Ein deutscher Sonderweg? “Welfare State Regimes, Public Education and Child Care – Theoretical Concepts for a Comparison of East and West”

Ein deutscher Sonderweg? “Welfare State Regimes, Public Education and Child Care – Theoretical Concepts for a Comparison of East and West”

Organisatoren
Prof. Karen Hagemann (University of North Carolina at Chapel Hill / Technical University of Berlin, Department of History); Prof. Konrad Jarausch (Zentrum für Zeithistorische Forschung), Potsdam
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.03.2006 - 01.04.2006
Url der Konferenzwebsite
Von
Karen Hagemann, History Department, University of North Carolina at Chapel Hill; Monika Mattes, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

Anders als in den meisten Ländern Europas werden in der Bundesrepublik Deutschland Kinder in Vor- und Grundschulen auch heute noch überwiegend halbtags unterrichtet. Nur fünf Prozent dieser Einrichtungen ist ganztägig offen. Auch die Kindergärten sind noch zu mehr als 30 Prozent Halbtagseinrichtungen. Nach dem schlechten Abschneiden deutscher Schulen in der Studie des Program for International Student Assessment (PISA) der Organisation for Economic Co-operation and Development (OECD) aus dem Jahr 2000 setzte eine intensive Debatte über die Notwendigkeit von mehr Ganztagsschulen ein. Sie wurden nun selbst von der CDU/CSU, die über Jahrzehnte zusammen mit der katholischen Kirche der vehementeste Gegner von Ganztagsschulen war, als kompensatorische Maßnahme für ethnisch und sozial begründete Bildungsdefizite gefordert. Von der SPD und den Grünen wurden sie zudem in den letzten Jahren immer vehementer als probates Mittel zur Bekämpfung des dramatischen Geburtenrückgangs propagiert, da sie Eltern, vor allem Frauen, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf erleichtern würden. Doch die von der abgelösten grün-roten Bundesregierung in den letzten Jahren initiierten Reformen, die auf einen Ausbau des Ganztagsschulangebots zielten, stoßen bei ihrer Realisierung in den Ländern nach wie vor auf erhebliche kulturelle und politische Blockaden.

Wie und warum sich der bundesdeutsche Weg zum Halbtagsmodell im öffentlichen Bildung- und Erziehungssystem von der Entwicklung anderer europäischer Wohlfahrtsstaaten unterscheidet, war Gegenstand des internationalen und interdisziplinären Workshops Welfare State Regimes, Public Education and Child Care – Theoretical Concepts for a Comparison of East and West, der am 31. März und 1. April 2006 im Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam stattfand.1 Der Workshop war die erste von zwei Veranstaltungen im Rahmen eines von der Volkswagen-Stiftung geförderten Forschungsprojektes zum Thema Das deutsche Halbtagsmodell: Ein Sonderweg in Europa? Eine Analyse der Zeitpolitiken öffentlicher Bildung im Ost-West-Vergleich (1945-2000),2 das von der Erziehungswissenschaftlerin Cristina Allemann-Ghionda (Universität Köln) und den HistorikerInnen Karen Hagemann (Projektleitung, Technische Universität Berlin und University of North Carolina at Chapel Hill), und Konrad Jarausch (Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam) durchgeführt wird.

Ziel des Workshops, an dem 45 WissenschaftlerInnen aus 12 Ländern teilnahmen, war es, die komplexen Ursachen für die weit reichenden Differenzen, aber auch die nationale Grenzen und politische Systeme übergreifenden Gemeinsamkeiten in den Diskursen und Politiken zur Zeitstruktur der öffentlichen Bildung und Erziehung auszuleuchten und darüber hinaus nach den hemmenden bzw. fördernden Bedingungen für deren Reformen zu fragen. Von besonderem Interesse war in diesem Zusammenhang aus der bundesdeutschen Perspektive die Frage, inwieweit und warum sich das im deutschsprachigen Raum nach wie vor vorherrschende Halbtagssystem zu einem Sondermodell in Europa entwickeln konnte, und welche Chancen vor dem Hintergrund der ausgeprägten Tradition des Halbtagsmodells die aktuellen Reformversuche haben. Zentrale Funktion des Workshops war es, ein theoretisches und methodisches Instrumentatrium für einen Systemgrenzen überschreitenden Vergleich zu entwickeln, der Ansätze aus den Geschichts-, Sozial- und Kulturwissenschaften verbindet und systematisch die Geschlechterdimension integriert. Um diesen multiperspektivischen Zugriff zu ermöglichen, wurden WissenschaftlerInnen aus den Sozial-, Politik-, Erziehungs- und Geschichtswissenschaften eingeladen.

Eröffnet wurde der Workshop durch einen Einführungsvortrag zu Zielen und Inhalten des Projektes von Karen Hagemann, die die drei zentralen Forschungshypothesen vorstellte. Laut der ersten Hypothese sei die Zeitpolitik im Bildungsbereich ein Politikfeld, das von einer Vielzahl von zusammenwirkenden Faktoren – politischen, ökonomischen, sozialen und kulturellen – beeinflusst wurde und werde. Die auffälligen Unterschiede, aber auch die Systemgrenzen überscheitenden Gemeinsamkeiten in den Zeitpolitiken der Bildungssysteme Europas im Bereich der Vor- und Grundschule, seien deshalb nur mit einem multiperspektivischen Ansatz angemessen zu verstehen und zu erklären. Zu den Faktoren, die hierbei zusammenwirkten, zählten: (1) die historisch gewachsenen rechtlichen Grundlagen und Rahmenbedingungen des Erziehungs- und Schulsystems, insbesondere die Rolle des Staates und (soweit überhaupt zugelassen) der Status freier Träger (wie der Kirchen, wohltätiger Vereine und sozialer Organisationen) sowie die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Organisation des Erziehungs- und Bildungswesen, (2) die kulturell jeweils vorherrschenden Konzepte von Bildung und Erziehung und dazu konkurrierende Alternativentwürfe, sowie in Verbindung damit die jeweils dominierenden und damit konkurrierenden Vorstellungen von den gesellschaftlichen Aufgaben der Familie als Erziehungsinstitution, (3) die kulturell hegemonialen Modelle von der angemessenen geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung in Familie und Gesellschaft sowie Varianten und kritische Gegenentwürfe, (4) die Durchsetzungsfähigkeit verschiedener Interessengruppen im Diskurs über Bildungs- und Erziehungsfragen und im politischen Entscheidungsprozess, und (5) nicht zuletzt die jeweilige Wirtschafts- und Arbeitsmarktlage eines Landes, dessen Bevölkerungsentwicklung und die Finanzkraft des Staates sowie die gesamtpolitische Konstellation, unter anderem das Regierungs- und Herrschaftssystem, jeweilige politische Mehrheiten und politische Systembrüche.

Bei deren Analyse sei davon auszugehen, dass die Relevanz der Faktoren in den einzelnen Ländern in verschiedenen Entwicklungsphasen jeweils unterschiedlich gewesen sei und zudem deren Zusammenwirken erheblich variiert habe. Wichtig sei es in der Analyse insbesondere auf Phasen des „critical juncture“ zu achten, das heißt historische Konstellationen, in denen sich entweder entscheidende Veränderungen durchgesetzt hätten oder alternative Entwicklungen möglich gewesen seien. Die zweite Hypothese sei, so Hagemann, die Annahme vom Prozesscharakter von Politiken und den sie tragenden Institutionen und damit ihre nachhaltige historische “Pfadabhängigkeit“. Unterstellt werde, dass mit der Durchsetzung eines Musters, dem Ablauf von Zeit und dem wiederholten Gebrauch die materiellen und kulturellen Kosten der Änderung steigen würden und spezifische ökonomische, soziale und politische Konstellationen erforderlich seien, um weiterreichende Reformen durchzusetzen. Die dritte Forschungshypothese betone die Bedeutung der bisher unterbewerteten kulturellen und geschlechterpolitischen Dimension des Themas. Gerade der Vergleich zeige deutlich, wie bei annähernd gleicher ökonomischer Ausgangssituation und ähnlichen bevölkerungspolitischen Grundproblemen einerseits unterschiedliche Konzepte von Bildung und Erziehung, und andererseits unterschiedliche Vorstellungen über die angemessene geschlechtsspezifische Arbeitsteilung in Familie und Gesellschaft im allgemeinen und die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie über “Mutterschaft” im besonderen, zu sehr unterschiedlichen Zeitpolitiken geführt habe.

Für die Überprüfung dieser drei Hypothesen könne, so Hagemann, auf wichtige theoretische und methodische Vorarbeiten zurückgegriffen werden. Interessant sei erstens die vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung, die verschiedene Modelle zur Analyse des Zusammenhangs von Sozialpolitik, Arbeitsmarkt, Familienformen und Geschlechterverhältnissen entwickelt habe. Der Fokus dieser Forschung ziele allerdings bisher primär auf die westlichen Länder, erst in jüngster Zeit würden auch die (post)sozialistischen Länder verstärkt zum Gegenstand der Untersuchung gemacht. Zum zweiten hätten die Diskussionen in der Geschichts- und Politikwissenschaft über Möglichkeiten und Grenzen des historischen Vergleichs verschiedener Gesellschaftssysteme wichtige Anregungen und Klärungen gebracht. Drittens könne auf die methodischen Erkenntnisse der vergleichenden Bildungsforschung zurückgegriffen werden, die bereits systematisch vergleichende Beschreibungen der europäischen Bildungssysteme bereitgestellt habe. Sie verfüge über spezifische methodische Instrumente quantitativer und qualitativer Forschung, die es erlaubten, Spezifika und Globalität der untersuchten Fragen und Probleme zu erfassen. Alle drei disziplinspezifischen Ansätze seien aber für sich genommen nicht ausreichend, um die Unterschiede in der Zeitpolitik der Bildungs- und Erziehungssysteme zu erklären. Nur ein historisch und vergleichend angelegter multiperspektivischer Ansatz, der die Geschlechterdimension systematisch integriere, sei weiterführend.

Im Mittelpunkt des ersten Panels standen drei Vorträge, die sich aus unterschiedlicher disziplinärer Perspektive mit zentralen Problemen eines so angelegten Vergleichs befassten. Die Politikwissenschaftlerin Kimberly Morgan (George Washington University) sprach zum Thema „Gender, Welfare States and Child Care in Comparison”. Sie wies darauf hin, dass es methodologisch überaus schwierig sei, Schul- und Kinderbetreuungssysteme länderübergreifend zu vergleichen, handle es sich doch bei Bildung und Kinderbetreuung um hochkomplexe Politikbereiche. Grundsätzlich sei zu fragen: Wer stellt beides bereit und auf welcher Regierungs- und Verwaltungsebene sind beide strukturell angesiedelt? Wie scharf ist die institutionelle Trennung zwischen Bildung und Erziehung? Als mögliches Analyseinstrument skizzierte Morgan das Konzept der Pfadabhängigkeit, das die Verfestigung einmal gefundener politischer Problemlösungsmuster erklären könne.

Der Soziologe Hans Bertram (Humboldt-Universität zu Berlin) referierte zum Thema „States, Families and Education in Comparison“. Im Mittelpunkt seines Vortrages stand der Wandel der Familie und der familienbezogenen Politiken. Er wies auf das zentrale Problem hin, dass Grundlage und Umfang der Daten zur Familie selbst innerhalb der Europäischen Union höchst unterschiedlich seien, was einen Vergleich erheblich erschwere. Bertram unterstrich die Notwendigkeit der postindustriellen Wohlfahrtsstaaten, ihre kulturellen Vorstellungen und ihre daraus abgeleiteten Politiken zur Rolle von Frauen, Männern und Kindern in der Gesellschaft grundlegend zu modernisieren. Nur eine Gleichstellungspolitik, die nicht nur auf Frauen ziele, sondern auch die Männer einbeziehe, wäre ein adäquates Fundament moderner Familien-, Bildungs- und Sozialpolitik. Langfristig hätten nur solche postindustriellen Länder einen Wettbewerbsvorteil, die eine intelligente Politikmischung von Zeitorganisation, finanziellem Transfers und infrastrukturellen Angeboten zur Lösung der drei Schlüsselprobleme westlicher Wohlfahrtsstaaten entwickeln: erstens die nach wie vor schwierige Vereinbarkeit von Familie und Beruf mit der daraus resultierenden ineffizienten Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt, die deren qualifiziertes, zukünftiges Arbeitskräftepotential nicht annähernd ausschöpfe; zweitens der dramatische Geburtenrückgang mit den daraus resultierenden Problemen für das gesamte Sozialsystem, insbesondere das Gesundheits- und Rentensystem; und drittens soziale und ethnische Ungleichheiten verstärkende Bildungs- und Betreuungssysteme, die vor allem die vorhandenen Bildungs- und damit Arbeitkräftepotentiale von MigrantInnen nicht nutzten.

Wie die unterschiedlichen Konzepte von "Child Care" historisch entstanden und begründet wurden, zeigte die Historikerin Sonya Michel (University of Maryland) in ihrem Vortrag “Gender and Child Care in a Comparative Historical Perspective”. Während beim Kindergarten in Fröbelscher Tradition, einem in der Regel halbtägigen Angebot, das sich vor allem an Kinder der Mittelschicht richtete, seit dem 19. Jahrhundert allerorts Bildung das zentrale Begründungsmuster war, wurden die ganztägigen Einrichtungen für Kinder außerhäuslich erwerbstätiger Arbeitermütter durchgehend damit legitimiert, dass Arbeiterkinder durch eine ganztägig Betreuung vor ‘Verwahrlosung’ geschützt werden müssten. Nur als sozialer Ausnahmefall wurde ganztägige Kinderbetreuung damit akzeptiert, denn Frauenerwerbstätigkeit und Ganztagsbetreuung galten tendenziell als Bedrohung von Familie und Gesellschaft, minimierten sie doch den als zentral erachteten familiären Erziehungseinfluss. Michel skizzierte ihre These anhand von vier Länderbeispielen: In den USA bestehe die Trennung von Kinderbetreuung und frühkindlicher Erziehung bis heute. In Dänemark und Schweden wäre die Kinderbetreuung als pädagogisches Angebot seit den 1960er-/70er-Jahren stark ausgebaut worden, wobei in Dänemark das sozialpädagogische Ziel frühkindlicher Förderung ausschlaggebender gewesen sei, in Schweden hingegen das Ziel einer verstärkten Integration von Frauen in den Arbeitsmarkt. Das Beispiel der frühen Sowjetunion wiederum zeige, dass kommunistische Ideologie und revolutionärer Erziehungsanspruch nicht notwendigerweise zu mehr oder gar qualitativ besonders hochwertigen Kinderbetreuungseinrichtungen führten.

Im zweiten Panel zum Thema "Gender, Labor Market and Child Care: Comparing Welfare State Regimes in East and West" ging es um den Einfluss, den der Arbeitsmarkt und kulturelle Leitbilder zur geschlechtspezifischen Arbeitsteilung auf die Kinderbetreuungspolitik haben. Hier wurde deutlich, dass, wie in der Einführung zum Workshop bereits hervorgehoben, Unterschiede in den Bildungs- und Sozialsystemen keineswegs nur entlang der Ost-West-Systemgrenze verlaufen. Die Soziologin Dorottya Szikra (ELTE University, Budapest) skizzierte die Entwicklung in Ungarn, wo Krippen, Kindergärten und Schulhorte wegen der ökonomisch notwendigen Vollzeiterwerbstätigkeit von Müttern seit den 1950er-Jahren zunehmend verfügbar waren. Nach der Wende sei dieses Angebot, anders als in anderen post-sozialistischen Ländern, nicht einfach abgebaut, sondern in veränderter Form weitergeführt worden. In der paradigmatischen Wohlfahrtsstaatstypologie von Gosta Esping-Anderson, der zwischen konservativ-korporativem, liberalem und sozialdemokratischem Modell unterscheide, lasse sich das post-sozialistische Ungarn deshalb nicht zuordnen, sondern stelle vielmehr einen Mischtypus dar, der Merkmale aller drei Modelle enthalte. Das Beispiel Ungarns zeige somit, das anhand westlicher Wohlfahrtsstaaten entwickelten Kategorien und Typologien, wie von den Veranstaltern des Workshops gefordert, grundlegend überdacht werden müssten, um der Entwicklung in den mittel- und osteuropäischen (post-)sozialistischen Ländern gerecht zu werden.

Die Politologin Anca Gheaus (New Europe College, Bukarest) thematisierte in ihrem Vortrag die Beziehung zwischen Geschlechtergerechtigkeit und "Child Care". Während Feministinnen im Westen sich häufig für eine Übertragung von Pflege- und Betreuungsaufgaben an staatliche Institutionen aussprechen würden und dabei vor allem das skandinavische Modell vor Augen hätten, das den Interessen von Frauen und Kindern gleichermaßen gerecht zu werden scheint, ständen Feministinnen im Osten dem Wohlfahrtsstaat häufig sehr viel skeptischer gegenüber. Ein zentraler Grund hierfür sei, dass in post-sozialistischen Ländern wie Rumänien in den staatlichen Institutionen ebenso wie in den Familien eine ausgesprochen patriarchale und paternalistische Kultur die Wende unhinterfragt überlebt habe. Der gegenwärtige Wohlfahrtsstaat in Rumänen biete Männer soziale Sicherung durch besser bezahlte Arbeitsplätze im staatlichen Sektor, während die hauptsächlich in der Privatwirtschaft beschäftigten Frauen nicht nur die Hauptlast der Steuern zahlen, sondern neben ihrer Erwerbsarbeit auch die Hauptlast der Haus- und Familienarbeit tragen würden. Gheaus plädierte dafür, nicht nur das Zusammenspiel von geschlechtshierarchischen Strukturen des Arbeitsmarktes und quantitativen Strukturen des „Child Care“-Angebotes zu analysieren, sondern stärker auch die Qualität dieses Angebotes sowie der staatlichen Familienpolitik insgesamt in die Untersuchung einzubeziehen. Wichtig sei es dabei, auch die geschlechtshierarchischen Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse, die durch die Zeitpolitik eines spezifisches Sozial-, Betreuungs- und Bildungssystem produziert werden würden, in den Blick zu nehmen.

Das dritte und vierte Panel befassten sich mit dem Thema "Families, Schools and the State". Deutlich wurde in beiden Sektionen die Vielfalt von erziehungswissenschaftlichen und sozialpädagogischen Ansätzen. Thomas Coelen (Universität Rostock) trug seine Überlegungen zu einem sozialpädagogischen Forschungsprojekt vor, in dem die Beziehungen zwischen Schulen und Jugendarbeit aus der Perspektive von Jugendlichen in fünf europäischen Erziehungssystemen verglichen werden sollen (Finnland, Schweden, Litauen, Russland und Ostdeutschland). Danach präsentierte Cristina Allemann-Ghionda einen vergleichenden Überblick über die historische Entwicklung des Ganztagsschulmodells in Europa. In Frankreich, dem Land mit der längsten Ganztagsschultradition in Europa, wurde die Ganztagserziehung seit den 1880er-Jahren mit dem Ziel durchgesetzt, ein republikanisches Bildungssystem zu etablieren und den Einfluss der katholischen Kirche auf die öffentliche Bildung und Erziehung zurückzudrängen. Demgegenüber überwogen in England bei der Einführung der Ganztagsschule Ende des 19. Jahrhundert soziale Gründe: zunächst das Ziel einer Bekämpfung der Kinderarbeit und später das Bestreben, die Verwahrlosung von Arbeiterkindern einzudämmen. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts kamen dann zu den sozialpolitischen und sozialpädagogischen Gründen zunehmend transnational reformpädagogische Gründe, die auch nach dem Zweiten Weltkrieg die Diskussionen über Schulreformen in Westeuropa in erheblichem Maße bestimmten.

Intensiv diskutiert wurde anhand der beiden Papiere zum einen die Frage, wie am ertragreichsten ein disziplinenübergreifender Dialog über die differierenden Theorien, Methoden und Begriffe geführt werden könne. Zum anderen wurde der Zusammenhang zwischen der Zeitstruktur des Bildungs- und Erziehungsangebotes und der Verfestigung bzw. dem Abbau sozialer und ethnischer Ungleichheit debattiert, der sich bei genauerer Analyse als viel komplizierter erweist als häufig angenommen. Ein ganztägiges Erziehung- und Bildungsangebot führe, so wurde in der Diskussion betont, ebenso wie die Abschaffung des dreigliedrigen Schulsystems und die generelle Einführung von Comprehensive Schools (wie im angloamerikanischen Raum) nicht automatisch zu mehr Chancengleichheit. Von größter Wichtigkeit sei eben auch die Qualität des Angebots, insbesondere die Ausstattung der Einrichtungen und die Ausbildung des Personals.

Anschließend präsentierte der Bildungshistoriker Karel Rýdl (University of Pardubice) eine vergleichende Bestandsaufnahme der Familien-, Betreuungspolitik in Tschechien, Polen, Slowakei und Slowenien. Die gegenwärtige Bevölkerungsstatistik in den osteuropäischen Ländern werde geprägt von zurückgehenden Geburtenraten, steigenden Scheidungsraten, unverheirateten Paaren und Einelternfamilien als Reaktion auf die einschneidenden wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen der 1990er-Jahre. Nach 1990 sei mit der Einführung des Marktprinzips die gute Versorgung mit Kindergärten und anderen Betreuungseinrichtungen, die in den sozialistischen Gesellschaften durchgehend vorgeherrscht habe, vielerorts zusammengebrochen, was dramatische Folgen für die Frauen gehabt habe, die Berufstätigkeit und Familie nicht mehr hätten so leicht wie vor der Wende hätten vereinbaren können. Die Erziehungswissenschaftlerinnen Dominique Groux und Mareike Busch (Universität Potsdam) fragten in ihrer Vergleichsstudie, welche Bilder und Erwartungen an 'Schule' Familien in Frankreich, Russland und Deutschland haben. Die Basis bildete ein Sample aus befragten SchülerInnen und Eltern mit unterschiedlichem sozialen Hintergrund aus Paris, Potsdam, Berlin und Moskau.

Im fünften Panel "Gender, Child Care and Schools" analysierte die Soziologin Celia Valiente (Universidad Carlos III de Madrid) zunächst die Zeitpolitik des spanischen Bildungs- und Betreuungssystems. Sie hob hervor, dass in Spanien Kinderbetreuung schon immer in den Verantwortungsbereich der Bildungspolitik gefallen sei. Mit den vermehrten Bildungsinvestitionen seit dem Ende des Franco-Regimes 1975 sei auch der Ausbau unentgeltlicher öffentlicher Vorschulen das Ziel aller Regierungen gewesen, unabhängig von der jeweiligen Parteizugehörigkeit, um Armut und soziale Ungleichheit zu bekämpfen. Frauenpolitische Motive hingegen hätten, anders als zum Beispiel in Schweden, keine Bedeutung gehabt. Die Öffnungszeiten von Kindergärten, Vor- und Grundschulen erlaubten Müttern keine Vollzeiterwerbstätigkeit. Sie seien formal zwar ganztätig offen, hätten jedoch eine lange Mittagspause, in der die Kinder nach Hause geschickt würden. Auch sei der große Bedarf an Betreuungsplätzen für Kinder unter drei Jahren bislang von der Politik ignoriert worden. Valiente betonte, dass die Mütterlichkeitsideologie der Franco-Ära ein Grund dafür gewesen sei, dass spanische Feministinnen sich nach der Diktatur kaum für die Themen der Vereinbarkeit von Mutterschaft und Beruf oder Kinderbetreuung interessiert hätten und es deshalb für entsprechende Forderungen keine Lobby gegeben habe.

Im Anschluss widmete sich der Erziehungswissenschaftler Rainer Treptow (Universität Tübingen) der Frage, inwieweit vergleichende internationale Forschungsprojekte zu sozialpädagogischen und erziehungswissenschaftlichen Themen nicht viel stärker die spezifischen historischen Kontexte berücksichtigen müssen, um ihrem Gegenstand und dessen spezifischen nationalen Bedingungen gerecht zu werden. Als Analyseebenen schlug Treptow deshalb eine Makro-, Meso- und Mikroebene vor. Im zweiten Teil seines Vortrags fragte Treptow, welchen Beitrag eine so angelegte Forschung bei der Analyse und Gestaltung wohlfahrtsstaatlicher Reformen leisten könne. Seine Antwort fiel ambivalent aus. In der Diskussion herrschte eine eher skeptische Position vor. Der Einfluss der Forschung auf die Politik wurde eher gering eingeschätzt. Vor allem in der Auftragsforschung würden Forschungsergebnisse, die nicht zur parteipolitischen Linie einer Regierung passten, häufig schlicht nicht veröffentlicht.

In dem anschließenden, von Konrad Jarausch moderierten Podiumsgespräch wurden die zentralen Themen des Workshops resümierend diskutiert. Hans Bertram legte den Akzent auf die nationalen Unterschiede in den Wohlfahrtskonzeptionen und betonte, dass Inklusion und Exklusion grundlegende Kategorien einer Definition von Wohlfahrtstaaten und Bildungssystemen sein müssten. Die Soziologin Christina Bergqvist (Universität Uppsala) forderte, dass die Analyse von Sozial-, Familien- und Bildungspolitik immer auch deren Auswirkungen für beide Geschlechter im Blick haben müsse. Die Soziologin Jacqueline Heinen (Université de Versailles) verwies auf die in vielen Ländern übliche institutionelle Trennung von Betreuung und Bildung, die sich auch im Selbstverständnis der Professionen niederschlage, das stärker in den Blick genommen werden müsse. Die Bildungshistorikerin Juliane Jacobi (Universität Potsdam) betonte, dass historisch und national sehr unterschiedliche Auffassungen darüber beständen, was Familienaufgabe und was Aufgabe des Staates bzw. staatlicher Erziehung zu sein habe. Der deutsche Fall zeige, dass die Konkurrenz zwischen beiden deutschen Staaten auch zu verschiedenen Auffassungen über das Ziel, die Qualität und den Ort von Erziehung geführt habe.

Der Dialog über die Fachgrenzen hinweg, der im Workshop außerordentlich konstruktiv geführt wurde, ermöglichte es, einschlägige Forschungsergebnisse aus verschiedenen Disziplinen zu prüfen und sich über theoretisch-methodologische Eckpunkte für einen Ost-West-Vergleich zu verständigen.3 Die skizzierten Ergebnisse des Workshops bilden so eine anregende und fruchtbare Basis für die Folgekonferenz des Projekts, die Anfang März 2007 unter dem Titel State – Children – Family: The Politics of Public Education in Europe – East-West Comparisons an der Universität Köln stattfinden wird. Eine Publikation soll die Ergebnisse von Workshop und Tagung anschließend zusammenfassen.

Anmerkungen:
1 Programm siehe H-Soz-u-Kult unter: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=4763
2 Mehr Informationen zum Projekt bietet die Website http://www.time-politics.com
3 Siehe zum Workshop auch: http://www.ganztagsschulen.org/5520.ph

Kontakt

Prof. Dr. Karen Hagemann (Projektleitung)
International and Interdisciplinary Project „The German Half-Day Model: A European Sonderweg? The 'Time Politics' of Public Education in Post-War Europe - An East-West Comparison.“

Technical University of Berlin, Department of History and Art History
and University of North Carolina at Chapel Hill, History Department
E-Mail: hagemann@unc.edu

http://www.time-politics.com/
Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger