"Vom massenhaften gegenseitigen Töten ..." (Loccum, 02.-04.11.2001)

"Vom massenhaften gegenseitigen Töten ..." (Loccum, 02.-04.11.2001)

Organisatoren
Arbeitskreis Historische Friedensforschung
Ort
Rehburg-Loccum
Land
Deutschland
Vom - Bis
02.11.2001 - 04.11.2001
Url der Konferenzwebsite
Von
Afflerbach, Holger

Vom massenhaften gegenseitigen Töten oder: Wie die Erforschung des Krieges zum Kern kommt

Jahrestagung des "Arbeitskreises Historische Friedensforschung" 2. bis 4. November 2001, Evangelische Akademie Loccum

Vom 2. bis zum 4. November 2001 fand in der Evangelischen Akademie Loccum die Jahrestagung des Arbeitskreises Historische Friedensforschung zum Thema "Vom massenhaften gegenseitigen Toeten oder: Wie die Erforschung des Krieges zum Kern kommt" statt. Vorbereitet worden war sie von Peter Gleichmann (Hannover) und Thomas Kuehne (Bielefeld/Rottenburg) sowie Joerg Calliess, dem Leiter der Akademie. Es sollte in dieser Tagung das "Schweigen vom Toeten" durchbrochen und die "generalisierenden und abstrahierenden Formeln", hinter denen Toetungshandlungen versteckt werden, offengelegt werden. "Dieses Schweigen vom Toeten duerfte", so die Annahme der Organisatoren, "fuer die Faehigkeit einer Gesellschaft, Zivilisierungsprozesse realitaetsbezogen zu denken und erfolgversprechend voranzutreiben, ein nicht geringes Hindernis bedeuten." Die Tagung sollte demnach Toetungshandlungen "erforschen" und "das Toeten in den Kriegen und Gewaltkonflikten des 20. Jahrhunderts" in den Blick nehmen.

In Loccum wurden die verschiedensten Aspekte des Themas beleuchtet: Das Toeten in der literarischen und filmischen Verarbeitung, in der Kriegsjournalistik, im Spiegel der Feldpostbriefe, in Voelkermorden und Holocaust, aus sozialpsychologischer Sicht und schliesslich auch in der juristischen Ahndung der Bundesrepublik.

Nach der Begruessung und Einleitung durch Calliess, Kuehne und Gleichmann hielt Joanna Burke (London) - uebrigens die einzige nichtdeutsche Teilnehmerin der Tagung - den Eroeffnungsvortrag zum Thema "Face-to-Face-Killig in the 20th-century-warfare". Sie hob unter anderem darauf ab, dass aus den Toetungshandlungen der Soldaten beispielsweise in der britischen und amerikanischen Kriegspropaganda durchaus kein Geheimnis gemacht wurde. Sie stellte sogar Trophaeen vor - etwa die abgeschlagenen Koepfe japanischer Soldaten - und damit eine der Praemissen der Tagung in Frage.

Mit dem Vortrag von Dirk Niefanger (Goettingen) schwang das Pendel aber wieder herum. Er widmete sich den "Toetungsimaginationen in der Literatur des 20. Jahrhunderts", naemlich der Kriegsprosa und Poesie von Detlev Liliencron ueber August Stramm, Walter Flex, Ernst Juenger, Ludwig Renn, Erich Maria Remarque, Theodor Plivier bis hin zu Berthold Brecht. Sein Fazit lautete, dass keine literarische Toetungsdarstellung Anspruch auf Realismus erheben koenne. Thomas Kuehne widmete sich dann den "Traditionen und Aneignung des Opfermythos". Er hob darauf ab, dass sich Soldaten bei Toetungshandlungen in erster Linie als Opfer sahen, nicht als Taeter, und sich dabei christlichen Tradition verpflichtet fuehlten. Damit war ein wichtiger und weiterfuehrender Gedanke formuliert, der auch in der Tagung mehrfach neu aufgegriffen wurde.

Aribert Reimann (Koeln) untersuchte den "grossen Krieg der Sprachen" im deutsch-britischen Vergleich und kam zu dem Ergebnis, dass die deutschen und britischen Texte sehr aehnlich waren - Feldpostbriefe aber keinesfalls Toetungshandlungen realistisch schilderten. Diesem Problem ging auch Klaus Latzel (Bielefeld) nach, indem er den Zusammenhang von "Toeten und Schweigen" unter der Frage "Warum sagen Wehrmachtsoldaten nicht, was sie tun?" eroerterte. Er verwies ueberzeugend auf die sprachliche Verschleierung von Toetungshandlungen in den Feldpostbriefen. So wurde gern eine entpersoenlichte Sprache gewaehlt. Man sagte nicht: "Wir haben eine Unmenge von Russen getoetet". Sondern: "Unsere Waffen haben vernichtend gewirkt." Anschliessende Ueberlegungen zum Thema eigener und fremder "Verletzbarkeit" regten eine lebhafte Diskussion an, die aber noch nicht zu wirklich festen Ergebnissen fuehren konnte.

Dann folgten zwei Referate, die sich dem Thema "Kriegsberichterstattung" zuwandten. Anette Jander (Berlin) stellte den Berufsstand der "Kriegsberichterstattenden" vom Zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart dar, und einen Paradigmenwechsel: Der Blick auf die Zivilbevoelkerung ueberlagerte immer mehr die militaerische Berichterstattung, ebenso der Wunsch zu helfen. Der Fernsehjournalist Winfried Scharlau (Hamburg) ging der Frage nach, wie realitaetsnah Medien den Krieg, die Taeter und Opfer schilderten. Im Ersten Weltkrieg waren die Kampfszenen hinterher nachgestellt worden; doch schon im Zweiten Weltkrieg wurde wirklich an der Front gefilmt, und von da an zaehlte unmittelbare Naehe zum Kampfgeschehen zu den obersten Tugenden der Berichterstatter, deren Motto nun lautete: "Wenn Dein Foto nicht gut war, warst Du nicht nahe genug dran." Scharlau knuepfte daran einige interessante Details, etwa ueber die Nervositaet der Soldaten an der Front; die Mehrzahl von ihnen sei im Kampf unfaehig, gezielt zu schiessen, und wuerde nur panisch herumballern. Auch interessant war die Beobachtung, dass die amerikanischen Kriegsberichterstatter des Zweiten Weltkriegs nicht logen, sondern wegliessen - etwa Verluste - und dadurch verfaelschten.

Rolf Pohl (Hannover) schilderte dann das Toeten aus psychologischer Sicht und untersuchte die Frage von "Normalitaet und Pathologie. Sopzialpsychologische Anmerkungen zur Psychogenese von Massenmoerdern." Er sprach sich gegen das "aggressive Dampfkesselmodell" aus, gegen die Theorie vom Aggressionstrieb und der "Mordlust, die im Blute liegt". Stattdessen sprach er vom "narzistischen Gewinn", der mit dem Toeten verbunden gewesen sei. "Eiskalte Sachlichkeit" habe es jedoch niemals gegeben, nicht einmal bei den Schreibtischgeneraelen des Ersten Weltkriegs. Ein wesentlicher Punkt waren auch die psychischen Spaetfolgen, wie die PTSD (Post Traumatic Stress Disorder), dem Trauma, das viele Vietnamkriegsveteranen davontrugen.

Erneut folgte ein Schwenk - diesmal zu Massenmorden des Zweiten Weltkriegs. Hierbei spielte der Begriff der "asymmetrischen Kampfsituation" eine wichtige Rolle; naemlich anders als in einem Kampfgeschehen, wo die Risiken, getoetet zu werden, meist beidseitig waren, lag hier eine Taeter-Opfer-Konstellation vor, die den Taetern keinerlei signifikantes Risiko abverlangte. Hans-Heinrich Nolte (Hannover) widmete sich dem "Toeten in Belo-Russland 1939-45", naemlich den sowjetischen und den nationalsozialistischen Morden an hunderttausenden Zivilisten und Kriegsgefangenen. Er beschrieb die grausigen Details des Toetens, was um so eindrucksvoller wirkte, als er sich selbst weitgehend des Kommentierens enthielt; die Vorgaenge sprachen fuer sich. Unter anderem hob er hervor, dass bei den sowjetischen Toetungen, so ungerecht sie auch waren, die soziale Kontrolle erhalten blieb, waehrend die nationalsozialistischen Morde zwar politisch, aber nicht sozial kontrolliert verliefen. Hier tobte sich niedrigster Sadismus und Bereicherungsdrang aus. Nolte sprach berechtigt vom "Ausleben niedrigster menschlicher Eigenschaften".

Direkt anschliessend widmete sich Wolfram Wette (Freiburg) dem Genozid von "Bahij Jar" 1941. Er legte die Gruende fuer die Vertuschung der Morde, der anschliessenden Exhumierung und Verbrennung der Leichen dar, fuehrte aus, dass schon damals an der Legende von der "sauberen Wehrmacht" gearbeitet wurde, und brachte interessante Beispiele der sprachlichen Vertuschung in den Akten. Und er sprach vom "Selbstmitleid der Taeter, so etwas machen zu muessen." - Mitleid mit den Opfern fehlte auch spaeter, wenn die Taeter sich vor Gericht fuer ihre Morde verantworten mussten.

Damit war der Uebergang vorbereitet fuer die juristische Sicht auf diese Toetungshandlungen. Eloecin Kuersuet-Ahlers (Hannover) entwickelte soziologische und politologische Typologien der Genozide und ihrer Entstehungszusammenhaenge. Joachim Perels (Hannover) widmete sich schliesslich der Frage, wie die Justiz in der Nachkriegszeit mit den nationalsozialistischen Toetungsverbrechen umgegangen war, und zitierte einige skandaloese Fehlentscheidungen. So wurden viele NS-Verbrecher doch sehr grosszuegig nicht als "Taeter", sondern nur wegen "Beihilfe" verurteilt, und zwar auch dann, wenn man ihnen aktive Toetungshandlungen nachweisen konnte, aber kein eigenes Interesse an der Tat feststellte. Besonders auffaellig war hier das "Entgegenkommen" des "Landgerichts Muenchen I" in den Fuenfziger Jahren.

Schliesslich wurden auch die Kriege nach 1945 zum Gegenstand der Tagung gemacht. Bernd Greiner (Hamburg) widmete sich der "Dynamik eines Massakers. My Lai und die 'Operation Speedy Express'". Sein auch sozialgeschichtlich anregender Vortrag hob auf die geringe Zahl an Frontkaempfern und Spezialtruppen in Vietnam ab (ca. 1:10 im Verhaeltnis zur Gesamtzahl der eingesetzten Truppen) und ihre soziale Zusammensetzung. Allerdings war fuer sie nicht das "John-Wayne-Thing", sondern eher eine "Adoleszenzkrise" Movens der oft freiwilligen Meldung. Der schwierige Dschungelkriegssschauplatz foerderte eine rasche "psychische und moralische Regression." Hier kam die Kategorie der "Angst" voll zur Geltung; die Dschungelkaempfer gaben sich selbst, aus Schwaeche heraus, die "licence to kill". Auch das Massaker von My Lai erklaerte Greiner aus den Auswirkungen von Ueberforderung, Schwaeche und Angst; und so auch die grosse Zahl von Vergewaltigungen. In diesem Vortrag kam etwas zur Sprache, was bisher etwas sehr im Hintergrund gestanden hatte: Naemlich das Element der Entwicklung, der Dynamik von Toetungshandlungen - dazu spaeter noch mehr.

Detlef Bald (Muenchen) sprach ueber atomare Vergeltung und schilderte dabei, unter Hinweis auf von ihm ausgewertete Akten, erschreckende Atomkriegsplanungen der Fuenfziger und Sechziger Jahre. Dabei standen die grotesken militaerischen Vorschriften fuer den Atomkrieg, aber auch die massiv aggressiven Tendenzen der deutschen politischen und militaerischen Fuehrung im Vordergrund. Hier darf man, wegen der verwendeten neuen Belege, auf die schriftliche Fassung besonders gespannt sein. Dies gilt vor allem fuer die deutsche Haltung im Umfeld des Mauerbaus und der tschechoslowakischen Krise 1968.

Irmgard Wilharm untersuchte die Darstellung des Toetens in Dokumentar- und Spielfilmen der Nachkriegszeit. Als Beispiel zeigte sie einige, inzwischen hoelzern wirkende Filme der Fuenfziger Jahre. Sehr eindringlich war aber ein Ausschnitt aus Claude Lanzmanns "Shoah", der zeigte, wie ein juedischer Ueberlebender des Holocaust zuerst fast schon unbeteiligt von seinen Erinnerungen an Auschwitz erzaehlte, dann von seinen grausigen Erinnerungen eingeholt wurde und unter ihrer Last vor der Kamera zusammenbrach.

Soweit die Vortraege. Aus der Zusammenfassung geht hervor, wie vielfaeltig die Referate und behandelten Aspekte waren, und wie schwer es deshalb auch war, den Fokus auf dem eigentlichen Thema zu halten. Deshalb bleibt auch der Eindruck der Tagung zwiespaeltig. Hervorragend organisiert und moderiert - das haben Prof. Gleichmann, Dr. Kuehne und Prof. Calliess souveraen und sympathisch gemacht - war das Programm letztlich ueberfrachtet. Ein Vortrag jagte den anderen, und die - gut entwickelte - Diskussionsfreude des zahlreichen Auditoriums musste vielfach gebremst werden, um in dem allzu dichtgedraengten Programm weiterzukommen. Das war schon deshalb schade, weil aus dem Kreis des Publikums mehrfach aeusserst interessante, informierte, weiterfuehrende Beitraege kamen. Der Preis der Ueberfuelle war, dass Anregungen in der einen oder anderen Richtung, dass sich ein roter Faden nicht wirklich entwickeln konnte. Die Vortraege waren fast alle sehr gut und niveauvoll, doch die verbindende Achse fehlte oder war zu schwach ausgepraegt.

Wie koennte diese aussehen? Die Frage nach dem "massenhaften gegenseitigen Toeten" koennte gegenlaeufig beantwortet werden. Die Beitraege von Thomas Kuehne, Klaus Latzel, Aribert Reimann und Dirk Niefanger zeigten, wie wenig selbstverstaendlich das Toeten im Krieg in der Moderne ist und welche - gedanklichen und semantischen - Hilfskonstruktionen erforderlich sind, um vor sich selbst und den anderen dieses noch rechtfertigen zu koennen. Zwar war die Huerde durchaus nicht hoch genug, um das Toeten zu unterbinden, und doch koennte ein Schluss daraus gezogen werden: Der Zivilisierungsprozess laeuft in die richtige Richtung. Andererseits zeigten die Beitraege von Nolte und Wette das bekannte, schaurige Bild einer grenzenlosen Grausamkeit des Voelkermords. Wie geht das zusammen? Die beruehmte Doppelgesichtigkeit der Moderne?

Weniger weiterfuehrend findet der Berichterstatter das Argument des "Narzismus" in Toetungshandlungen, der im Argument von Detlev Bald der "narzistischen Selbstaufblaehung" gipfelte: Der Atomkrieg, die atomare Zerstoerung des Erdballs. Narzismus mag im Einzelfall vorliegen, ob er aber als Argument flaechendeckend traegt, ist eine andere Frage. Da ist das Angst- und Ueberforderungsmodell Greiners doch ueberzeugender.

Vielleicht wurde in Loccum, trotz der Vielfalt der Themen, das Element der Bewegung, naemlich die Radikalisierung, zu wenig beachtet. Die Vortraege neigten, so waere in der Nachschau festzustellen, zu einer Betrachtungsweise, in der, trotz modernster Ansaetze, ein statisches Element in der Erklaerung ueberwog. Am ehesten wurde dem noch Bernd Greiners Vortrag ueber den Vietnamkrieg gerecht. Doch Kriege und Toeten hoeren anders auf, als sie anfangen. Auch der Holocaust ist ja, nach den gueltigen Erklaerungsmodellen, letztlich auf eine komplizierte Interaktion verschiedener Handlungsebenen und eine immer schaerfere Radikalisierung zurueckzufuehren. Und dies gilt wahrscheinlich auch fuer das "massenhafte Toeten" im Kriege. Doch ist dies natuerlich die Weisheit dessen, der vom Rathaus kommt, und war, auch aus dem Programm, nicht vorauszusehen. Ausserdem sind diese Ansichten wahrscheinlich nicht einmal repraesentativ fuer die Ansicht der anderen Teilnehmer. Das Thema des "Toeten im Krieg" als solches ist jedenfalls sehr spannend, wie es auch die meisten Vortraege waren, und ruehrt an das Grundverstaendnis unserer Zivilisation. Auf den Tagungsband, den Peter Gleichmann und Thomas Kuehne binnen Jahresfrist bei Klartext in der neuen Reihe des Arbeitskreises - "Frieden und Krieg. Beitraege zur Historischen Friedensforschung" - herausbringen wollen, darf man gespannt sein.


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