HT 2006: Visuelle Konstruktion von Märtyrern in der Zwischen- und Nachkriegszeit

HT 2006: Visuelle Konstruktion von Märtyrern in der Zwischen- und Nachkriegszeit

Organisatoren
Christian Fuhrmeister, Zentralinstitut für Kunstgeschichte München; Stefan Zwicker, Johannes Gutenberg-Universität Mainz; Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD)
Ort
Konstanz
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.09.2006 - 22.09.2006
Von
Henning Bühmann, Universität Tübingen

Das Motto des diesjährigen Historikertages kann auf zwei unterschiedliche Weisen interpretiert werden. „GeschichtsBilder“ können einerseits im metaphorischen Sinn diejenigen Rekonstruktionen der eigenen und fremden Vergangenheit meinen, welche insbesondere die Anhänger kulturgeschichtlicher Ansätze besonders interessiert. Andererseits erinnert dieses Motto auch an die Forderung der Protagonisten des Iconic Turn nach verstärkter Berücksichtigung von Bildern als Quellen zur Geschichte. Die Organisatoren der Sektion „Visuelle Konstruktion von Märtyrern in der Zwischen- und Nachkriegszeit“ hatten es sich zum Ziel gesetzt, besonders die zweite Dimension im Auge zu behalten. Die Wahl des Themas, die Konstruktion von und Propaganda mit Märtyrern des 20. Jahrhunderts, erfolgte aber so, dass auch die erste Dimension, die Rekonstruktion der Vergangenheit zur Identitätsbildung im Blick blieb. Die Sektion passte also sehr gut in das Rahmenthema des Historikertages.

Die Leiter des Panels, der Kunsthistoriker Christian Fuhrmeister (München) und der Historiker Stefan Zwicker (Mainz), hatten durch eine paritätische Besetzung der Referate einen fruchtbaren Austausch zwischen den beiden Disziplinen intendiert. Den verschiedenen Beiträgen lag die gemeinsame These zu Grunde, dass die Konstruktion von „Märtyrerlegenden“1 im Wesentlichen über Bilder erfolge, welche auf ältere Vorbilder, gerade aus der christlichen Ikonografie, zurückgreifen. Ferner wurde betont, dass Interessen und Engagement der Nachwelt für die Entstehung der Erinnerung an die ‚Märtyrer’ von grundlegender Bedeutung sind. Die Erinnerung an das ‚Martyrium’ wird also im Wesentlichen durch die Bedeutungszuschreibung und Bildergestaltung der Nachwelt weiter getragen.

In der Sektion wurden Fallbeispiele für die Konstruktion von Märtyrerlegenden aus dem 20. Jahrhundert vorgetragen. Hiervon stammten drei aus dem Umfeld des Nationalsozialismus und eines aus dem sozialistischen Bereich. Die Referenten konzentrierten sich also auf die Konstruktion von Märtyrern in totalitären Systemen, bzw. von solchen, die von dieser Art System instrumentalisiert wurden. 2 Zweifellos wäre es interessant gewesen, als Kontrast auch die Konstruktion eines Märtyrerbildes in einem liberal-demokratischen Kontext zu analysieren.

Insgesamt waren die vorgestellten Beispiele sehr instruktiv, um Mechanismen der Entstehung von Märtyrerbildern zu erkennen. Als erstes stellte Christian Fuhrmeister (München) „Die Konstruktion eines Märtyrers: Albert Leo Schlageter (1894-1923) und seine Bilder“ dar. Er zeigte auf, wie der Freikorpskämpfer Schlageter nach seiner Verhaftung und Erschießung durch die Franzosen im besetzten Ruhrgebiet im Mai 1923 schlagartig ins Rampenlicht geriet. Da er der Öffentlichkeit vor diesem Ereignis vollkommen unbekannt war, konnten sein zu überlieferndes Bild im großen Umfang erfunden und eine heroische Vita des Märtyrers Schlageter konstruiert werden. Gerade in der Weimarer Republik war an diesem Konstruktionsprozess eine Vielzahl von Organisationen sehr unterschiedlicher Couleur und mit durchaus divergierenden Interessen beteiligt. Das daraus resultierende facettenreiche Bild Schlageters wurde aber zum 10. Jahrestag der Erschießung, am 24. Mai 1933, durch das neue Regime symbolpolitisch usurpiert und Schlageter endgültig zum „ersten Soldaten des Dritten Reiches“ gemacht, der er in der öffentlichen Wahrnehmung auch nach 1945 blieb.3 Fuhrmeister legte an Bildbeispielen auch die visuelle Dimension dieser nationalsozialistischen Reklamation Schlageters dar. Paradigmatisch kann dafür ein in eine der wenigen erhaltenen Porträtaufnahmen Schlageters nachträglich eingefügtes Hakenkreuz stehen.

Fuhrmeisters Vortrag bot einen guten Einstieg in das Thema der Sektion. Gerade an dem von Legenden überwucherten und historisch vielfach schwer zu verifizierenden Lebenslauf Schlageters wird deutlich, wie weit ein Märtyrermythos ex post konstruiert werden kann. An den vielen unterschiedlichen Mythen- und Denkmalproduzenten mit sehr unterschiedlichen Intentionen, welche am Bild Schlageters mitgearbeitet haben, lässt sich zeigen, dass Märtyrerkulte eher aus einem komplexen Zusammenspiel von unterschiedlichen Intentionen und Interessen als aus einem einheitlichen Propaganda-Apparat stammen. Schließlich zeigt aber die weitgehend erfolgreiche Einverleibung des Schlageter-Gedenkens durch das frisch etablierte nationalsozialistische Regime auch, dass eine erfolgreiche Funktionalisierung eines eher pluriformen Märtyrermythos zur Legitimation eines neu entstandenen Regimes möglich ist.

Der zweite Vortrag der Sektion, gehalten von Kurt Schilde (Siegen), beschäftigte sich mit einem eindeutig nationalsozialistischen ‚Märtyrer’: „Der Tod des Hitlerjungen Herbert Norkus (1916-1932) und die Verwandlung des Roman- und Filmhelden ‚Hitlerjunge Quex’“. Um Norkus entwickelte sich sofort nach seinem gewaltsamen Tod bei einer Propaganda-Aktion der Berliner Hitlerjugend ein von Goebbels geschickt inszenierter und ausgebauter Kult, der ihn zum Idealbild eines Hitlerjungen machte. Dieser wurde in Schenzingers Roman „Hitlerjunge Quex“ geschickt aufgegriffen und literarisch transformiert. Der Tod des Helden wird als Ende einer dramatischen Entwicklung geschildert, die durchaus nicht unbedingt der Realität entsprechen musste. So wurde der Vater des nach Norkus modellierten Helden Heini Völker zu einem Kommunisten gemacht, der durch das Martyrium seines Sohnes auf den rechten, nationalsozialistischen Weg gebracht wird. Der tatsächliche Vater Herbert Norkus’ war dagegen seit 1929 in der SA. Die Fiktion konnte so die Wirkung des Martyriums noch verstärken. In der Etablierungsphase des NS-Staates wurde der bereits zum Bestseller avancierte Roman Schenzingers unter erheblichem Propagandaaufwand verfilmt. Der am 11. September 1933 in den Kinos angelaufene Film „Hitlerjunge Quex“ brachte den bereits im Roman transformierten Mythos um Norkus in suggestive Bilder. Allerdings wurde laut Schilde diese Medialisierung des Mythos dadurch erkauft, dass er seine historische Basis verlor.

Schildes Vortrag zeigte, wie sich eine einheitlich konstruierte Märtyrererzählung durch das Zusammenspiel verschiedener Medien transformieren kann. Für das Fallbeispiel Herbert Norkus konnte er gut die unterschiedlichen Schritte der Transformation zeigen. Besonders wichtig für die Visualisierung war der Film „Hitlerjunge Quex“, der in seiner während des Vortrages vorgeführten Schlussszene die HJ als Erbe des Vermächtnisses des Märtyrers Norkus/Quex zeigt, indem er vom Tod des Helden zu einer singenden Gruppe von Hitlerjungen überblendet. Interessant sind dabei die Möglichkeiten, die auch von ihrem Anspruch her nicht unbedingt an Authentizität gebundene Medien wie Film und Literatur haben. Denn das Bild, das der einzelne Hitlerjunge von Herbert Norkus hat, wird ja unausweichlich gerade durch den Film von 1933 geprägt sein. Gerade diese Mehrdimensionalität von verschiedenen Medien sollte man bei der Entstehung und Verbreitung von Mythen um Märtyrer immer im Blick behalten.

Den dritten Vortrag der Sektion hielt James van Dyke (Portland, Oregon) zur „Kommemoration von Toten der SA in der Kunst der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus“. Der Kult um den „Unbekannten SA-Mann“ wurde hier in seiner Rezeption in einem spezifischen Medium, nämlich der bildenden Kunst analysiert. Ein auffälliges Ergebnis, das van Dyke präsentierte, war die relative Bedeutungslosigkeit des Sujets in der nationalsozialistischen Kunst, obwohl der Mythos des für die nationalsozialistische Sache sein Leben hingebenden SA-Manns für die nationalsozialistische Konstruktion der ‚Kampfzeit’ eine wesentliche Rolle gespielt hat. Der auf den ersten Blick überraschende Befund ist nach van Dykes Darstellung durch zwei Faktoren zu erklären. Zunächst sei natürlich die Unsicherheit in der Darstellung der SA nach dem 30. Juni 1934 zu berücksichtigen, welche eine Darstellung dieses Sujets in den Augen von Künstlern und potentiellen Auftraggebern eher unsicher gemacht habe. Ferner sei in den Augen der Verantwortlichen für nationalsozialistische Propaganda die Nutzung der bildenden Kunst für Propagandazwecke verpönt gewesen. Bezüglich der doch entstandenen künstlerischen Darstellungen sei auffällig, dass der Tod in idealisierter Form ohne Blut und Schmerz dargestellt und in den Kontext einer Auferstehung der „im Geiste Mitmarschierenden“ gebracht wurde. Diese Darstellungsformen wurden übrigens auch bei den anderen in der Sektion dargestellten Fallbeispielen bevorzugt.

Van Dykes Vortrag rief in Erinnerung, dass die visuelle Konstruktion eines Märtyrers nicht nur von der Zweckmäßigkeit eines bestimmten Mediums abhängt, sondern auch davon, ob dieses Medium aus bestimmten Gründen für opportun gehalten wird. Die Problematik des so genannten Röhm-Putsches für die Darstellung des Mythos vom ‚Unbekannten SA-Mann’ sollte auch die Rolle von politischen Ereignissen für die Inszenierung von Märtyrererzählungen in Erinnerung rufen. Bezüglich der dargestellten Sujets war gerade die Bedeutung von traditionellen Motiven für die Visualisierung bedeutsam. Wie auch die anderen vorgestellten Visualisierungen waren diese sehr an der christlichen Märtyrerikonografie orientiert. Ein in dieser Hinsicht sehr auffälliger Unterschied, auf dem auch in der Diskussion aufmerksam gemacht wurde, ist die Tatsache, dass der Tod und das Leiden anders als in der christlichen Ikonografie nur sehr stilisiert dargestellt wird. Der Tod für die Idee bzw. fürs Vaterland ist süß, eine realistische Darstellung von Blut und Gewalt, wie sie zumindest zum Teil in der christlichen Ikonografie zu sehen ist, passt nicht in moderne Märtyrerdarstellungen.

Das letzte in der Sektion behandelte Fallbeispiel stammt aus dem Bereich des tschechoslowakischen Kommunismus. Stefan Zwicker sprach über „Stereotypen der Darstellung von Julius Fučík (1903-1943) in den Jahren 1945-1960“.4 Anders als bei den anderen in dieser Sektion behandelten ‚Märtyrern’ liegt Fučíks Mythisierung auch ein eigener Beitrag zugrunde: Der 1943 als Angehöriger des kommunistischen Widerstandes von den Deutschen hingerichtete tschechische Journalist Fučik hatte während seiner Haft Aufzeichnungen gemacht, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges unter dem Titel „Reportage unter dem Strang geschrieben“ zur paradigmatischen Darstellung des Widerstandes avancierten. Dabei wurden nicht opportune Teile dieses Werkes, z.B. über Fučíks Aussagen gegenüber der Gestapo während der brutalen Verhöre, gezielt nicht abgedruckt. Die schon von ihm selbst begonnene Stilisierung Fučíks, der v.a. biblische Motive zugrunde lagen, wurde durch diese Manipulation noch verstärkt. Die Idealisierung des kommunistischen Märtyrers kann gerade an seinen posthumen Porträts nachgewiesen werden, die ihn in der Regel geschönt und vor allem verjüngt darstellen; gerade der Jugend wurde er als Vorbild dargestellt. Daneben wurde er als optimistischer, positiv eingestellter ‚Liebhaber des Lebens’ gefeiert, was zum in Tschechien sprichwörtlich gewordenen letzten Satz der „Reportagen“ passte: „Menschen, ich hatte euch gern, seid wachsam!“ In der propagandistischen Darstellung wurde Fučík als Leitbild immer wieder in die auch durch ihn möglich gemachte kommunistische Gesellschaft der Tschechoslowakei integriert und lebte so gleichsam in der Gegenwart weiter.

Die Analyse der Fučík-Propaganda im Vergleich zu den anderen vorgestellten Konstruktionen von Märtyrerbildern machte deutlich, dass dieser auch außerhalb des Nationalsozialismus nach ähnlichen Regeln funktionierte. Die Makellosigkeit des Helden, der jugendliche Idealismus und die idealisierte Darstellung gehören offenbar in verschiedenen Systemen zur Konstruktion eines Märtyrers. Auch die Bezugnahme auf die christlich-abendländische Ikonografie und biblische Motive scheint conditio sine qua non einer Konstruktion des Märtyrertodes zu sein. Das Beispiel Fučík ragt aber heraus, da er anders als die vorgestellten (proto-)nationalsozialistischen Märtyrer auch selbst an seiner eigenen Legende mitgestrickt hat. Am Mythos Fučík erscheint die Tatsache wichtig, dass die kultischen Darstellungen ihn immer wieder mit der Gegenwart der kommunistischen ČS(S)R in Verbindung bringen. Auch im atheistischen, kommunistischen, vom Staat gepflegten Kult brauchte man offensichtlich eine säkularisierte Auferstehungsvorstellung.

Die strukturellen Ähnlichkeiten im Prozess der Konstruktion von Märtyrerbildern in verschiedenen ideologischen Kontexten erscheinen als ein wesentliches verbindendes Element der vorgestellten Fallbeispiele. Auch die Abhängigkeit von traditionell vorgegebenen Bildmustern, wie sie aus der christlichen Ikonografie bekannt sind, wurde schlüssig belegt. Doch lohnt es sich auch über Unterschiede, wie die fehlende realistische Todesdarstellung in modernen Märtyrerbildern nachzudenken. Für solche Überlegungen haben die Vorträge auf jeden Fall genügend Material geboten. Insgesamt war die Sektion ein gelungenes Beispiel für die Möglichkeiten, die eine interdisziplinäre Zusammenarbeit von Kunsthistorikern und Historikern bietet. Allerdings zeigte sich immer wieder, dass Märtyrerbilder nicht nur auf visueller Ebene konstruiert werden. Gerade im Fall Fučík ist von der überragenden Bedeutung von dessen eigener „Reportage“ auszugehen, die sich insbesondere in dessen letztem Satz „Menschen seid wachsam!“ manifestiert.5 Aus dem Publikum wurde in der Abschlussdiskussion angemerkt, dass für die Aufarbeitung dieser Zusammenhänge auch eine Zusammenarbeit mit z.B. Literatur- und Musikwissenschaftlern und Vertretern vieler anderer Disziplinen wünschenswert sei. Für eine solche interdisziplinäre Untersuchung von Märtyrerbildern hat dieses Panel auf jeden Fall Maßstäbe gesetzt.

Anmerkungen:
1 Vgl. Loiperdinger, Martin (Hg.), Märtyrerlegenden im NS-Film, Opladen 1991.
2 Trotz seiner Stilisierung zum „ersten Soldaten des Dritten Reiches“ ist Schlageter ein Sonderfall, da er auch schon während der Weimarer Republik und keineswegs nur von den Nationalsozialisten als Märtyrer gefeiert wurde.
3 Vgl. Fuhrmeister, Christian, Beton, Klinker, Granit. Material, Macht, Politik: Eine Materialikonografie, Berlin 2001, S. 191-258.
4 In seiner jüngst erschienenen Dissertation: „Nationale Märtyrer“: Albert Leo Schlageter und Julius Fučík. Heldenkult, Propaganda und Erinnerungskultur, Paderborn 2006 stellt Stefan Zwicker die deutsche und die tschechische Heldenfigur und den Kult um beide nebeneinander und bindet sie darüber hinaus in den Kontext von Heldenverehrung und Propaganda im 20. Jahrhundert ein. Ebd., S. 87-148, auch zum Kult um Schlageter in der Weimarer Republik, die Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten und sein Bild nach 1945.
5 Zur Rolle der „Reportage“ in der Propaganda vgl. Zwicker, Nationale Märtyrer (wie Anm. 4), S. 178-189, der auch literaturwissenschaftliche Kriterien berücksichtigt.

http://www.uni-konstanz.de/historikertag/
Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts