Siegel – Bild – Gruppe. Visualisierungsstrategien korporativer Siegel im Spätmittelalter

Siegel – Bild – Gruppe. Visualisierungsstrategien korporativer Siegel im Spätmittelalter

Organisatoren
Markus Späth, Institut für Kunstgeschichte, Justus-Liebig-Universität Gießen
Ort
Gießen
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.01.2006 - 14.01.2006
Url der Konferenzwebsite
Von
Markus Späth, Institut für Kunstgeschichte, Justus-Liebig-Universität Gießen

English Version:
http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1137

Auf der Gießener Konferenz haben erstmals Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Kunstgeschichte und der Geschichtswissenschaft gemeinsam über die Bildlichkeit mittelalterlicher Siegel diskutiert. Der Focus der Tagung lag dabei auf korporativen Siegeln, die eine grundlegende Neuerung im europäischen Siegelwesen seit dem 11. Jahrhundert darstellen, das bis zu diesem Zeitpunkt nur Siegel als persönliche Zeichen kannte. Zeigten die Personensiegel die Bildnisse ihrer Inhaberinnen oder Inhaber, so war diese Äquivalenz zwischen Besiegler und dessen Bildrepräsentation für die Gruppensiegel obsolet geworden. Die Frage, wie eine communitas mit den Möglichkeiten eines Siegelbildes darstellbar war, stellt Forschungsdesiderat der mediävistischen Kulturwissenschaften dar und bildete folglich den Ausgangspunkt dieses interdisziplinären Gesprächs.

Die drei Vorträge der einleitenden Sektion setzten sich mit den Grundlagen und Anfängen des korporativen Siegelwesens im Mittelalter auseinander. Brigitte Miriam Bedos-Rezak (New York) hat das grundlegende Paradox zwischen den Siegeln von Personen und Gruppen definiert: Während sich die Inhaberin oder der Inhaber eines Personensiegels durch die Beachtung der strikten Bildkonventionen in einen ordo gemäß seiner sozialen Funktion gestellt habe, waren Korporationen um die Einzigartigkeit ihres Siegelbildes bemüht. Am Beispiel französischer und englischer Siegel der Zeit zwischen 1200 und 1350 zeigte Bedos-Rezak auf, wie Gruppen das Siegel als Medium einer „individuation” nutzten, um sich gegenüber anderen herauszustellen. Franz-Josef Arlinghaus (Kassel) betrachtete das Siegelwesen städtischer Genossenschaften unter einem systemtheoretischen Ansatz: Ebenso wie ein Teil einer Korporation für alle ihre Glieder agieren konnte, vermochte auch ihr Siegelbildmotiv die Gemeinschaft über eine abgebildete pars pro toto zu repräsentieren. Er stellte dabei die viel diskutierte These auf, dass in den Bildern nicht die innere Verfasstheit der Gruppe visualisiert wurde, sondern vielmehr Bildlösungen gefunden wurden, die sowohl innerhalb und außerhalb der Korporation ein konsensfähiges Image darstellten. Manfred Groten (Bonn) beleuchtete die Entstehung korporativer Siegel vor dem Hintergrund eines Wandels der Rechtsmentalität in der Frühscholastik. Dadurch dass Gruppen rechtsfähig wurden, qualifizierten sie sich zur Siegelführung. Am Beispiel der Wiederverwendung westfälischer Bischofssiegel durch die örtlichen Domkapitel konnte er den langen Entstehungsprozess hin zu der Besiegelungsform aufzeigen, die wir heute als korporativ wahrnehmen.

In der zweiten Sektion wurde je ein aktuelles Forschungsprojekt zu mittelalterlichen Siegeln aus der Kunst- sowie der Geschichtswissenschaft vorgestellt. Dabei traten die jeweils spezifischen Erkenntnisinteressen beider Disziplinen hervor. Ruth Wolff (Florenz) untersuchte das Auftauchen bestimmter Motive, so Darstellungen von Heiligen und Rechtsgelehrten, auf spätmittelalterlichen Siegeln in Italien. Sie verwies darauf, dass die Adaption einer Ikonographie unabhängig davon war, ob es sich um einen individuellen oder korporativen Siegelführer handelte. Zudem konnte Wolff zeigen, dass das Motiv der Stigmatisation des heiligen Franziskus in Siegeln deutlich früher auftaucht als in anderen Bildmedien. Wolfgang Krauth (Tübingen) präsentierte sein Projekt zu frühen westfälischen Stadtsiegeln vor 1275. Er warf für diesen Raum die Frage nach der Motivation einer Stadtgemeinde für die Wahl oder auch den Wechsel ihres Siegelbildes auf. Zugleich plädierte er dafür, Siegel stärker als Medien symbolischer Kommunikation zu betrachten.

Die Sektion Siegelbilder im Verhältnis zu anderen Bildmedien richtete den Blick über die Siegel hinaus auf andere, darunter auch reproduktive Bildmedien des Spätmittelalters: Peter Schmidt (Bamberg) ging in seinem Beitrag der forschungsgeschichtlichen Frage nach, wieso die reproduktiven Bildmedien des Spätmittelalters, darunter auch die Siegel, in der kunstgeschichtlichen Forschung bislang fast völlig ignoriert worden sind. Zudem konnte er die von der historischen Siegelforschung kaum wahrgenommenen Rezeptionsformen und -wege von Siegeln in anderen Bereichen der bildenden Kunst nachweisen: So ahmten Pilgerzeichen die Form und Gestaltungsweise von spitzovalen Siegeln nach und bezeichneten sich in ihrer Umschrift selbst als sigilli, um somit die Authentizität einer Wallfahrt zu bezeugen. Andrea Lermer (Paderborn) untersuchte am Beispiel des Veneçia-Tondos an der Fassade des venezianischen Dogenpalastes die Rezeption siegelbildlicher Motive in anderen Gattungen der bildenden Kunst: Die um 1340/50 entstandene weibliche Personifikation der Seerepublik zeigt deutliche ikonographische Ähnlichkeiten mit der zeitgleichen Goldbulle Kaiser Ludwigs des Bayern. Die Bullen der venezianischen Dogen griffen dagegen niemals auf diese imperiale Legitimationsstrategie zurück, sondern zeigten stets die Investitur des Dogen durch den Stadtpatron Markus.

In der ersten von zwei Sektion zur Funktion der Siegel als Medien der Gruppenrepräsentation standen Stadtsiegel im Mittelpunkt. Antje Diener-Staeckling (Münster) arbeitete am Beispiel der Bischofsstädte Naumburg und Halberstadt den Wandel in der kommunalen Siegelpraxis heraus: Während für die jeweils ersten Stadtsiegel kaum zu klären ist, wer sie eigentlich führte, ist erst mit der Einführung neuer Siegel im 14. Jahrhundert nachweisbar, dass dadurch die Kontrolle über das Stadtsiegel an den jeweiligen Rat überging. Der Grad der Autonomie einer Gemeinde war dabei kein Kriterium für die Wahl eines neuen Sigelbildes, vielmehr wurde sie von der Gruppe bestimmt, welche die kommunalen Organe dominierte. Winfried Schich (Berlin) analysierte exemplarisch für die Landgrafschaft Hessen und die Mark Brandenburg die dort häufig anzutreffenden sogenannten „redenden Siegel“. Er konnte aufzeigen, dass solche Siegelbilder, die den lautlichen Bestand eines Ortsnamens unabhängig von seinem etymologischen Gehalt in ein Bild transformieren konnten, insbesondere in jüngeren Stadtgründungen ohne eigene, identitätsstiftende Traditionen zu finden sind. Gerade in dieser Gruppe der Stadtsiegel kam vielfältiger Einfluss des Stadtherren im Bild zum Tragen.

Die Beiträge der abschließenden Sektion erweiterten den Blick auf die repräsentative Funktion der Siegelbilder über das städtische Umfeld hinaus. Andrea Stieldorf (Bonn) untersuchte die Siegelführung von Frauenkommunitäten: Für die deutschsprachigen Gebiete des Reiches stellte sie bei Frauenklöstern eine noch stärkere Konventionalisierung des Siegelbildes fest als bei männlichen Religiosengruppen. Seit dem 11. Jahrhundert war zumeist die Patronin oder der Patron des Klosters das gängige Siegelmotiv. Selbst die Heraldisierung der spätmittelalterlichen Siegelbilder blieb ohne Wirkung auf die Zeichen von Frauenklöstern und -stiften. Thomas Krüger (Augsburg) brachte den Aspekt des synchronen Siegelgebrauchs unterschiedlicher kommunaler und geistlicher Korporationen innerhalb einer Stadt am Beispiel Augsburgs in die Diskussion ein: Anhand der Augsburger Urkundenüberlieferung untersuchte Krüger den konkreten Siegelgebrauch des Domkapitels und des Stadtrates und konnte dabei zeigen, wie durch die Anordnung von deren Siegeln unter gemeinsame Dokumente die Rangansprüche zum Ausdruck gebracht wurden.

Im konstruktiven und intensiven Dialog vermochten beide Disziplinen, die Aufmerksamkeit der jeweils anderen für die eigenen methodischen Anliegen und Fragestellungen zu erzielen. Von kunstwissenschaftlicher Seite konnte insbesondere gezeigt werden, dass die authentifizierende Funktion von Siegeln in anderen Bildmedien des Spätmittelalters reflektiert wurde. Zugleich wurde die Frage aufgeworfen, in welchem ästhetischen Rahmen Gruppensiegel neben anderen Bildmedien korporativer Repräsentation situiert waren. Gerade im Interesse für die Räume der Aufbewahrung des Siegelstempels und die der Besiegelung trafen sich beide Disziplinen. Die geschichtswissenschaftlichen Beiträge arbeiten den rechtlichen Gebrauchskontext der Siegel heraus und konnten dadurch für die Alterität der Siegelbilder gegenüber anderen Formen und Medien spätmittelalterlicher Gruppenrepräsentation sensibilisieren. So prägte sich beispielsweise in den spätmittelalterlichen Frauenklöstern eine sehr spezifische und damit identitätsstiftende Bildkultur im Rahmen der dortigen Frömmigkeitskonzepte aus, wohingegen bei der Gestaltung ihrer Siegelbilder eine starke Konformität mit allgemeinen Standards vorherrschte. Damit konnte eine wichtige methodische Feindifferenzierung für die Erforschung der Bildrepräsentation vorgenommen werden, die zugleich hilft, ein historisch fundierteres Verständnis für die Wahrnehmung und den Gebrauch von Siegelbildern zu gewinnen.

Eng verknüpft mit diesem Aspekt wurde der des identitätsstiftenden Charakters korporativer Siegelbilder diskutiert. Angesichts der in bestimmten Regionen im Verlauf des 13. Jahrhunderts erkennbaren ikonographischen Konventionenbildung bestimmter korporativer Siegeltypen wurde die Ansicht vertreten, dass sich in deren Bildern nicht die eigene institutionelle Verfasstheit im Sinn moderner Identitätsvorstellungen widerspiegelt, sondern vielmehr Bilder so geschaffen wurden, wie die siegelführenden Gruppen von ihrer Umwelt wahrgenommen werden wollten. Durch die Integration offensichtlich identitätsstiftender Bildelemente, wie etwa prominenter Gebäude einer Stadt, besaßen die einzelnen korporativen Siegelbilder dennoch einen distinktiven Charakter, der sie von allen anderen unterscheidbar machte. Es bleibt nun die Aufgabe der zukünftigen Forschung, noch präziser die bildgeschichtlichen Quellen und die Gestaltungsmuster dieser oft komposithaften Bilder auszuloten.


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