Antike(n)rezeption um 1800

Antike(n)rezeption um 1800

Organisatoren
Forschungszentrum Gotha für kultur- und sozialwissenschaftliche Studien der Universität Erfurt; PD DR. Veit Rosenberger, Universität Erfurt
Ort
Gotha
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.02.2006 - 11.02.2006
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Von
Michael Kress, SFB 644 Transformationen der Antike, Humboldt-Universität zu Berlin

Antike ist dem Schloss Friedenstein nicht fremd. Die dort ansässige Forschungsbibliothek birgt einen reichen Schatz an Büchern und Handschriften, die sich nicht zuletzt mit antiken Autoren, antiker Philosophie und antikem Wissen auseinander setzen; ferner erwartet den Besucher des Schlossmuseums eine herzögliche Kunstsammlung mit Antiken, einschließlich eines Ägypten-Raumes oder eine "Bonsai-Antike" in Form von Korknachbauten antiker Stätten.

So war es eine gute Wahl des Althistorikers Veit Rosenberger (Erfurt), an dieser Stätte zu einem Workshop "Antike(n)rezeption um 1800" einzuladen. Außer der zeitlichen Einschränkung gab es für die Referenten keine Vorgaben. Im Vordergrund stand der interdisziplinäre Austausch über ein gesamtkulturelles Phänomen, dessen ganze Bandbreite von verschiedensten Seiten beleuchtet werden sollte. Nicht nur die verschiedenen Fachrichtungen wie Archäologie, Klassische Philologie, Alte Geschichte, Germanistik und Kunstgeschichte sorgten für vielfältige Sichtweisen, sondern positiv machte sich auch bemerkbar, dass die Referenten aus verschiedensten Generationen mit unterschiedlichen Ansätzen stammten. Workshop-Charakter erhielt die Tagung durch das paritätische Verhältnis von Vortrag und Diskussion, - eine Einteilung, die wohl alle Teilnehmer guthießen.

Nach der Begrüßung durch das Forschungszentrum Gotha, welches die Tagung finanziell unterstützte, erläuterte Veit Rosenberger in seinen einführenden Worten, warum die Antike im Titel in der Mehrzahl erscheint: Zum einen sei die Rezeption konkret-greifbarer Antiken gemeint, zum anderen die einer abstrakten "Antike". Die Antike (mit dem bestimmten Artikel) und ihre Rezeption gibt es nicht; vielleicht - so lassen es die Vorträge vermuten - ist das (n) auch einer gewissen Pluralität geschuldet. Antikerezeption hat viele Facetten, sowohl was ihr zeitliches (vom Hellenismus bis zur Spätantike) als auch lokales Bezugsfeld (Griechenland, Rom, Ägypten) angeht.

Den Auftakt machte Volker Riedel (Jena) mit seiner Analyse von Goethes Buch "Winckelmann und sein Jahrhundert". Er vertrat die These, dass das 1805 edierte Werk einen Höhe-, Wende-, und Endpunkt der klassischen Antikerezeption Goethes darstellt, ein Werk "zwischen Klassizismus und Geschichtlichkeit". Zu einseitig werde das Werk mit Beiträgen von Goethe, F. A. Wolf, H. Meyer, L. Fernow und W. von Humboldt als klassizistisches Manifest gelesen. Gegen die Lektüre als Streit- oder Programmschrift verwies Riedel auf die historische Einordnung von Winckelmanns Leistung und sieht in dem Buch Bekenntnis und Revision in einem. Goethes Weltbild sei historisch-dynamisch, nicht klassizistisch-statuarisch; die weitere Werkgenese zeige dies.

Eine andere Antike behandelte die italienische Germanistin Grazia Pulvirenti (Catania). In einem reichen Beispielbogen von Piranesi bis zu Mozarts Zauberflöte veranschaulichte sie die verschiedensten Formen der Ägyptenrezeption im 18. Jahrhundert. Die negative Wertung Ägyptens durch Winckelmann fand ihren Widerspruch bei Piranesi, der ägyptische Sujets zur Freisetzung neuer Kreativität nutzbar zu machen wusste. Pulvirenti zeigte eindrucksvoll Transformationsprozesse des Ägyptentopos, der sich vor allem durch die Freimaurerei in den 1770ern vom Mythischen ins Politische wandelte. In Mozarts Zauberflöte (1791) hingegen sei es in erster Linie die ägyptische Atmosphäre, die durch exotisches Flair auf der Bühne starke Publikumswirksamkeit ausübe.

Ägypten blieb zentrales Thema auch im Vortrag von Ludwig Morenz (Leipzig), der in überzeugender Weise napoleonische Herrschaftssemantik zu dekodieren verstand. Ausgangspunkt seiner Untersuchung war das Titelkupfer der von Napoleon in Auftrag gegebenen "Description de`l Égypte" (1809), welches als Bildprogramm napoleonischer Herrschaftslegitimation nach der Ägyptenexpedition gelesen werden kann. Im Sinne einer "invention of tradition" konzipierte Napoleon neben dem römischen Adler (Wappentier seit 1804) das neue Königszeichen der ägyptischen Biene, welches die bourbonische Lilie ablösen sollte. Politische Unterwerfung geht mit kultureller Inbesitznahme einher. Für Napoleon gehörte die Inszenierung klassisch-antiker neben ägyptischen Elementen zum Selbstverständnis; so mag einen die Schöpfung eines neohieroglyphischen Herrschaftsmonogrammes nicht mehr wundern, ebenso wenig der mit Bienen geschmückte Kaisermantel oder das Sterbetuch.

Mit "Antikenrezeption in Goethes Iphigenie, Egmont und Tasso" beschäftigte sich Martina Grell (Jena). Sie versuchte nachzuweisen, dass die Tugend- und Herrschaftslehren in Goethes Dramen auf Lehren römischer Moralphilosophen beruhen. So bestünden beispielsweise Analogien zwischen Senecas philosophischem Gedankengut und dem Ideal sittlicher Vollkommenheit, wie es in der "Iphigenie" begegnet. Goethe habe von früher Jugend mit Senecas Schriften vertraut sein können; ferner war ihm neostoizistisches Gedankengut durch Lipsius bekannt. Auch die Geistererscheinungen im "Egmont" enthielten Seneca-Reminiszenzen, wenn auch vermittelt durch Shakespeare-Lektüre.

Einen neuen Fokus setzte Marcus Becker vom Berliner Sonderforschungsbereich "Transformationen der Antike" in seinem Vortrag mit dem programmatischen Titel "Vom Verschwinden der Antike beim Gebrauch. Transformationen antiker Plastik im frühen Landschaftsgarten". Am Ende des 18. Jahrhunderts gab es einen gesteigerten Bedarf an Antikekopien. Eindrucksvoll führte Becker das Spannungsfeld von kommerziellem Interesse, technisch Machbaren und archäologischem Interesse vor Augen. So konnte am Beispiel einer Amorstatue der Weg vom Original aus der Dresdener Antikensammlung zur Kopie in Eisenguss aus der Lauchhammer Kunstmanufaktur bis zur Aufstellung einer solchen Kopie im Seifersdorfer Tal nachgewiesen werden. Dieser Weg war nicht frei von Transformationen: Die Einbindung in das Gestaltungsprogramm eines Landschaftsgarten setzte die Statue in einen völlig neuen Kontext. Die wirkungsästhetische Programmatik im Garten hatte ihren Preis: Modifikationen im Vergleich zum Original waren kein Problem. In die beim Original leeren Arme bekam die Kopie des Amor zwei Sanduhren in den Arm, wollte diese doch besser zu Goethes Epigramm "Zeitmaß" passen, welches den Sockel zierte. Wird die Antike zum bloßen Ausstattungselement schwindet die Antike.

Welche Funktion hat die Antike zur Konstituierung des Bildungsbürgertums? In 6 Punkten ging dieser Frage der Berner Althistoriker Stefan Rebenich am Beispiel Wilhelm von Humboldts nach. Seine Analysen beruhten auf der Beobachtung, dass in zahlreichen Publikationen zum Bürgertum Antike nicht thematisiert wird. Humboldts neuhumanistische Idee der Bildung habe eine entscheidende Rolle für die Genese des Bürgertums und die Entfaltung der Individualität gehabt. Antike diente Humboldt dabei als Kompass zum allgemein Menschlichen und ist immer mit Reflexion auf die eigene Gegenwart verbunden. Wichtig sei die Frage, welche politischen Ansprüche die gebildeten Stände aus Humboldts Bildungskonzept gewinnen konnten. Der neue, in einer bestimmten historischen Situation entstandene Griechenmythos wurde Teil des deutschen Bildungssystems (Gymnasium und Universität) sowie seiner Garanten (der einzelnen Staaten) und seiner Träger (des Bildungsbürgertums). Mit Ausgang des 18. Jahrhunderts wurde die exklusive adlige Antikenkultur "verbürgerlicht" und die Altertumswissenschaft konnte zur bürgerlichen Leitdisziplin aufsteigen.

Frank Daubner (Köln) eröffnete den zweiten Tag mit Ausführungen zu Christoph Martin Wieland, der bereits in den 1770er Jahren ein gänzlich anderes Griechenbild vertreten habe und geradezu eine Gegenposition zur Griechenbegeisterung à la Humboldt und Winckelmann einnahm. Vor allem am Beispiel der Schrift "Gedanken über die Ideale der Alten" (1777 im Teutschen Merkur) konnte Daubner plausibel machen, wie Wieland bereits in dieser frühen Phase den Klassizismus eigentlich überwunden hatte. Seine Schrift wandte sich gegen den Enthusiasmus, wie Lavater ihn im vierten seiner Physiognomischen Fragmente verkündet hatte. Für Wieland sind die Griechen keine schönen und besseren Menschen, er relativiert deren herausragende Stellung und in seinem umfangreichen und stark von der Antike geprägten Werk interessieren ihn nicht das ferne Ideal, sondern die Analogien zur eigenen Zeit. Seiner Sonderstellung war sich Wieland wohl bewusst: In einem Brief an Böttiger schrieb er, im Chor der Philhellenen sei er das, was Saul unter den Propheten gewesen sei.

Mit der "Perzeption der Antike in Karl Philipp Moritz' Italienerfahrung" beschäftigte sich die italienische Germanistin Renata Gambino (Palermo/Catania). 1787 besuchten sowohl Goethe als auch Moritz Pompeji. Wie unterschiedlich die Reaktionen ausfielen, arbeitete Gambino deutlich heraus. Moritz erkannte das Potenzial, war begeistert von dieser "Ästhetik des Alltags" und sah in der ausgegrabenen Stadt, vor allem in den polychromen Villenfresken eine direkte Brücke zur Vergangenheit und eine neue Quelle für die Kreativität der eigenen Zeit. Diese Erfahrung verstand Moritz für seine eigene literarische Arbeit (wie Anthousa, die Reisebriefe oder die Ornamenttheorie) fruchtbar zu machen. Ganz anders Goethe: Für ihn stellte das Pompeji-Erlebnis eher eine Enttäuschung dar, da es seinen Erwartungen zuwider lief. Der kindliche Geschmack, gerade die bunte Farbigkeit wurde von ihm als fern jedes klassischen Formideals empfunden.

Humboldt, eine Schlüsselgestalt der Zeit, war nochmals Thema im Vortrag von Felix Saure (Marburg), diesmal allerdings lag der Fokus auf nationalkulturellen Implikationen im Antike-Konzept. Saure sieht mit Humboldt einen Paradigmenwechsel, eine neue Phase der Hellas-Begeisterung, die vor allem in einer engen und exklusiven Verbindung zu den Modernen ihren Ausdruck findet, - ein "germano-hellenisches" Phänomen. Das Individualbildungs-postulat wurde mit Nationalbildung verbunden; das Humboldtsche Hellas-Konzept wurde als Gegenbild für die kritisch wahrgenommene Gegenwart entworfen, wobei Humboldt sich des idealischen Konstrukts bewusst war. Zwei Faktoren seien es, welche die exponentielle Stellung der Deutschen begründen: Die Nähe zu den Griechen manifestiere sich sowohl auf sprachlicher als auch auf politischer Ebene; so werde der Geist des Griechentums am besten von den Deutschen erfasst, wie bei den Griechen liege bei den Deutschen die Einheit in der Mannigfaltigkeit. Die Betonung der Kulturnation vor dem Zentralstaat darf als Ausdruck der Frankreich-Kritik verstanden werden.

Der Mitherausgeber der Neuausgabe von Karl August Böttigers "Literarischen Zustände und Zeitgenossen" René Sternke (Berlin/Rouen) sprach über Böttiger und den archäologische Diskurs seiner Zeit, auch unter Einbeziehung der Entwicklung in Frankreich (Raoul-Rochette). Als erstes erfolgte eine Annäherung an das, was überhaupt unter Archäologie zu der Zeit zu verstehen sei (formierte sie sich doch gerade erst langsam innerhalb der Altertumswissenschaften als eigenständige Disziplin). Angeregt durch Christian Gottlob Heyne wandte sich Böttiger von der Textkritik zur Hermeneutik, von der Wort- zur Sachphilologie. Unter anderem als Herausgeber des "Teutschen Merkurs" hatte Böttiger immer die Kluft zwischen journalistischem und archäologischem Diskurs zu überbrücken, ebenso den Widerspruch von Historizität und Weimarer Klassizismus auszuhalten. Sternke machte vier Gruppen aus, die am Diskurs partizipierten und miteinander in Kompetenzkonflikte gerieten: Philologen, Archäologen, Künstler und Liebhaber. In einem Ausblick ging es um eine "Archäologie der Gegenwart": Tiecks Märchen-Novelle "Die Vogelscheuche" (1835) lässt sich als literarische Parodie auf den archäologischen Diskurs der Zeit lesen.

Dass es sich beim Griechenkult nicht um reine Gedankenakrobatik handeln muss, demonstrierte Thomas Schmidt (Göttingen) unter der Überschrift "Das halbe Griechenland. Antikerezeption in ‚Weimar' und ‚Schnepfenthal'", indem er sich um die eher unbekannte leibliche Seite eines geistigen Phänomens kümmerte. "Schnepfenthal" - was wie Fiktion klingt, ist ein sehr realer Ort nahe der Tagungsstätte Gotha. Hier wurde auf Grundlage von Gutsmuths "Gymnastik für die Jugend" (1793/21804), der den Sport für das Nachahmungswürdigste der Griechen hielt, Gymnastik nach griechischem Vorbild getrieben. Schmidt demonstrierte an literarischen und pädagogischen Texten die verschiedenen Arten der auf den Körper bezogenen Antikerezeption, die bis zurück auf Winckelmann rekurriert, diskutierte gleichfalls die Rolle des Philanthropismus als neuer pädagogischer Bewegungskultur und zeigte resümierend, wie zwischen ‚Weimar' und ‚Schnepfenthal' ganze Universen liegen und trotz lokaler Nähe eine große geistige Distanz herrschte.

In einer Abschlussdiskussion wurde nochmals gemeinsam der Antike-Begriff erörtert.

Ein besonderer Augenmerk lag auf der Differenz von Athen- und Spartarezeption, wovon die eine eher allgemein-menschlich, die andere eher politisch konnotiert sei. Einmal mehr erwies sich "die Sache mit dem (n)" als berechtigt.

Eine Publikation der Tagung ist geplant.

Kontakt

Michael Kreß
Humboldt-Universität zu Berlin
SFB 644 "Transformationen der Antike"
Invalidenstr. 110
10115 Berlin


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