International Colloquium on Commerce and Culture: Nineteenth-Century Business Elites

International Colloquium on Commerce and Culture: Nineteenth-Century Business Elites

Organisatoren
Robert Lee (University of Liverpool, UK); Adrian Jarvis (National Museums Liverpool, UK); „Mercantile Liverpool Project“
Ort
Liverpool
Land
United Kingdom
Vom - Bis
20.04.2006 - 22.04.2006
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Von
Christof Dejung, Georg August Universität Göttingen und Universität Zürich

Kulturgeschichtliche Zugänge zur Wirtschafts- und Unternehmensgeschichte werden im Moment breit diskutiert. Dies gilt sowohl für den deutschen wie für den angelsächsischen Sprachraum 1. An der University of Liverpool untersucht eine Forschergruppe um Robert Lee (University of Liverpool, UK) und Adrian Jarvis (National Museums Liverpool, UK) im Rahmen des „Mercantile Liverpool Project“ Netzwerke und Beziehungen zwischen den Liverpooler Kaufleuten im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Basierend auf Handelsregistern und Adressbüchern wird eine Datenbank erstellt, die quantitative Aussagen über die soziale Struktur der Liverpooler Handelswelt erlauben und die Grundlage für weiterführende Forschungen darstellen soll. Ergänzend dazu entstehen Fallstudien zur Bedeutung der baulichen Umwelt, zur Bedeutung von Familienleben und Geschlechterrollen in der Welt der Kaufleute und zu den Mechanismen sozialer Netzwerkbildung 2. Um die Resultate des Projektes in einen internationalen Kontext zu stellen, wurde die Tagung „Commerce and Culture: Nineteenth-Century Business Elites“ organisiert, die vom 20. bis zum 22. April 2006 an der University of Liverpool stattfand. An der Veranstaltung, die durch Beiträge des Leverhulme Trust und der University of Liverpool unterstützt wurde, nahmen Forscherinnen und Forscher aus acht Nationen teil.

Ikaros Madouvalos (Universität Athen, GR) zeigte in seinem Beitrag zur Makedonischen Handelsfamilie Manos, dass Handelsunternehmen keine von ihrer sozialen Umwelt abgeschlossenen Einheiten darstellten, sondern in vielfältiger Weise mit dieser interagierten. Die Familie Manos konnte im 18. Jahrhundert aufgrund ihrer Beziehungen zur griechisch-mazedonischen Diaspora im ungarischen Pest Fuß fassen. Durch den Erwerb von Grundbesitz und eine rege politische und geschäftliche Aktivität konnte die Familie zu Beginn des 19. Jahrhunderts die ungarische Staatsbürgerschaft erwerben und in die ungarische Oberschicht aufsteigen.

Die Bedeutung von Heiraten für kaufmännische Unternehmungen arbeitete Lesley Doig (Rutgers University, USA) am Beispiel der Familie Derby aus Salem (MA, USA) heraus. Dabei stellte Doig die These auf, dass sich bei der Bedeutung der Heirat zwischen der Mitte des 18. Jahrhunderts und dem frühen 19. Jahrhundert ein fundamentaler Wandel vollzogen habe. Während die Heirat im 18. Jahrhundert noch als Instrument zur Stabilisierung geschäftlicher Beziehungen und als Mittel zur Konsolidierung von Kapital gegolten habe, sei sie im 19. Jahrhundert von den Heiratswilligen immer mehr als Bekräftigung einer intimen Zweierbeziehung jenseits geschäftlicher Verpflichtungen verstanden worden. Diese These wurde jedoch in der drauffolgenden Diskussion hinterfragt, indem angeführt wurde, dass auch im 19. Jahrhundert Heiraten dazu dienten, die Verbundenheit zwischen Kaufmannsfamilien zu stärken.

Während die Heirat in der Historiographie und der Anthropologie allgemein als Mittel zur Knüpfung sozialer Netzwerke anerkannt ist, verwies Margrit Schulte Beerbühl (Universität Düsseldorf, BRD) darauf, dass die Rolle von Patenschaften für die Netzwerkbildung noch weitgehend unerforscht sei. Am Beispiel von deutschen Händlern in London zwischen 1750 und 1850 zeigte sie, dass Patenschaften weniger den Zweck hatten, eine Beziehung zwischen Pateneltern und Patenkindern herzustellen, als vielmehr die Beziehung zwischen Eltern und Pateneltern zu festigen. Solche Patenschaften erleichterten es deutschen Händlern, die sich in London niederließen, sich dort geschäftlich zu etablieren.

Welche Auswirkungen ein Verlust von Vertrauen auf die Wirtschaft hatte, und wie im Moment einer Vertrauenskrise Akteure neue Deutungsmacht gewinnen können, zeigte Jessica Lepler (Brandeis University, USA) am Beispiel der Wirtschaftskrise von 1837. Als die Krise, die kurz zuvor in London ausgebrochen war, im März 1837 die USA erreichte, führte dies in der Geschäftswelt zu einer regelrechten Panik und zu einem Vertrauensverlust in das amerikanische Wirtschaftssystem. In diesem Moment fundamentaler Verunsicherung konnte die New Yorker Wirtschaftselite das Vertrauen von britischen und amerikanischen Geschäftsleuten zurückgewinnen, indem sie die Verantwortung für die Krise einzelnen Spekulanten oder politischen Gegnern in die Schuhe schob. Durch diese Taktik gelang es ihr, die Wahrnehmung des Publikums von den durchaus fragwürdigen Praktiken der New Yorker Geschäftswelt abzulenken.

Das Vertrauen in die Zuverlässigkeit von Geschäftsleuten wurde im 19. Jahrhundert insbesondere über die Mitgliedschaft in renommierten Clubs erworben. Sari Maenpaa (National Maritime Museum of Finland, Helsinki) zeigte am Beispiel Liverpools, dass aus diesem Grund der Zugang zu diesen Clubs genau kontrolliert wurde. Kandidaten für eine Aufnahme benötigten das Empfehlungsschreiben eines langjährigen Mitgliedes. Zudem wurde ein hoher Mitgliederbeitrag erhoben, der als Kontrolle für die Zahlungsfähigkeit der Mitglieder diente. Wer diesen Beitrag nicht mehr bezahlen konnte, musste den Club umgehend verlassen, wodurch finanzielle Schwierigkeiten sehr rasch offensichtlich wurden.

Am Beispiel von Ekaterinburg zeigte Elena Apkarimova (Urals State University, RUS), dass die Geschäftselite dieser russischen Provinzstadt im Ural, aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu Gilden unterschiedliche Geschäftsmöglichkeiten hatten. Der lukrative Fernhandel war den Mitgliedern der ersten Gilde vorbehalten, welche auch oft großen Einfluss auf die lokale Politik hatten. Der Zugang zu diesen Gilden wurde deshalb sehr restriktiv gehandhabt. Für die Freizeit und für das Knüpfen von sozialen Beziehungen dienten Clubs, die nach dem englischen Vorbild eingerichtet wurden.

Joseph Sharples (University of Liverpool, UK) strich in seinem Beitrag die Bedeutung der gebauten Umwelt für die Repräsentation von Kaufleuten heraus. Der Bau von Sefton Park Ende des 19. Jahrhunderts erlaubte den Liverpooler Kaufleuten den Bezug von herrschaftlichen Häusern in einer ruhigen, und dennoch zentrumsnahen Wohngegend. Die Gebäude erlaubten aber auch Rückschlüsse auf den sozialen und wirtschaftlichen Status ihrer Bewohner. Aufgrund des Aussehens der Häuser, aber auch aufgrund der sozialen und kulturellen Aktivitäten, die in diesen Gebäuden stattfanden, konnten die Kaufleute auf die Reputation ihrer Nachbarn schließen.

John R. Hume (Royal Commission for the Ancient and Historic Monuments of Scottland, SCO) zeigte in einem öffentlichen Abendvortrag, wie der Reichtum, den Liverpool im 19. Jahrhundert durch den Baumwollhandel und die Atlantikschifffahrt erworben hatte, auch das Stadtbild prägte. Grosse Repräsentationsbauten an den Docks sollten ankommenden Passagieren die Bedeutung der Stadt vor Augen führen. Ein Vergleich mit Glasgow zeigt, dass die wirtschaftliche Struktur des Hinterlandes einen Einfluss auf das Stadtbild hatte. Während sich in Glasgow im 19. Jahrhundert neben Banken und Handelsfirmen auch Industrieunternehmen ansiedelten, liess sich in Liverpool aufgrund der Konkurrenz der nahe gelegenen Industriestandorte Manchester, Leeds und Birmingham keine Industrie nieder. Liverpool blieb deshalb eine reine Handels- und Hafenstadt.

Das Selbstverständnis der Liverpooler Wirtschaftselite prägte auch ihre ökonomischen Entscheide. Graeme Milne (University of Liverpool, UK) zeigte, dass der Entscheid von Unternehmern aus Manchester Ende des 19. Jahrhunderts, einen Kanal zu bauen, der Manchester direkt mit dem Meer verband, von den Liverpooler Eliten als Bedrohung des symbiotischen Verhältnisses zwischen Liverpool als Hafenstadt und Manchester als Produktionsort von Textilien verstanden wurde. Die Liverpooler Geschäftsleute beschlossen deshalb den Kanal zu boykottieren, und verzichteten darauf, ihn zu ihrem eigenen Vorteil zu nutzen, was aufgrund ihrer starken Position im Schifffahrtswesen durchaus möglich gewesen wäre. Dadurch verloren sie Marktanteile an Handelsgesellschaften aus Nordengland, die den Kanal als neuen Zufahrtsweg nach Manchester nutzten. Langfristig gesehen, so Milne, schadete der Nachbarschaftsstreit zwischen Liverpool und Manchester der Konkurrenzfähigkeit der ganzen Region, da er in einer wirtschaftlich schwierigen Zeit für zusätzliche Unruhe sorgte.

Inwiefern kulturelle Deutungsmuster in Form religiöser Überzeugungen nicht nur geschäftliche Praktiken, sondern auch technologische Entscheide prägte, zeigten Crosbie Smith und Anne Scott (University of Kent, UK). Die Gründer der schottischen Schifffahrtsgesellschaft Cunnard waren evangelikale Christen, die das Bemühen ihrer Konkurrenten um immer schnellere und luxuriösere Dampfer als Ausdruck menschlichen Hochmuts und als Versuchung der göttlichen Vorsehung ansahen. Die Teilhaber von Cunnard hatten dagegen den Anspruch, ihre Demut vor dem Herren dadurch zu zeigen, dass sie ihre Schifffahrtslinie durch harte und ehrliche Arbeit zuverlässig und sicher führten. Gerade in der Frühphase der Dampfschifffahrt, in der das Vertrauen in das neue Verkehrsmittel immer wieder durch Katastrophen erschüttert wurde, stellte diese Geschäftspolitik auch ein Mittel dar, um die Passagiere von der Zuverlässigkeit und der Seriosität des Unternehmens zu überzeugen.

Eine spezielle Bedeutung hatte Vertrauen im Fernhandel, wo oft große Distanz zwischen Stammhaus und Filialen lagen. Zudem mussten beim Kontakt mit Geschäftsleuten aus fremden Kulturkreisen die lokalen Geschäftssitten berücksichtigt werden. Christof Dejung (Universität Zürich, CH / Universität Göttingen, BRD) zeigte am Beispiel der Schweizer Handelsfirma Gebrüder Volkart, die sich im 19. Jahrhundert in Indien etablierte, wie wichtig die Vertrautheit mit den Geschäftspraktiken und der Zuverlässigkeit der lokalen Zulieferer war. Eine unabdingbare Voraussetzung für geschäftliche Transaktionen spielten dabei die einheimischen Broker, die als Mittelsleute zwischen der Firma und den indischen Geschäftsleuten fungierten. Die in Indien erlernten Geschäftspraktiken funktionierten aber nicht mehr, als die Firma nach China und Japan expandierte. Hier musste sie aufgrund einer anderen Geschäftskultur neue Organisationsstrukturen entwickeln, welche erst nach einer verlustreichen Durststrecke Profit abwarfen.

Michael Nix (Glasgow City Museums, SCO) zeigte am Beispiel der schottischen Australian Company, wie gefährlich der Missbrauch von Vertrauen für eine Handelsfirma sein konnte. Die Gesellschaft war aufgrund illegaler Geschäfte ihres Agenten in Australien in Schwierigkeiten gekommen. Dieser Agent war ein Familienmitglied eines Managers der Firma, weshalb er als besonders vertrauenswürdig gegolten hatte. Die Geschäftsleitung versuchte lange Zeit, die Probleme der Firma vor ihren Teilhabern zu verheimlichen. Als diese jedoch der Schwierigkeiten gewahr wurden, brachten sie den Fall vor Gericht, was gleichzeitig das Ende der Gesellschaft bedeutete.

Die Bedeutung von Netzwerken und Vertrauensbildung war in vielen Referaten zentral. Doch es gab auch Widerspruch. Andrew Popp (University of London, GB) stellte die Frage, ob Vertrauen wirklich so eine knappe Ressource darstelle, wie in vielen jüngeren Untersuchungen behauptet werde. Er zeigte dies am Beispiel der Handelsfirma T. E. Thomson and Co., die 1834 in Calcutta gegründet worden war. Popp betonte, aus den Quellen werde nicht ersichtlich, dass die beiden britischen Unternehmer, welche die Eigentümer der Firma waren, zuvor große Erfahrung im Überseehandel besessen hätten. In der Diskussion wurde zwar darauf hingewiesen, dass es aufgrund der wirtschaftlichen Risiken im Fernhandel wohl eher unwahrscheinlich sei, dass Unternehmer ganz ohne soziale Beziehungen und ohne jede Vertrautheit mit den lokalen Geschäftssitten versuchen würden, auf einem anderen Kontinent Fuß zu fassen. Es herrschte aber Konsens darüber, dass man bei aller Aufmerksamkeit für Netzwerke und Vertrauensbildung keinesfalls Erklärungsmodelle, die auf rational choice aufbauten, oder die Rolle von geformten Institutionen (etwa in der Form von Gesetzen) außer acht lassen dürfe.

Lars Maischak (Johns Hopkins University, USA) betonte in seinem Beitrag, dass man aufgrund der spezifischen Tätigkeit von Fernhandelsfirmen durchaus von einer eigenen Geschäftskultur in diesen Unternehmen sprechen könne. Er legte jedoch am Beispiel von Bremer Kaufleuten dar, wie durch den Übergang vom Warenhandel zu Finanzgeschäften im 19. Jahrhundert die nach wie vor gepflegte Idee einer spezifischen Händlerkultur zur Ideologie wurde. Die Betonung von Werten wie Vertrauen, Ehre und kosmopolitischer Ausrichtung diente nur mehr der Selbstdarstellung der Bremer Kaufleute, entsprach aber nicht mehr der ökonomischen Realität, in der Kredite nicht mehr aufgrund der Zugehörigkeit zu bestimmten Netzwerken vergeben worden seien, sondern aufgrund der abstrakten Berechnung von wirtschaftlichen Erfolgsaussichten eines Unternehmens.

Alles in allem bestätigte die Tagung die Erkenntnis, dass die Bildung von Vertrauenskapital und das Knüpfen sozialer Netzwerke wichtige Grundlagen für ökonomische Interaktionen darstellten. Ein Konsens über die Bedeutung von kulturellen Deutungsmustern und Praktiken für die Wirtschaft konnte dabei aber nicht erzielt werden. Ein solcher dürfte wohl auch noch einige Zeit auf sich warten lassen. Insbesondere die Frage, wo genau die Grenze der Erklärungskraft von kulturalistischen und ökonomistischen Ansätzen liegt, ist alles andere als trivial. Erschwerend kommt hinzu, dass der Terminus Kultur je nach theoretischem Zugang höchst unterschiedlich verwendet wird. So wurde er an der Tagung u.a. als Bezeichnung für Freizeitgestaltung, Repräsentation, Geschäftspraktiken und für verschiedene Arten der Realitätsdeutung gebraucht. Trotz oder vielleicht gerade wegen dieser Definitionsschwierigkeiten 3 verlief die Tagung in einer sehr anregenden Atmosphäre. Die Referate zeigten unter anderem, dass es große Übereinstimmungen gibt in Bezug auf die Art und Weise, wie in unterschiedlichen Ländern innerhalb des kaufmännischen Milieus soziale Netzwerke geknüpft wurden und welche Bedeutung die kulturelle Repräsentation hatte. Die Teilnehmenden empfanden es deshalb als äußerst fruchtbar, die Resultate der eigenen Forschung in einem derart internationalen Rahmen diskutieren zu können.
Eine Publikation der Beiträge im Rahmen eines Tagungsbandes ist geplant.

Anmerkungen:
1 Vgl. für den deutschen Sprachraum u.a. Siegenthaler, Hansjörg, Geschichte und Ökonomie nach der kulturalistischen Wende, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 276-301; Berghoff , Hartmut / Vogel, Jakob (Hgg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte, Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt am Main 2004. Für den angelsächsischen Sprachraum: Casson, Mark, The Economics of Business Culture, Game Theory, Transaction Costs and Economic Performance, Oxford 1991; Rose, Mary B., Firms, Networks and Business Values, The British and American Cotton Industries since 1750, Cambridge 2000.
2 Finanziert wird das Projekt durch Beiträge von English Heritage und des Liverpool City Council. Weitere Informationen finden sich auf der Projekthomepage: http://www.liv.ac.uk/merchant/.
3 Vgl. hierzu u.a. Christoph Conrad, “How much Schatzi?”, Vom Ort des Wirtschaftens in der new cultural history, in: Berghoff / Vogel (Hgg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte, S. 43-67; Welskopp, Thomas, Unternehmenskulturen im internationalen Vergleich – oder integrale Unternehmensgeschicht in typisierender Absicht?, in: Berghoff / Vogel (Hgg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte, S. 265-294.