HT 2006: Von der „teilnehmenden Beobachtung“ zur „Entwicklungspolitik“: Anthropologie, Sozialwissenschaften und der Kolonialismus (1800-1960)

HT 2006: Von der „teilnehmenden Beobachtung“ zur „Entwicklungspolitik“: Anthropologie, Sozialwissenschaften und der Kolonialismus (1800-1960)

Organisatoren
Andreas Eckert, Universität Hamburg; Alexandra Przyrembel, Universität Göttingen; Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD)
Ort
Konstanz
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.09.2006 - 22.09.2006
Von
Julia Hauser, Universität Göttingen

Die von Andreas Eckert (Hamburg) und Alexandra Przyrembel (Göttingen) geleitete Sektion „Von der ,teilnehmenden Beobachtung’ zur ,Entwicklungspolitik’: Anthropologie, Sozialwissenschaften und der Kolonialismus (1800–1960)“ untersuchte das Thema des Historikertages in seiner metaphorischen Dimension, indem sie das Selbstbild Europas vor dem Hintergrund seiner „entangled histories“ mit der außereuropäischen Welt betrachtete. Leitfrage der Sektion war dabei eine in der neueren Kolonialgeschichte entwickelte Überlegung: Inwiefern beeinflusste die koloniale Situation auch die Verhältnisse in der Metropole, und welche Rückwirkungen hatte dies wiederum auf die kolonialen Machtverhältnisse bzw. die Beziehungen zwischen Europa und seinen ehemaligen Kolonien? Untersucht werden sollten diese Wechselwirkungen mit Blick auf das Verhältnis zwischen Anthropologie, Sozialwissenschaften und Kolonialismus, das im Unterschied zur deutschen Forschung im englisch- und französischsprachigen Raum bereits seit Jahrzehnten Beachtung erfährt. Dabei fragten Eckert und Przyrembel insbesondere, welche Konsequenzen das im Zuge des Kolonialismus entstandene dichotomische Weltbild für die Ausdifferenzierung der Wissenschaften gehabt habe, welche epistemologischen Annahmen und welche Praktiken sich in diesem Prozess herausgebildet hätten, von welchen Akteuren er getragen worden sei und an welchen Orten er sich abgespielt habe.

Im ersten Vortrag der Sektion, „Innere und äußere Mission und die Entstehung der Sozialwissenschaften“, problematisierte Rebekka Habermas (Göttingen) die Herausbildung sozialwissenschaftlicher Praktiken der Beschreibung und leitete sie aus dem Kontext der religiös geprägten Beschäftigung mit sozialer Ungleichheit im Rahmen der Inneren und Äußeren Mission her.

Zunächst erläuterte Habermas die Begriffe der Inneren und Äußeren Mission in ihrer zeitgenössischen Verwendung. Der Begriff der Inneren Mission, geprägt von Johann Hinrich Wichern, verweise auf die sittlich-moralische Deutung sozialer Ungleichheit sowie das Bestreben, die eigene Gesellschaft zurück zum Glauben zu führen. Die Forschung habe den Begriff der Inneren Mission übernommen und so das katholische Engagement in den Hintergrund gerückt. Habermas, die das Handeln beider Konfessionen in den Blick nimmt, bevorzugt daher den Begriff der „religiösen Sozialarbeit“. Sowohl auf protestantischer als auch auf katholischer Seite habe die Beschäftigung mit sozialer Ungleichheit zur Bildung neuer Institutionen und Organisationsformen geführt. Seit der zweiten Jahrhunderthälfte sei eine außerordentlich starke Zunahme dieser Aktivitäten zu verzeichnen. Auch die Äußere Mission habe im 19. Jahrhundert mit der Gründung zahlreicher Missionsvereine einen Aufschwung erlebt. Diese hätten von Europa aus die Arbeit der Missionen unterstützt und so als wichtiges Bindeglied zwischen den Aktionsgebieten der Mission und Europa agiert. Insgesamt habe die religiöse Sozialarbeit im 19. Jahrhundert in ganz Europa eine in der historischen Forschung bislang unterschätzte Massenbewegung dargestellt.

Zwischen Innerer und Äußerer Mission habe ein so enger Zusammenhang bestanden, dass sich, modern gesprochen, „Synergieeffekte“ auf verschiedenen Ebenen feststellen ließen. Innere und Äußere Mission arbeiteten mit identischen Prämissen, indem sie materielle Not in großen Teilen der europäischen Gesellschaft und bei den „Heiden“ als Ursache religiöser Entfremdung bzw. mangelnden christlichen Glaubens interpretierten. Sie nahmen die Objekte ihrer Fürsorge ähnlich wahr, diagnostizierten bei ihnen ähnliche Laster, entwickelten ähnliche Strategien zu ihrer Behandlung. Schon die Zeitgenossen hätten die Parallelen zwischen beiden Tätigkeitsfeldern hervorgehoben.

Neben den inhaltlichen seien jedoch auch personelle Überschneidungen und Verflechtungen festzustellen. Habermas nimmt hier u. a. Bezug auf Johann Hinrich Wichern und Friedrich von Bodelschwingh, die sowohl auf dem Feld der Inneren wie dem der Äußeren Mission aktiv gewesen seien. Daneben habe auf dem Gebiet der religiösen Sozialarbeit ein Transfer von Ideen und Praktiken über nationale Grenzen hinweg stattgefunden. So seien etwa die Schriften über französische Kongregationen europaweit verbreitet worden. Über Reisen hätten Protagonisten der religiösen Sozialarbeit wie Wichern die Verhältnisse außerhalb ihres eigenen Landes kennen gelernt. Daneben hätten Organisationen in unterschiedlichen Staaten miteinander in Verbindung gestanden, im Ausland Zweigstellen errichtet bzw. internationale Dachverbände gegründet. Entstanden sei so ein zwar konfessionell orientierter, jedoch transnational funktionierender Kommunikationsraum, der die Rekonfessionalisierung nicht als reaktionäres Moment, sondern geradezu als „Motor der Globalisierung“ ausweise.

Seine Entstehung verdanke er der äußerst effektiven Nutzung moderner Medien durch die Organisationen: selbst der kleinste Verein habe über ein eigenes Organ verfügt. Periodika wie das Baseler „Magazin für die neueste Geschichte der evangelischen Missions- und Bibelgesellschaften“ seien in hoher Auflage und mitunter in mehreren Sprachen erschienen, und auch die illustrierten Familienblätter hätten über die Aktivitäten von Innerer und Äußerer Mission berichtet. So hätten diese Zeitschriften als transnationale Foren fungiert, welche die großen sozialen Fragen des Jahrhunderts „mit globalem Deutungsanspruch“ thematisiert hätten.

Über diese starke mediale Präsenz habe die religiöse Sozialarbeit mittelbar auch die Debatten der Sozialwissenschaften mitstrukturiert. Die in den Zeitschriften abgedruckten Beiträge hätten sich derselben Methoden bedient wie sie zeitgleich von Pionieren der Sozialwissenschaften wie Henry Mayhew oder Friedrich Engels entwickelt worden seien, und hätten so wissenschaftliche Autorität beanspruchen können. Auch die Richtung der später von den Sozialwissenschaften formulierten Fragestellungen sei in den Organen der religiösen Sozialarbeit vorgegeben worden. Auf diese Weise habe die religiöse Sozialarbeit einen wichtigen Beitrag zur Genese der Modi und Verfahren der Beschreibung in den Sozialwissenschaften geleistet.

Alexandra Przyrembel untersuchte in ihrem Vortrag „Teilnehmende Beobachtung: Die London Missionary Society, die ‚Wilden’ der ‚Südsee’ und der Stadt im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts“ Genese und Umstände dieser Art der Beschreibung. Diese sei – so ihre These – nicht erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts von dem Ethnologen Bronislaw Malinowski, sondern schon von Vertretern der Mission um 1800 erfunden worden. Ihren Texten sei bereits jene charakteristische Intimität eigen, die von der akademischen Ethnologie als Voraussetzung für das Verständnis anderer Kulturen definiert werde. Gleichzeitig arbeiteten sowohl Malinowski als auch die Missionare mit Techniken des „Othering“, indem sie eine wissenschaftlich-distanzierte Erzählperspektive mit moralisierender Deutung kombinierten. Auf diese Weise sei die Position des Betrachters in beiden Fällen durch ein Oszillieren zwischen Nähe und Distanz gekennzeichnet.

Die „London Missionary Society“, gegründet zu einer Zeit, als die Reiseberichte Cooks die Südsee zum Fokus kolonialer Begierde werden ließen, errichtete 1795 ihre erste Station auf Tahiti, das den Missionaren aufgrund der religiösen Bräuche der Einwohner als der „Sitz des Satans“ erschien. Als Beispiel für die Schriften der privat finanzierten Gesellschaft wird der Bericht George Turners, „Nineteen Years in Polynesia“, vorgestellt. Für Turner, dessen Bericht zunächst Ankunft und Aufbau der Station, anschließend Lebensgewohnheiten und religiöse Praktiken der Einwohner schildere, eröffne sich erst durch teilnehmende Beobachtung eine gewisse Rationalität der „Wilden“ von Samoa. Nähe und Intimität seien Voraussetzungen für den Kulturkontakt, wobei der Autor gleichzeitig seiner Frustration angesichts von Missverständnissen Ausdruck verleihe und sich durch moralisierende Urteile von den Objekten seiner Beobachtung distanziere. Dies gelte auch für die Aufzeichnungen des Missionars David Darling. Immer wieder sei in ihnen die Rede von den alltäglichen Widernissen im Kontakt mit den Südseebewohnern, den Mühen des Erlernens der Sprache als Voraussetzung von Predigt und Bibelübersetzung sowie von den religiösen Bräuchen der Bevölkerung. Religion erscheine bei Darling und Turner als Akt der Selbstvergewisserung, als kulturelle Praxis und auch als Instrument der Zivilisierung. Aus der Intimität der von ihnen praktizierten teilnehmenden Beobachtung ergebe sich eine Verunsicherung, eine verwirrende Komplexität: Einerseits würden die Einwohner der Südsee als Heiden stigmatisiert, andererseits ihre Bräuche rational begreifbar.

Auch die frühen stadtethnografischen Studien seit der Mitte des 19. Jahrhunderts verdankten, so Przyrembel, ihre Entstehung der teilnehmenden Beobachtung. Deshalb lasse sich in ihnen dieselbe Ambivalenz finden wie in den Berichten der Missionare, aber auch eine ähnliche Metaphorik, wie etwa der Titel von James Greenwoods Werk „The Wilds of London“ impliziere. Przyrembel lieferte eine kurze Analyse von Friedrich Engels’ Text „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“, wobei sie auf den religiösen Hintergrund des Autors, dessen Familie stark im pietistischen Umfeld Barmens verwurzelt gewesen sei, verwies. Auch wenn Engels die Voraussetzungen seiner Beobachtungen nicht explizit reflektiert und keineswegs alle Informationen aus teilnehmender Beobachtung gewonnen habe, so habe er sich doch wie die Missionare in der Südsee die Topografie seines Untersuchungsgebiets, der Slums, systematisch erschlossen. Genau wie ihre Berichte sei auch sein Text durch eine deutliche Spannung zwischen seinen politischen Forderungen und dem Ekel und der Irritation angesichts des Schmutzes sowie der vermeintlichen sittlichen Verwahrlosung der Stadtbewohner gekennzeichnet. Sowohl die Art der Beobachtung als auch die Ambivalenz von Situation und Reaktion des Beobachters, wie sie Malinowskis Tagebücher kennzeichneten, seien demnach bereits in den Berichten der Missionare und den stadtethnografischen Texten des mittleren 19. Jahrhunderts entwickelt worden. Die an den „Wilden“ der Südsee ausgebildeten Praktiken seien auf die „Wilden“ der Zivilisation übertragen worden; über die teilnehmende Beobachtung als Verfahren einer verwissenschaftlichten Ethnologie seien sie dann erneut in den außereuropäischen Raum gelangt.

Den leider entfallenen Vortrag Shalini Randerias (Zürich), „Die Ausgliederung des ‚Anderen’ aus der Moderne. Die Institutionalisierung dichotomischen Denkens in den Sozial- und Kulturwissenschaften im 19. und 20. Jahrhundert“, fasste Andreas Eckert kurz zusammen. Dabei beschrieb er, wie im Zuge des Kolonialismus seit den 1880er Jahren mit der Institutionalisierung der sozialwissenschaftlichen Disziplinen die imperiale Teilung auch in den Wissenschaften festgeschrieben worden sei. Während sich Fächer wie Soziologie, Politikwissenschaften und Nationalökonomie den europäischen Staaten der Moderne widmeten, seien als vormodern wahrgenommene Kulturen in den Gegenstandsbereich philologisch orientierter Spezialdisziplinen wie Indologie oder Sinologie verwiesen worden. Mit der Dekolonialisierung habe sich dies zwar gewandelt, indem die außereuropäische Welt unter dem Stichwort der „Entwicklung“ auch in die Sozialwissenschaften Eingang gefunden habe. Der Beginn des Kalten Krieges markiere jedoch die Geburtsstunde einer neuen Form von Spezialwissenschaft, der „area studies“. Das in ihnen produzierte Expertenwissen habe man u. a. zu strategisch-ideologischen Zwecken genutzt. Obwohl gegenwärtig heftig darüber debattiert werde, die „area studies“ neu zu organisieren, sei das dichotomische Denken im westlichen Wissenschaftssystem immer noch fest verankert.

Stephan Malinowski (Berlin/Harvard) reflektierte in seinem Vortrag „’Zahnstation hier unnötig, Afrikaner haben alle gute Zähne...’. Koloniales und post-koloniales Expertentum in der westeuropäischen Entwicklungshilfe für Afrika (1950er/60er)“ über die Kontinuitäten zwischen Kolonialismus und Entwicklungspolitik, die Frage, welche Rolle die Ethnologie in beiden Fällen spielte, die Wiedergeburt evolutionistischer Modelle im Rahmen der Modernisierungstheorie und schließlich über die in der Entwicklungspolitik angewandten Praktiken des „social engineering“.

Der Versuch, koloniale wie postkoloniale Gesellschaften zu „entwickeln“, sei bis in die 1960er Jahre von dem Bemühen gekennzeichnet gewesen, sie durch die Erzeugung von Konsumbedürfnissen in Absatzmärkte für europäische Exportgüter zu verwandeln – ein Prozess, dessen Beginn laut Malinowski um 1880 anzusetzen ist. Stellvertretend zitierte er aus den Memoiren Werner von Siemens’, der 1876 am Bau der Telegrafenlinie London – Kalkutta beteiligt war und die Notwendigkeit betonte, bei einheimischen Frauen den Wunsch nach einem komfortablen Heim zu wecken, damit diese ihre Männer zur Arbeit anhielten. Etwa siebzig Jahre später hob der Sohn des Präsidenten Roosevelt mit Bezug auf das vermeintliche beeindruckende Wissen seines Vaters, der nie Afrika besucht hatte, die Möglichkeiten des „development“ auf dem Kontinent hervor. Ähnlich argumentierte während eines Afrikaaufenthalts auch der Kaufmann, Theologe und spätere Bundestagspräsident Eugen Gerstenmaier.

Die Geschichte der Entwicklungspolitik zerfällt Malinowski zufolge in zwei Phasen, eine europäisch-koloniale und eine amerikanisch-postkoloniale. Mit Ende der europäischen Kolonialherrschaft habe sie nicht einen Rückgang, sondern eine Intensivierung erfahren. Je stärker Zwang und Gewaltproduktion zurücktraten, umso mehr sei die Bedeutung verwertbaren Wissens gewachsen. Insgesamt ließen sich im Zuge der Dekolonisierung mehr Kontinuitäten als Brüche beobachten. In Großbritannien, Frankreich und den Niederlanden entstammten die Akteure der Entwicklungspolitik dem kolonialen Apparat als immer noch kompetentestem Träger von Expertise. Gleiches treffe für den Entwicklungsfonds der EWG zu.

Obwohl man die Bedeutung der Ethnologie nicht überschätzen dürfe, habe sie doch seit dem Evolutionismus, der vom letzten Drittel des 19. Jahrhunderts an dominierenden Denkrichtung, die Möglichkeit der Veränderung von Gesellschaften hervorgehoben. Auch mit der Entthronung des Evolutionismus sei die Idee des Fortschritts nicht aus der ethnologischen Theorie verschwunden. Selbst der Ethnologe Bronislaw Malinowski, den man, obgleich stets unter dem Schutz des Kolonialismus tätig, vielfach als „reluctant imperialist“ bezeichnet habe, habe sich mit seiner „practical anthropology“ trotz Skepsis an der westlichen Zivilisierungsmission in den Dienst regierungsnaher Organisationen und des britischen Colonial Office gestellt. Vor allem in seinen Texten über Afrika habe Bronislaw Malinowski stets die Notwendigkeit der gezielten Anhebung materieller Bedürfnisse betont und damit einen ähnlichen Ton angeschlagen wie Jahrzehnte zuvor – unter freilich anderen Motiven – Werner von Siemens.

Mit der Modernisierungstheorie sei in den USA zeitgleich mit, jedoch unabhängig von den Entwicklungen in der europäischen Kolonialpolitik ein praxisbezogenes Denkmodell zur gezielten Förderung vom Wandel in den so genannten Entwicklungsländern entstanden. Ethnologen wie z. B. Clifford Geertz hätten hier auf vielfache Weise mitgewirkt. Wie schon zurzeit kolonialer Herrschaft sei die strategische Bedeutung der Beschäftigung mit Wandel durch die Anbindung an regierungsnahe bzw. staatlich finanzierte Institutionen untermauert worden. Anhänger der Modernisierungstheorie wie Margaret Mead seien von einem erstaunlichen Fortschrittsoptimismus beseelt gewesen und hätten einen „Sprung von der Steinzeit ins Atomzeitalter“ innerhalb weniger Jahrzehnte für möglich gehalten. Äußerungen wie diese ließen erkennen, dass es sich bei der Modernisierungstheorie um einen „Evolutionismus in neuem Gewand“ handele. Davon zeuge auch die Stufentheorie des einflussreichen Ökonomen, Historikers und Politologen Walt Whitman Rostow, der als leitendes Mitglied des „MIT Center for International Relations“ und als Sicherheitsberater der Präsidenten Kennedy und Johnson weit über die akademische Sphäre hinaus tätig war. Dass er daneben als Chefplaner Kennedys sowohl für die Entwicklung wie die Bombardierung Vietnams verantwortlich zeichnete, zeige die „Ambivalenz von Aufbau und Zerstörung“, die Entwicklungspolitik und Kolonialismus gleichermaßen inhärent sei.

Insgesamt seien unter dem Motto des „development“ die Bemühungen der späten Kolonialherrschaft und des frühen Kalten Krieges eine symbiotische Verbindung eingegangen. Ethnologische Expertise habe dabei eine entscheidende Rolle gespielt. Nicht nur auf die Karriere einzelner Wissenschaftler, sondern auch auf die Institutionalisierung ihrer Disziplin insgesamt habe sich diese Zusammenarbeit nachhaltig ausgewirkt.

Die von Eckert und Przyrembel organisierte Sektion hat auf ein für und in Deutschland lang vernachlässigtes Forschungsgebiet hingewiesen; dennoch bleiben einige Desiderate. Gern hätte man etwa in Alexandra Przyrembels Vortrag gehört, welche Definition der teilnehmenden Beobachtung eigentlich zugrunde gelegt wird: die ihres vermeintlichen „Erfinders“ Bronislaw Malinowski, eine in der heutigen Ethnologie gängige oder eine, die sich von beiden Positionen kritisch distanziert. An einer solchen Definition hätten die Beobachtungsumstände der Missionare und Engels’ gemessen werden müssen.
In Bezug auf Stephan Malinowskis Vortrag stellte sich die Frage, ob der Gedanke der Entwicklung wirklich erst mit Hochindustrialisierung und Imperialismus um 1880 aufkam und realistische Chancen auf Umsetzung erhielt. Denn bereits mit dem Verbot des britischen Sklavenhandels und der Gründung von Staaten wie Sierra Leone wurden vor dem Hintergrund des Verlustes der nordamerikanischen Kolonien gezielt Voraussetzungen für Absatzmärkte für britische Manufakturwaren geschaffen. Darüber hinaus entsandten Gesellschaften mit enger Verbindung zu Regierungskreisen wie die 1788 gegründete „Association for Promoting the Discovery of the Interior Parts of Africa“ Reisende, die im Rahmen einer enzyklopädisch angelegten Dokumentationstätigkeit auch ethnografische Informationen zur Sondierung potenzieller Absatzmärkte sammeln sollten.

Neben solchen Detailfragen ist anzumerken, dass alle Vorträge an Komplexität gewonnen hätten, wenn in ihnen stärker das Selbstverständnis der jeweiligen Wissenschaften untersucht worden wäre. Haben sie sich auch aus heutiger Sicht im Wechselspiel mit dem Kolonialismus entwickelt, so erscheint es doch ebenso wichtig, ihre Rhetorik daraufhin zu untersuchen, ob und wie sie sich von ihm und ihren vermeintlich dilettantischen Wegbereitern, im Falle der Sozialwissenschaften etwa der Inneren und Äußeren Mission, absetzten. Vor allem aber wurde der eingangs formulierte Anspruch der Sektion, einen transnationalen Blick auf die deutsche Geschichte zu werfen, nur teilweise eingelöst. Einzig Rebekka Habermas beschäftigte sich schwerpunktmäßig mit den Entwicklungen im deutschen Sprachraum, während bei Stephan Malinowski Ausführungen zur deutschen Ethnologie und ihrem Verhältnis zum Kolonialismus fehlten. Insgesamt aber kann die Stoßrichtung der Sektion begrüßt werden, und es ist zu hoffen, dass auch künftig die Wechselwirkungen zwischen Kolonialismus und Formierung der Wissenschaften die Aufmerksamkeit von Historikern und Historikerinnen finden werden.

http://www.uni-konstanz.de/historikertag/
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