Information in der Frühen Neuzeit. Status, Bestände und Strategien

Information in der Frühen Neuzeit. Status, Bestände und Strategien

Organisatoren
Sonderforschungsbereichs 573: "Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit"; Arndt Brendecke; Susanne Friedrich; Markus Friedrich
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.02.2006 - 24.02.2006
Von
Lars Behrisch, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie, Universität Bielefeld

Die Tagung widmete sich der Bedeutung und den Formen von ‚Information' in der Frühen Neuzeit. Gemeint waren damit solche Wissensbestände, die sich für konkrete Zielsetzungen abrufen und nutzen lassen - "das, was an Repräsentationen der Welt in Hinsicht auf eine Aufgabe verfügbar ist". Diese begriffliche Präzisierung rückte den frühmodernen Staat in den Vordergrund, doch traten durchaus auch andere Kontexte in den Blick. Im Übrigen hatten die Organisatoren weder Vorentscheidungen hinsichtlich der materiellen Gegenstandsbereiche getroffen, noch eine einheitliche Entwicklungsperspektive vorgegeben. Diese relativ große Offenheit im Zugang zur Thematik kam der Vielfalt der Diskussion zugute, führte aber nicht zu einer Beliebigkeit des Diskutierten.

Neben der Einführung in Begrifflichkeit und Fragestellung durch Arndt Brendecke dienten zwei weitere Vorträge der konzeptionellen Einrahmung und der Öffnung unterschiedlicher Perspektiven auf die Problematik. Justin Stagl fragte in seinem Eröffnungsvortrag nach den Ursachen der besonderen Wertschätzung, den die Produktion und Weitergabe von Wissen in der abendländischen Welt erfuhr. Er verwies dabei auf die Impulse durch die geographische Horizonterweiterung und die humanistische Antikerezeption, deren "Explorationssysteme" später auf den verschiedensten Feldern des Sammelns, Auswertens und Vorzeigens von Information fruchtbar gemacht wurden. Stagl hob aber auch den Übergang zu permanenten und staatlich institutionalisierten Formen der Wissensakkumulation, etwa in Gestalt von Akademien, hervor. Peter Burke fragte in seinem Abendvortrag ebenfalls nach der Sonderentwicklung Europas, machte aber darauf aufmerksam, dass die Informationstechniken etwa des Moghulreichs noch bis ins 18. Jahrhundert mit jenen der europäischen Staaten vergleichbar waren. Er betonte zudem, dass die in allen Informationssystemen wirkenden, gegenläufigen Prozesse eines permanenten ‚knowledge loss' bei der Bewertung langfristiger Entwicklungen nicht aus dem Blick geraten dürften.

Vierzehn Einzelbeiträge verteilten sich gleichmäßig auf die drei Jahrhunderte der Frühen Neuzeit, was dem expliziten Anliegen der Organisatoren entsprach, eine Fokussierung auf deren Spätphase zu vermeiden. Der Vortrag von Jürgen Dendorfer fragte danach, auf welche Weise sich die Kurie an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert an die Zielsetzungen und Debatten der Konzilien erinnerte. Die Kodifizierung dieser Erinnerung hatte den konkreten Zweck, den päpstlichen Reformbestrebungen zu Ende des Jahrhunderts als Richtschnur zu dienen. Markus Friedrich skizzierte die gegensätzlichen Positionen, die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts den Jesuitenorden im Hinblick auf sein Personalmanagement entzweiten: Die Ordensleitung verfolgte das Prinzip des ‚delegierten Augenscheins', verließ sich also auf jene Informationen, die sie aus standardisierten, jeweils vor Ort auszufüllenden Fragebögen gewann; in den Provinzen war man hingegen der Ansicht, dass eine solch zentralistische Perspektive zu sehr von den lokalen Gegebenheiten abstrahierte und daher zu falschen Entscheidungen führen musste.

Winfried Schulze erläuterte in seinem Vortrag zur "gerechten und gewissen matricul", warum die Reichsmatrikel von 1521 eben nicht ‚gewiss' und die auf ihrer Grundlage erhobenen Reichssteuern nicht ‚gerecht' waren: Es existierte kein einheitlicher Standard für die steuerliche Veranlagung der einzelnen Reichsstände; die Verzerrungen, die daraus entstanden, wurden zwar allgemein erkannt, durch die wiederholten ‚Moderationen' aber nur sehr unzureichend korrigiert. Arndt Brendecke stellte die Versuche der spanischen Monarchie im 16. Jahrhundert dar, den Informationsfluss aus den Kolonien mittels einer systematisch geführten Korrespondenz auf eine dauerhafte Grundlage zu stellen. Die Kolonialbeamten erfüllten die damit einhergehenden Informationswünsche zwar nur sehr bruchstückhaft, doch Brendecke argumentierte, dass die Bedeutung eines solchen Projekts nicht am Grad seiner Soll-Erfüllung bemessen werden kann.

Susanne Friedrich analysierte den Übergang von schriftlichen zu visuellen Erfassungen deutscher Territorien, wobei sie einen ersten Höhepunkt der politischen Kartographie zu Ende des 16. Jahrhunderts dokumentierte. Zahlreiche Landesherren wünschten eine gleichermaßen exakte wie panoptische Übersicht zu den natürlichen, infrastrukturellen und ökonomischen Gegebenheiten ihres Landes, die letztlich nur mit Hilfe von Kartenwerken zu bewerkstelligen war. Die - im Rückblick gesehen - naive Freude am Vorzeigen der Karten als Mittel der Selbstdarstellung wich erst allmählich dem Wunsch nach einer Geheimhaltung des in ihnen dokumentierten Herrschaftswissens. Mark Hengerer beschäftigte sich mit der "operativen Dimension" von Information - und zwar konkret mit der Frage, wie der habsburgische Verwaltungsapparat des 17. Jahrhunderts mit schriftlichen Bilanzen, Tabellen und Protokollen umging, wie er die darin enthaltene Information selektierte und hierarchisierte und schließlich für Entscheidungen nutzbar machte. Hengerer machte deutlich, dass die Form der Information das Verwaltungshandeln strukturierte, dass letzteres aber auch umgekehrt über die Art der Speicherung und Weitergabe von Information entschied.

Wolfgang E. Weber unterzog die praktische Herrschaftslehre des späteren 17. Jahrhunderts einer Lektüre, die auf den immer intensiver werdenden Wunsch nach einer empirischen Fundierung der Herrschaftsausübung abhob. Der zugrunde liegende, moralisch und religiös geprägte politische Reformanspruch wurde gegen Ende des Jahrhunderts jedoch zugunsten einer stärker fiskal- und wirtschaftspolitischen Agenda aufgegeben. An diese Feststellung konnte der Vortrag von Justus Nipperdey anknüpfen, der die neuartigen ökonomischen Informationsutopien deutscher und österreichischer Merkantilisten in den Blick nahm. Diese unternahmen zum Teil bedeutende intellektuelle Anstrengungen, um neben dem Außenhandel auch die binnenwirtschaftlichen Warenströme und Produktionsmengen zu ermitteln oder sogar durch staatliche Institutionen systematisch berechnen zu lassen, um den Fürsten eine exakte und transparente Grundlage für die Steuererhebung bereitzustellen - eine Anregung, für die jene allerdings nur wenig Interesse zeigten.

Von einem bekannten Merkantilisten handelte auch der Vortrag von Jacob Soll zu Jean-Baptiste Colbert, der hier allerdings in seiner weniger bekannten Eigenschaft als selbsternannter Chefbibliothekar und -archivar der französischen Monarchie vorgestellt wurde. Denn Colbert usurpierte die Kontrolle über das handschriftliche und gedruckte Schrifttum sowohl von den gelehrten Bibliothekaren als auch von Parlamenten und Provinzialständen, um auf diese Weise die absolutistische Lesart der überlieferten Dokumente zu privilegieren. Marian Füssel richtete den Blick wieder auf die Praktiken der Informationserhebung und -präsentation: Friedrich Friese, Verfasser einer ‚Handwercker Ceremonial-Politica' aus dem frühen 18. Jahrhundert, sandte seine adligen Schüler mit Fragebogen aus, damit sie in den Werkstätten der Handwerker deren Alltagsbräuche festhielten. Friese imitierte damit ganz gezielt kirchliche und staatliche Praktiken der Informationserhebung; in seinem Werk vermischte er allerdings die erhobenen Daten wieder mit Materialien aus anderen Quellen.

Anton Tantner zeigte anhand der Entstehung der städtischen "Adressbüros" des 17. und 18. Jahrhunderts, wie Informationen öffentlich zugänglich gemacht wurden, wobei engmaschige, informelle Mechanismen der Informationsweitergabe durch institutionelle Arrangements ergänzt oder auch verdrängt wurden. Diese Büros gaben nicht nur über Wohnadressen Auskunft, sondern auch über Kredit-, Arbeits und Verkaufsangebote; durch die Publikation von Anzeigenblättern waren sie auch jenseits der konkreten Lokalität medial präsent. Gerrendina Gerber-Visser stellte mit den sogenannten ‚topographischen Beschreibungen' der Ökonomischen Gesellschaft Bern in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ebenfalls eine nichtstaatliche Form der Informationsbeschaffung vor, die nur in Ausnahmefällen einer Zensur durch die Bernische Regierung unterlag.

André Holenstein machte deutlich, wie eng die ‚Gute Policey' in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts an die empirische Informationsbeschaffung und damit auch an eine intensivierte Kommunikation mit den Untertanen geknüpft war. In dem Maße, wie die Verbesserung der Landwirtschaft und der allgemeinen Wohlfahrt als Zielvorgaben das sittliche und religiöse Wohlverhalten ersetzten, wurden die Momente einer unmittelbaren Begegnung mit der Bevölkerung - Visitationen, Rügegerichtstage, Bittgesuche - immer weniger zur Kontrolle und Sanktion eingesetzt, sondern vielmehr als Quelle der Information über die Notwendigkeit und den Erfolg planerischer Maßnahmen genutzt. Peter Becker schließlich fragte nach der Funktion der Bevölkerungstabellen bei den habsburgischen Konskriptionen der späten 1770er Jahre: Die Tabellen dienten der Selektion und Rationalisierung der empirischen Heterogenität, sie ordneten den Herrschaftsraum und programmierten staatliche Eingriffe. Becker zeichnete Parallelen zu der von Bruno Latour analysierten Situation des ‚Labors', denn die Beamten waren eine Art "standardisierte Aufzeichnungsmaschine".

Insgesamt entstand so ein breites Panorama der Bedeutung und der Formen von Information während der Frühen Neuzeit. Einige zentrale Fragen standen im Zentrum der Diskussionen: Die Frage nach den Medien der Erzeugung und der Kontrolle von Information; sie treten in Gestalt der Quellenzeugnisse zwar unmittelbar vor Augen, doch wird ihre konstitutive Rolle für das, was Information jeweils bedeutete, und für die Formen ihrer Sammlung, Agregierung und Speicherung, nicht ohne weiteres bewusst. Entscheidend sind zweitens die konkreten Akteure der Erhebung, der Aufbereitung und der Nutzung von Information - Akteure meist institutioneller Natur, die im Umgang mit Wissen langfristig Erfahrungen akkumulieren und so die Formen seiner Fixierung und Anwendung beständig weiterentwickelten. Ihre Strategien konnten dabei auf eine Monopolisierung von Wissen zielen (Arkanprinzip), aber auch auf seine Publizität (akademische Zeitschriften). Der unterschiedliche Grad der Öffentlichkeit von Information lässt schließlich ihre exklusive und inklusiven, also jedenfalls identitätsstiftende Dimension bervortreten; denn die Repräsentationen, die durch Information verfügbar gemacht werden, sind stets kollektive Repräsentationen.

Vor dem Hintergrund der meist um diese zentralen Parameter geführten Diskussion stellten zuletzt Lars Behrisch und Cornel Zwierlein einige weiterführende Überlegungen an. Behrisch hob den transitiven und dynamischen Charakter des Informationsbegriffs hervor, der damit gleichzeitig auf die vielfältigen Probleme bei der Übermittlung und Speicherung von Wissensbeständen aufmerksam mache. Die Versuche zur Bewältigung dieser Probleme mittels der Durchsetzung verbindlicher Formen der Kodifizierung und Standardisierung, besonders von seriell gewonnener Information, sei womöglich der entscheidende Motor der Entwicklung während der Frühen Neuzeit gewesen. Zwierlein machte darauf aufmerksam, dass die nichtstaatliche ebenso wie die zwischenstaatliche Dimension von Informationsflüssen unterbelichtet geblieben seien. Darüber hinaus zeichnete er, im Sinne von Burkes ‚knowledge loss' und im Anschluss an einige der Vorträge, verschiedene Bruchstellen bei der Weitergabe und bei der Erinnerung von Information nach. Er warf dabei die Frage auf, ob die Reflexion über ‚Information' in der Frühen Neuzeit sich auch als ein Reflex darauf, als ein Versuch der Bewältigung solchen Vergessens deuten ließen.

Die Tagung hat die Diskussion über den Umgang mit Information in der Frühen Neuzeit zweifellos auf ein neues Niveau gehoben. Auch weiterhin dürfte dabei die alte Frage nach der Spezifik der europäischen Entwicklung relevant sein. War die hier zu beobachtende Intensivierung der Nutzung von Information - auf verschiedensten Bereichen - entscheidend für technische Innovationen und organisatorische Verdichtung, oder war sie eher ein Reflex darauf? Unabhängig davon stellt sich auch die Frage, ob es letztlich sinnvoll ist, von einem ‚Mehr' an Information zu sprechen - und nicht eher von einer Veränderung seiner Formen: Gab es in der Frühen Neuzeit tatsächlich eine Zunahme von Wissensbeständen, oder vielmehr einen allmählichen Übergang von relativ diffuser, überwiegend mündlich weitergegebener und nur lokal zirkulierender, hin zu systematisch aufbereiteter, überlokal zugänglicher und immer schneller kommunizierbarer Information?

http://www.sfb-frueheneuzeit.uni-muenchen.de/archiv/2006/b1feb06.html