Ungleiche wirtschaftsräumliche Entwicklungen in Nordwestdeutschland (Teil I)

Ungleiche wirtschaftsräumliche Entwicklungen in Nordwestdeutschland (Teil I)

Organisatoren
Arbeitskreis für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen
Ort
Hannover
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.03.2006 -
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Von
Prof. Dr. Hans-Werner Niemann, Universität Osnabrück

Die wissenschaftliche Leitung der Tagung des Arbeitskreises lag in den Händen von Hans-Werner Niemann (Universität Osnabrück), der zu Beginn eine kurze Einführung in das Thema "räumliche Disparitäten" anhand eines Forschungsüberblicks gab. Er verwies in diesem Zusammenhang auf die Bedeutung der Industrialisierungsforschung, die die Frage nach den Auswirkungen der Industrialisierung auf die Entwicklung inter- und intraregionaler Wachstums- und Wohlstandsgefälle aufgeworfen habe. Ein Schwerpunkt war dabei u.a. die Untersuchung der Disparitäten der regionalen Erwerbsstrukturen im 19. und 20. Jh., wobei die Betrachtung raumstruktureller Veränderungen in den 1980er Jahren eine neue Perspektivierung erfahren habe: in den Mittelpunkt des Interesses rückten nunmehr die großräumigen Verlagerungen wirtschaftlicher Aktivitäten zwischen verschiedenen Landesteilen.

In dem Beitrag von Lothar Eichhorn (Niedersächsisches Landesamt für Statistik) ging es anhand der Interpretation aktueller statistischer Regionaldaten um "Ungleiche Regionalentwicklungen und -strukturen in Niedersachsen". Es wurde die These vertreten, dass Niedersachsen im Rahmen eines Zentrum-Peripherie-Modells des Weltsystems zur Halbperipherie gehört. Innerhalb des innerdeutschen Regionalgefüges konzentrieren sich die wirtschaftlichen, administrativen und kulturellen Zentren im Westen, Süden und Südwesten des Landes (Metropolregionen um Köln/Düsseldorf, Frankfurt/Mainz/Wiesbaden, Stuttgart und München). Dieses Regionalgefälle von Südwest nach Nordost ist an einer Vielzahl von Indikatoren feststellbar (Wirtschaftswachstum, Arbeitslosenquote, Besatz mit Unternehmenssitzen der Großkonzerne bis hin zum Besatz mit Spitzenrestaurants). Eichhorn vertrat die These, dass dies Gefälle sehr alt sei und bis auf die Spätantike zurückgehe.

Innerhalb Niedersachsens gebe es vor allem die Auffälligkeit der Schwerpunktverlagerung des Landes nach Westen. Krisenhaften Entwicklungen in den altindustrialisierten Regionen im Osten und Süden des Landes (z.B. der Harzregion) stehen auffällige, dynamische und langanhaltende Aufwärtsbewegungen im Westen des Landes, vor allem im Raum zwischen Oldenburg und Osnabrück, gegenüber. Bundesweit besonders herausragend ist immer wieder das Oldenburger Münsterland (LK Cloppenburg und Vechta). Diese Region hat bundesweit die höchsten Geburtenziffern und weist zugleich das größte Wirtschaftswachstum aller Kreise in Norddeutschland auf. Die Ursachen sieht Eichhorn einerseits in der klaren Konzentration der Region auf ihre Kernkompetenzen ("Ernährungskompetenzregion") in der Massenviehhaltung sowie Verarbeitung/Vermarktung der landwirtschaftlichen Erzeugnisse, aber auch in der dort immer noch relativ festen ländlichen Sozialstruktur sowie in mentalen Fragen, unter denen die besondere regionale Identität als katholische Diasporaregion im ansonsten protestantischen Norden eine große Rolle spielt. Gleichwohl seien auch hier Auflösungstendenzen sichtbar und es wurde die Frage gestellt, inwieweit die dortige Massenviehhaltung mit ethischen Grundsätzen vereinbar ist.

Hans-Werner Niemann (Universität Osnabrück) gab in seinem Vortrag über "Die strukturelle Entwicklung der niedersächsischen Wirtschaft 1882-1939" zunächst einen Überblick über die wichtigsten Forschungsansätze und -ergebnisse der im Zuge der Industrialisierungsforschung entstandenen Debatte über die Entwicklung der wirtschaftlichen Disparitäten in Deutschland (Borchardt, Hohls, Kaelble, Gornig u.a.) und legte sodann einige Eckdaten zur Entwicklung der niedersächsischen Wirtschaft in inter- und intraregionaler Perspektive dar. Der Referent verwies insbesondere auf die grundlegende Bedeutung der Arbeitsstätten- und Berufszählungen als statistische Quellenbasis zur Analyse des Wandels der Wirtschafts- und Erwerbsstruktur.

Die Ausführungen des Referenten verdeutlichten, dass es einige Arbeiten gibt, die die Entwicklung der regionalen Disparitäten seit dem 19. Jahrhundert auf der Ebene der Länder, der Provinzen und z.T. der Regierungsbezirke des Deutschen Reiches untersucht haben und sich dabei vornehmlich auf die Entwicklung der sektoralen Erwerbsstruktur konzentrieren. Die dabei zugrunde gelegten Untersuchungseinheiten sind zumeist nicht mit dem Gebiet des späteren Landes Niedersachsen identisch, sondern entweder größer (wie die Region Nord-West bei Gornig) oder kleiner (wie die preußischen Provinzen). Stärker disaggregierte Untersuchungseinheiten (wie die Regierungsbezirke oder Kreise) sind bisher allenfalls punktuell untersucht worden. Vor allem sind die zur Verfügung stehenden Daten bisher nicht systematisch für eine Analyse der wirtschaftlichen Entwicklung Niedersachsens in der Zwischenkriegszeit nutzbar gemacht worden.

Vor diesem Hintergrund stellte Niemann ein Projekt vor, das ein doppeltes Ziel verfolgt: zum einen soll es darum gehen, das publizierte oder in den niedersächsischen Staatsarchiven vorhandene statistische Material im Hinblick auf die relativen Positionsveränderungen Niedersachsens in der interregionalen Wachstumshierarchie des Deutschen Reichs auszuwerten und zum anderen sollen die statistischen Daten im Rahmen der durch die großen Zensen gegebenen Möglichkeiten so weit disaggregiert werden, dass Aussagen zur Entwicklung der intraregionalen Disparitäten innerhalb Niedersachsens in der Zwischenkriegszeit möglich werden. Von besonderem Interesse sind in diesem Zusammenhang die Auswirkungen der NS-Wirtschafts- und Rüstungspolitik auf die strukturelle Entwicklung der niedersächsischen Wirtschaft in einer längeren zeitlichen Perspektive. Glichen sich die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen auf der Ebene der Kreise und Regierungsbezirke nach 1933 einander an? Wie stellte sich die Entwicklung im Vergleich zum niedersächsischen Durchschnitt, zu anderen Regionen im Reich bzw. zum Reichsdurchschnitt in einer längeren zeitlichen Perspektive dar? Wichtige Aspekte von Disparität im Kontext der geplanten Untersuchung sind vor allem: die sektorale Strukturentwicklung der Wirtschaft, die Entwicklung der Branchenstruktur, die Entwicklung der Erwerbstätigkeit, der Löhne, des Pro-Kopf-Einkommens und der Steuerkraft.

Karl H. Schneider (Universität Hannover) referierte über die "Wirtschaftsräumliche Planung in Niedersachsen nach 1945". Er zeigte, dass die enormen Probleme des Landes Niedersachsen und die großen räumlichen Unterschiede in Niedersachsen in den ersten Jahrzehnten nach dem Kriegsende zu intensiven Planungsmaßnahmen führten. Der Vortrag konzentrierte sich auf einzelne Aspekte, wobei die gesellschaftspolitischen Konzepte im Vordergrund standen und stärker westniedersächsische bzw. oldenburgische Fragen behandelt wurden.

Kennzeichnend für die frühe Landesplanung bis in die 1960er Jahre hinein waren ihre gesellschaftspolitischen Vorstellungen, die auf die Entwicklung "organischer" Gesellschafts- und Raumstrukturen abzielten. Diese Zielsetzung äußerte sich nicht nur in dem Bemühen, geordnete Raumstrukturen herzustellen, sondern in einer nicht geringen Skepsis gegenüber der Großstadt. Zwar sollte eine gezielte Industrialisierungspolitik betrieben werden, aber nicht mit dem Ziel, vorhandene Ballungsräume zu stärken.

Diese gesellschaftspolitischen Vorstellungen waren für das Land angesichts extrem großer regionaler Unterschiede von großer Bedeutung. Besonders im Umland der Hansestädte förderte die Landesplanung zwar formal eine Koordinierung der Politik mit Bremen und Hamburg, in der Praxis aber gab es im direkten Umland zuweilen eine deutliche Aversion gegen die schnell expandierenden Hansestädte.

Schon früh wurden Modelle entwickelt, um örtliche Strukturen systematisch beschreiben und darauf eine Planung aufbauen zu können. Grundlage hierfür war das Zentrale Orte-Konzept. In der Praxis führten Planungsmaßnahmen jedoch zu teilweise heftigen Konflikten zwischen den betroffenen Gemeinden, denn die mit der Planung verbundene finanzielle Förderung führte dazu, dass jede Gemeinde versuchte, eine bessere Einstufung mit möglichst vielen zentralörtlichen Funktionen zu erreichen.
Die "organischen" Zielvorstellungen boten den agrarischen Regionen in Niedersachsen zudem die Chance, möglichst günstige Förderungen seitens der Zentrale zu erhalten. Für das Land ergab sich daraus aber die prekäre Situation, dass die geringen finanziellen Mittel sehr breit gestreut wurden. Der Versuch, gezieltere Förderungen zu erreichen, wurde erst Ende der 1960er Jahre unternommen. Mit dem Landes-Entwicklungsprogramm von 1973 wurde teilweise die beschriebene Zielvorstellung aufgegeben, denn jetzt wurden 14 Entwicklungsräume definiert, also Schwerpunktbildung bei der Planung betrieben.

Trotz teilweise intensiver regionaler Förderungen und des wirtschaftlichen Aufschwungs der 50er und frühen 60er Jahre blieb Niedersachsen hinsichtlich wichtiger ökonomischer Daten weiter hinter den meisten anderen Ländern der Bundesrepublik zurück. Auch wenn erst in den 1980er Jahren das "Süd-Nord-Gefälle" thematisiert wurde, bestand das Problembewusstsein schon seit den 1950er Jahren.

Das ursprünglich vorgesehene Referat von Klaus-J. Lorenzen-Schmidt (Hamburg) mit dem Thema "Nicht nur Hamburg-Rand. Ökonomische Binnendifferenzierung in Schleswig-Holstein im 19. und 20. Jahrhundert" musste leider ausfallen und wird im zweiten Teil der Tagung im November 2006 nachgeholt.


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