„Arbeit – Kultur – Identität“ Zur Transformation von Arbeitslandschaften in der Literatur

„Arbeit – Kultur – Identität“ Zur Transformation von Arbeitslandschaften in der Literatur

Organisatoren
Fritz-Hüser-Institut und das Westfälische Industriemuseum, in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, der Humboldt-Universität zu Berlin und der Universität Osnabrück
Ort
Dortmund
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.03.2006 - 25.03.2006
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Von
Annett Gröschner

"Arbeit ist des Bürgers Zierde"

Dortmund-Bövinghausen, Zeche Zollern II/IV: Die Zechengebäude wurden in den letzten Jahren mit viel Aufwand und Liebe zum Detail renoviert. So sauber wie heute war es hier nie und so still auch nicht. 1961, als sich in Dortmund die literarische Vereinigung Gruppe 61 gründete, war der Niedergang des Steinkohlenbergbaus schon in vollem Gange. Die Zeche Zollern II/IV, Anfang des 20. Jahrhunderts noch eine Musterzeche, stand zu dieser Zeit kurz vor der Stilllegung. Hier fuhren die Bergleute nur noch ein und aus, Kohle wurde nicht mehr gefördert. Heute ist die Zeche eine von acht Stationen des Westfälischen Industriemuseums, während die Nachlässe der Literatur und Kultur der Arbeitswelt, zu deren bedeutendsten Vertretern die Gruppe 61 gehörte, im Dortmunder Fritz-Hüser-Institut gesammelt werden. Beide Institutionen luden in Zusammenarbeit mit der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, der Humboldt-Universität Berlin und der Universität Osnabrück vom 23.-25. März 2006 zum Symposion „Arbeit-Kultur-Identität. Zur Transformation von Arbeitslandschaften“ auf das Zechengelände. Nach der Jahrestagung „Literatur und Arbeit“ der Anna-Seghers- und der Brigitte-Reimann-Gesellschaften im November 2005 in Potsdam und dem vom Berliner Zentrum für Literaturforschung organisierten Treffen „Literarische Kritik der ökonomischen Kultur“ im Berliner Literaturhaus im Januar 2006 war das die dritte Konferenz zu Fragen von Literatur und Arbeit innerhalb von fünf Monaten. Offensichtlich ist das Interesse an dem Thema in den Kultur- und Gesellschaftswissenschaften größer als bei Schriftstellern und Feuilletonisten, was vielleicht daran liegt, dass die Existenzen der Wissenschaftler inzwischen noch prekärer sind als die der Autoren und Journalisten. Erhard Schütz von der Berliner Humboldt-Universität erwähnte dann auch in seinem Eröffnungsvortrag den aktuellen Begriff des Prekariats, der, in Analogie zum Proletariat, die schlecht abgesicherten, hoch flexiblen, meist gut ausgebildeten, aber kaum organisierten Freiberufler zusammenfasst. „Es scheint nicht unkompliziert mit der Arbeit heute: Leute, die vielleicht gern etwas anderes geworden wären, werden Künstler, die dann von etwas anderem als Kunst ihren Lebensunterhalt fristen müssen.“ Die alten Begriffe von Arbeit in der Literatur taugen nicht mehr. „Erst in der Entkoppelung von Arbeit und Bezahlung und Wiederverkoppelung von Arbeit und Muße gewönnen wir jene Position, in der die unumkehrbare Musealisierung industrieller Arbeit frei wäre vom Zwang zur Nostalgie“, sagte Schütz.

In einer virtuellen Tour führte Erhard Schütz durch das Museum der Arbeitsliteratur: „Die Dauerausstellung im Altbau haben die einfallslosen Kustoden als historischen Kursus durch vier Zeit-Räume gegliedert: Der Zeit-Raum von ca. 1850 bis 1917, der das polare Doppel sozialdemokratischer Selbstbildproduktion und bildungsbürgerlicher Einhegungs- und Einheitsbeschwörung umfasst, der Zeit-Raum von ca. 1917 bis 1933 mit dem polaren Doppel einer Hegemonial-Konkurrenz innerhalb der Arbeiterbewegung und technokratischer Funktionalitätsfaszination, der Zeit-Raum von ca. 1933 bis 1961, bestehend aus dem polaren Doppel von politischer Systemfeier durch Produktionsverherrlichung und naturwissenschaftlich-technischer Popularisierung und schließlich der Zeitraum von ca. 1961 bis 1987, der das Doppel von politischer Systemagitation und industrieweltlichem Sozialrealismus ausstellt.

In diesen vier Zeit-Räumen bewegten sich auch die Referenten der vier Sektionen des Symposions: „Arbeit in der Literatur“, „Arbeiterkultur nach dem 2. Weltkrieg“, „Arbeit und Identität“ sowie „Autobiographie und Migrantenliteratur“,1 sieht man von zwei Beiträgen in der ersten Sektion ab, dem von Julia Bertschik über Jobs und Müßiggang in den gegenwärtigen Arbeiten deutscher Autoren und Enno Stahls Vortrag über New Economy in der Literatur, die sich explizit dem Umgang der Gegenwartsliteratur mit dem Thema Arbeit, Arbeitslosigkeit und Arbeitsverweigerung widmeten. Enno Stahl konstatierte, dass die ökonomischen Verwerfungen des letzten Jahrzehnts nur in Ausnahmefällen den Weg in die Prosa deutscher Autoren gefunden haben – im Gegensatz zu den jüngsten Entwicklungen der Dramatik. Dabei ist die Transformation des Arbeitsbegriffs durchaus ein literarisches Thema der Zukunft, wenn auch nicht mit klassenkämpferischen Mitteln wie noch bis in die 1970er-Jahre. Über Arbeit, Arbeitslosigkeit und Arbeitsverweigerung in der proletarischen Literatur der Weimarer Republik sprach in der ersten Sektion Torsten Unger und ging dabei auf die ursprüngliche gesinnungsästhetische Kategorie und die spätere Marxsche Definition des Begriffs ‚Proletarier’ ein, der in den 1920er-Jahren zum Subjekt der Literatur wurde. Schwerpunkt seiner Untersuchung lag dabei auf Rudolf Braunes Roman „Der Kampf auf der Kille“, der Ende der 1920er-Jahre als Fortsetzungsroman in der kommunistischen Zeitung „Freiheit“ erschien und in dem die Arbeit im Unterschied zu den von Julia Bertschik untersuchten Werken der Gegenwartsliteratur noch als identitätsstiftend im Gegensatz zum Müßiggang beschrieben wurde: „Sie fühlt sich, untätig und die Hände im Schoß, auf diesem Sofa nicht mehr wohl. Ihr kommt der verrückte Einfall, sich in die Stube zu knien und aufzuwischen. Arbeiten, eine Aufgabe, ein Ziel haben, ja, damit überwindet man die Lethargie, die Schwermut, das Grübeln.“

Die Klammer zwischen Vergangenheit und Gegenwart, Ost und West bildete das schwierige Verhältnis von geistig und körperlich Arbeitenden, das vor allem in der zweiten Sektion behandelt wurde. In einem Filmausschnitt des WDR über das zehnjährige Jubiläum der Gruppe 61 formulierten Autoren wie Günter Wallraff den Widerspruch zwischen Solidarität und Individualisierung in der Gruppe 61, die schließlich in die Bewegung „Literatur der Arbeitswelt“ mündete. Erhard Schütz zitierte in seinem Eröffnungsvortrag aus einem Artikel von Peter Schütt in der Welt vom 13. Mai 2000,2 der unter Referenten und Zuhörern des Symposions, unter ihnen auch ehemalige Mitglieder der Gruppe, nicht ganz unwidersprochen blieb: „Im Jahr der Studentenrevolte rückte ich in Dortmund an, um zusammen mit einigen Gleichgesinnten – mit Günter Wallraff, Erasmus Schöfer und Erika Runge – die Gruppe 61 ‚auf Linie zu bringen’. Wir verdächtigten die Arbeiterdichter des sozialdemokratischen Klassenverrats und wollten ihnen im spontanen Lernprozess vermitteln, wie man richtige, das heißt: proletarisch-revolutionäre und sozialistisch-realistische Literatur im Dienste der Arbeiterklasse produziert. [...] In einem Handstreich wurde die Gruppe 61 auf proletarisch-revolutionäre Weise ‚umfunktioniert’“. So entstand 1969 der Werkkreis Literatur der Arbeitswelt. Auf diese Geschichte von Arbeit und Literatur bezog sich auch Referent Ludger Claßen vom Klartext Verlag Essen in seinem Beitrag. Ausgehend von den ersten Anfängen der Arbeiterkultur zu Beginn der 1950er-Jahre unter der Ägide des Stahlarbeiters und späteren Bibliothekars Fritz Hüser, der 1973 seine Privatsammlung der gesamten Arbeiterkulturbewegung der Stadt Dortmund übergab, und im Umkreis des katholischen Bitterverlages, über die Volkshochschulgruppe um Josef Büscher in Gelsenkirchen reichte Claßens Betrachtung bis zu den Kontroversen Ende der 1960er-Jahre, als die Frage im Raum stand, wie viele Arbeiter überhaupt Mitglied der Bewegung „Literatur der Arbeitswelt“ sind und welcher Berufsgruppe die Leser der zahlreichen Publikationen angehören.

Eine Diskrepanz zwischen Intellektuellen und Vertretern der Arbeiterklasse konstatierten, wenn auch nur verhalten öffentlich, die Vertreter des Bitterfelder Weges in der DDR Anfang der 1960er-Jahre, jene Arbeiterkulturbewegung, über die Dr. Simone Barck referierte. Denn die Grenze zwischen schreibendem Arbeiter und arbeitendem Schriftsteller ließ sich durch Kommuniques oder guten Willen nicht aufheben. Es gab legitime, aber letztendlich unerfüllbare Erwartungen und bis heute keine wirkliche Auswertung der Bewegung, deren Dokumente im Archiv der Akademie der Künste Berlin–Brandenburg aufbewahrt werden.

Die Förderung schreibender, malender und singender Arbeiter erfuhr in den 1950er-Jahren in beiden deutschen Staaten größere Aufmerksamkeit. Während die Bewegung schreibender (und malender) Arbeiter in der DDR Teil der staatlich geförderten Kulturpolitik war, kam es im Ruhrgebiet schon unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges zum Aufbau einer neuen Revierkultur, wie Dagmar Kift vom Westfälischen Industriemuseum Dortmund in ihrem Vortrag ausführte. Der Bergbau war nach dem Krieg die Schlüsselindustrie für den Wiederaufbau. Die Dortmunder Bergbau AG war interessiert daran, die hohe Fluktuation unter den Bergleuten, nur jeder vierte Bergmann blieb, auch durch Formen der kulturellen Bindung einzudämmen und förderte die Bergbaukunst. In den Mittelpunkt stellte Kift, neben der Geschichte der Ruhrfestspiele, das Brauchtumsspiel „St. Barbara – Spiel der Bergleute“ von Erwin Sylvanus, das am 4.12.1950 zur Uraufführung kam. Es war eine Form einer Brauchtumsaufnahme, von Bergarbeitern aus Schlesien eingeführt, die es so in Westfalen vorher nicht gab. In den folgenden Jahren wurde die Barbara in verschiedenster Form Bestandteil der Bergmannskultur, die sich auch in der Ausstellung „Aufbau West. Neubeginn zwischen Vertreibung und Wirtschaftswunder“ wiederfand, wenn auch in säkularisierter Form, als „Kopfschutzkappe Barbara“ oder als Unfallverhütungsplakat „Babsi“. Mit der Kohlekrise 1958 wurde die klassenübergreifende Kulturförderung aus Mangel an Geld gedrosselt und andere, klassenkämpferischere Formen der Arbeiterkultur bildeten sich heraus.

Die dritte Sektion widmete sich in ihrem Kern dem Zusammenhang von Arbeit und Identität in literarischen Texten aus unterschiedlichen sozialen Kontexten und Epochen. Franz-Josef Deiters von der Eberhard-Karls–Universität Tübingen ging der Frage nach: „Warum brauchte der Intellektuelle das Proletariat?“ Ausgehend von den Ursprüngen der Beschäftigung der Literatur mit der Arbeitswelt im 19. Jahrhundert (Heine, Werth, Freiliggrath) wies Deiters anhand von Arbeiten Bertolt Brechts die Literarisierung der Arbeit als Beitrag der Identitätsbildung des Intellektuellen in den 1920er-Jahren nach. Rita Garstenauer vom Institute of Rural History in St. Poelten stellte zwei unterschiedliche Biographien von Landarbeitern vor und wies die Diskontinuitäten von Lebensgeschichten, vor allem der Frauen im ländlichen Raum Österreichs, und ihren dokumentarischen und auch literarischen Dimensionen nach. Daniel Tech von der Sozialforschungsstelle Dortmund dagegen wechselte in die Gegenwart eines international agierenden Stahlkonzerns, der den ehemals größten Stahlstandort der DDR, Eisenhüttenstadt mit dem Eisenhüttenkombinat EKO nach der Wende übernahm und vorhandene Traditionen der Verbindung von städtischer und industrieller Kultur aufnahm und weiterentwickelte, trotz des erheblichen Abbaus von Arbeitsplätzen. Das EKO, das in den 1960er-Jahren noch Planstellen für Ballettmeister bereitstellte, unterstützt bis heute kulturelle Einrichtungen Eisenhüttenstadts, dessen Kulturangebot trotz Streichungen immer noch größer ist als in vergleichbaren Städten Westdeutschlands. Es gibt eine EKO-Hymne, einen Stahlliteraturpreis und eine Bürgerstiftung, die vor allem gegen Rechtsradikalismus eintritt.

Die vierte und letzte Sektion widmete sich der Autobiographie und der Migrantenliteratur, die neben der Vagabundenliteratur ein Schwerpunkt des Fritz Hüser-Instituts ist. Beide Literaturen waren Thema des Vortrages von Ute Gerhard von der Universität Dortmund.
Volker Zaib von der Franz-Hüser-Gesellschaft Dortmund fragte nach der Bedeutung (auto-)biographischer Quellen in der Forschung zur Kultur der Arbeitswelt und ihrer Einordnung in soziokulturelle Strukturen, während Michael Tonfeld vom Werkkreis Literatur der Arbeitswelt mit seinem Vortrag einen Einblick in die Praxis gab. Die Bewegung leidet seit Jahren an einem Mangel an jungen Autoren, während die älteren Arbeiterschriftsteller konservative Formen bevorzugten. Heute sei ein Studium Voraussetzung für eine Schriftstellerkarriere, nicht ein Hilfsarbeiterjob, einer Literatur von unten fehle der Markt. Ein Schwerpunkt der Bewegung sei gegenwärtig neben der Arbeit an Schulen („Pädagogen sind die Zielgruppe, nicht Gewerkschaftsmitglieder“) eine literarische Aufarbeitung der Migrationsbedingungen. Denn aus Gastarbeitern, denen in den 1970er-Jahren eine Anthologie „Sehnsucht in Koffern“ gewidmet war, wurden Migranten. Selbstkritisch fragte Tonfeld nach der Wirkung der Literatur der Arbeitswelt in Zeiten der Globalisierung. „Bewirkt das Rezitieren von Gedichten, dass Betriebe nicht geschlossen werden?“ Eine Frage, die wohl jeder im Raum mit nein beantwortete, ob er nun ehemaliger Bergmann, Intellektueller oder Student war.

Beiprogramm des Symposions war eine Führung durch das Fritz-Hüser-Institut, ein Filmabend mit seltenen und aus heutiger Sicht unfreiwillig komischen Dokumenten aus Wochenschau und Fernsehen über die Arbeiterkultur im Ruhrgebiet zwischen 1945 und 1970, ein Rundgang durch die Ausstellung „Aufbau West“ auf dem Museumsgelände, eine Lesung von Michael Kamp “150 Jahre Arbeit und Literatur“ und eine Exkursion zu exemplarischen Orten der Montangeschichte, der Industriekultur und ruhrpolnischen Migration am dritten Konferenztag.

Der Tagungsort konnte nicht besser gewählt sein. In den Rundbögen der Decke der ehemaligen Lohnhalle, in der das Symposion stattfand, sind Verse aus Schillers Glocke zu lesen: ARBEIT IST DES BÜRGERS ZIERDE/ SEGEN IST DER MÜHE PREIS, eine etwas andere Form der Verbindung von Literatur und Arbeitswelt. So ließ sich einst das Warten auf die Lohntüte mit ein wenig Literatur versüßen. Und auch in den angrenzenden Waschkauen wurde der Bergmann mit gebundener Rede zu vorschriftsmäßigem Verhalten aufgefordert: „Die Augen auf, der Nacken steif,/ mit klarem Kopfe schaffen,/ das sind, so lang der Bergbau steht, /die besten Unfallwaffen“. Kunst und Kohle sind nicht erst mit Gründung der Ruhrfestspiele ein Bündnis eingegangen.

Die Stille des verlassenen Arbeitsortes wurde nur durch das gelegentliche Quietschen eines Krans gestört. Unmittelbar neben dem Tagungsort lässt die Stadt ein neues Gebäude für das Fritz-Hüser-Institut errichten. Die Versöhnung von Literatur und Arbeitswelt findet im Museum statt. Die Zumutungen der Globalisierung des 21. Jahrhunderts wünscht man sich verstärkt in die Gegenwartsliteratur.

Anmerkungen:
1 Programm siehe bei H-Soz-u-Kult unter http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=5016
2 Peter Schütt, „Schlagt die blaue Blume tot“, in: Die Welt 13.05.2000, http://www.welt.de/data/2000/05/13/591887.html


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