiblichen Rolle.

GABRIELE MÜLLER-OBERHÄUSER (Münster) schloss in ihrem Referat „Lesende Mädchen und Frauen im Viktorianischen England: Lesebiografische (Re-)Konstruktionen“ methodisch an die neusten Forschungen zu Lesekompetenz, Lese- und literarischer Sozialisation an. Diese fragte nach der Lesesozialisation („wie wird ein Kind zum Leser?“) und nach dem Stellenwert des Lesens im Lebenslauf des einzelnen (Identitätsentwicklung, Krisenbewältigung, sozialer Aufstieg usw.). Für das Viktorianische England müsse das Wert- und Normgefüge zu den Geschlechterrollen, wie es durch die ausgeprägte separate spheres-Konzeption und die Vorstellung von der Funktion der Frau als Angel in the House bestimmt ist, als Kontext für die Einschätzung des Lesens von Mädchen zugrunde gelegt werden. Solche Vorstellungen seien in besonderem Maße in den Mädchenzeitschriften wie in The Girl’s Own Paper und in Ratgeberbüchern für Mädchen der Mittelschicht verbreitet worden. Den normativen Aspekten setzte die Referentin die lesebiografischen Rekonstruktionen anhand ausgewählter Autobiografien als Versuch entgegen, sich der Realität des Lesens der Mädchen des Viktorianischen England anzunähern.

GABRIEL KATZENSTEIN (Zürich) befasste sich in seinem Beitrag „Et in Arcadia lego. Über die Literalität der -Mélancolie sur l’herbe_ von Camille Corot“ mit Corots Gemälde La petite liseuse aus der Sammlung Oskar Reinhart „Am Römerholz“. Darauf zu sehen ist eine Schäferin in italienischer Tracht, die in freier Natur ein Buch liest. Die Tätigkeit des Lesens überrasche, zumal eine Hirtin, selbst in der Mitte des 19. Jahrhunderts, nicht unter die Leser gerechnet werden könne. "Wie viel Sinn hatte Corot im Sinn?" Fragte Katzenstein. Bislang habe die Kunstwissenschaft gebetsmühlenartig die „Poesie“ des Winterthurer Gemäldes hervorgehoben und die „bergère lisant“ summarisch unter die „figures de fantaisie“ subsumiert, also als Mischung von Porträt, Genreszene und Allegorie gedeutet. Dass dieses Figurenbild durchaus kein Einzelfall innerhalb der Kunstgeschichte darstelle, sondern sich in eine lange Typologie einreihen lasse, habe dagegen kaum Beachtung gefunden. Der Referent verfolgte die Bildmotivketten „Lesen im Freien“ und „lesende Hirtinnen“ zurück, wob sie kulturgeschichtlich in den internationalen Kontext ein und zeichnete die Entwicklung des Bildgedankens und dessen Bedeutung als „personnification artificielle“ bzw. Melancholie nach.

FRITZ NIES (Düsseldorf) ging dem Themenkomplex „Frau und Lektüre in der Karikatur“ nach. Da Karikaturen zur Gewinnung verlässlicher Daten der Lesegeschichte kaum geeignet schienen, blieben sie von der lesehistorischen Forschung üblicherweise ungenutzt. Dennoch sei die mißachtete Quellenart aufgrund ihrer Aktualitätsnähe, ihrer überzeichnend-typisierenden Verfahrensweise und ihrer Grundabsicht des ridendo castigare mores nicht wertlos. Im Zerrspiegel zeige sie – burschikoser als andere Kunstgenres – wie Leser und Lektüre nicht sein sollten. Wo Lesen bloße Satire-Beigabe ist, enthülle die Karikatur Denkmuster, die in Schichten des kollektiven Unbewussten hinabreichten. Als Grundlage dienten rund 2.000 Leseszenen vor allem aus Mittel- und Westeuropa, welchen Konstanten und Wandlungen folgender, mit männlichen Lesefans kontrastierter Typen zu entnehmen seien: die aktive Lesefeindin, die Gleichgültige, die interessierte Zuhörerin, die Mitleserin und die autonome Leserin. Im Blickfeld erscheinen so u.a. Affinitäten zu bestimmten Lesestoffen (Buch und bes. Liebesroman vs. männliche Zeitungslektüre), Auf- und Abwertung des Leseverhaltens beider Geschlechter, Schnittmengen und Divergenzen zwischen Nationalkulturen bzw. zwischen Oberschicht- und Unterschicht-Leserin.

Die Diskussionsrunde schloss URSULA RENNER (Duisburg-Essen) mit ihrem Beitrag zu Pablo Picassos Deux personnages (1934), dem sie den Untertitel "Lesen im Zeichen von Melancholie und Versenkung“ verlieh. Sie räumte ein, es sei zunächst nicht ganz leicht einzusehen, was an diesem Bild von Picasso (Kunstmuseum von Winterthur, ca. 80 x 65 cm; 1934) im Zusammenhang der Tagung interessant sein könne. Doch handele es sich um eine interessante, in vielerlei Hinsicht fassbare Hybridisierung dessen, was man die Ikonographie „klassischer“ Lesesituationen nennen könne. Da sei zum einen die Situation der weiblichen Lesenden als bevorzugtes Sujet der Genremalerei – hier gewendet in die Ausnahmesituation der Lektüre zu zweit. Zum andern schreibe sich das Bild in die ikonographische Tradition der „süßen Melancholie“ und der „Meditation“ ein, die es gleichzeitig aber refiguriere oder überbiete, wenn die beiden historisch als Pendants entworfenen Allegorien zu einer Szene der Unterweisung oder der gemeinsamen Lektüre fusioniert würden, über dessen formales Arrangement ein weiterer Bildtypus ins Spiel gebracht wird, das Freundschaftsbild. Dass alle diese Fusionen und Hybridisierungen nicht stillstünden, sondern sich wie immer bei Picasso in einem permanenten Selbstbefragungsmodus dynamisierten, hänge mit weiteren formalen Strategien zusammen. Da sei nämlich noch die schwarze Fläche des Bildgrundes und das cartellino, womit sich das Dargestellte als ein auf einer Leinwand arrangiertes Ensemble aus Formen und Farben präsentiere. Mit dem silbrigen Rahmen rufe der Künstler aber auch das Erinnern im Medium der Fotografie auf und überbiete es mit seiner Farbenlust. So werde das Dargestellte und das Gemalte noch einmal reflexiv aufbereitet für den Betrachter – der nun seinerseits in das historische Spiel von Mimesis und trompe l’oeuil, dessen Spezialform des Quodlibets hier noch durchscheine, und in das komplexe Zeichenspiel des Kubismus im Feld von Mimesis und Abstraktion hineingenommen werde.

Am Ende der Tagung waren sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer einig, dass der Gewinn, der durch den fächerübergreifenden und epochenüberschreitenden Zuschnitt der Tagung erzielt wurde, nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Unabhängig vom konkreten Untersuchungsgegenstand sei deutlich geworden, dass wir vieles, ohne es zu realisieren, durch die Lektüre-Brille des 19. Jahrhunderts gesehen hätten. Die Kontinuitätsproblematik erschiene nach der Tagung in einem ganz anderen Licht. Eindeutig mehr Aufmerksamkeit müsse man in dem Sinne künftig den Unterschieden schenken. Auch von Gemeinsamkeiten war die Rede. Zumal auf der normativen Ebene würden über die Zeiten und Kulturen hinweg bestimmte Bucharten / Lesestoffe mit bestimmten Lesergruppen verknüpft, die einen in Gestalt einer Empfehlung, die anderen als Verbot, für Frauen jeweils andere als für Männer. Damit verbunden seien ebenso zeit- und kulturenübergreifende Vorstellungen von der Kraft bzw. Macht des Buches auf den Geist des Lesers, eine Kraft, die eben keineswegs immer als eine positive begriffen worden sei. Auch auf der Ebene der Bilder erweist sich das Buch, das Buch in Frauenhänden, als polyvalenter Bedeutungsträger. Über die Jahrhunderte hinweg stand dieses Buch für Frömmigkeit. In dem Sinne wäre ein Vergleich mit anderen Buchreligionen der Welt ein Desiderat für den Sammelband, der 2007 in den 'Wolfenbütteler Forschungen' erscheinen wird.