’Experten’, ’Expertisen’: welche Forschungsfragen?“

’Experten’, ’Expertisen’: welche Forschungsfragen?“

Organisatoren
Centre Marc Bloch/CMB (Berlin); Centre Universitaire de Recherches Administratives et Politiques de Picardie/CURAPP (Amiens), in Zusammenarbeit mit dem Berliner Büro für Hochschulangelegenheiten (CCCL)/ Kulturabteilung der Französischen Botschaft.
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.01.2006 - 27.01.2006
Url der Konferenzwebsite
Von
Heinrich Hartmann, Centre Marc Bloch, Berlin

Die Nachfrage nach Expertenwissen und Expertisen scheint in den letzten Jahren bislang ungekannte Dimensionen erreicht zu haben, orientiert man sich an der schlagwortartigen und häufigen Verwendung der Begriffe im allgemeinen Sprachgebrauch. Dieser Befund wirft aus der Perspektive der Geistes- und Sozialwissenschaften eine Reihe von wichtigen Fragen auf: Ist der diffuse Eindruck, dass Expertenwissen vornehmlich in den letzten Jahren an Bedeutung gewonnen habe, tatsächlich haltbar? Welche Eigenschaften charakterisieren den „modernen Experten“, der auch in der sozialwissenschaftlichen Literatur immer wieder gerne als Kennzeichen der „Wissensgesellschaft“ zitiert wird? Oder genauer gefragt: Lassen sich in historischer Perspektive verschiedene Phasen und Formen von Expertisen herausarbeiten? Wer wird in welchen Situationen überhaupt als Experte anerkannt? Die Untersuchung von historischen Konfigurationen des Expertenwissens, von seinen Trägern und sozialen sowie politischen Verwendungsformen verspricht weiterführende Antworten auf diese Fragen zu liefern.

Die Problematisierung und Historisierung von Expertiseformen in vergleichender Perspektive hat sich eine von Philippe Bongrand, François Buton, Florent Champy, Pascale Laborier, Petra Overath und Jakob Vogel organisierte deutsch-französische Forschungsgruppe zum Ziel gesetzt. Auf ihrem ersten Treffen am Berliner Centre Marc Bloch versuchte sie, eine Bilanz der bisherigen Arbeiten in beiden Ländern zu ziehen und davon ausgehend einen Ausblick auf künftige Forschungsfelder zu eröffnen. In dieser „Kick-off“-Veranstaltung ging es auch darum, die thematische Breite eines Forschungsfeldes zu beleuchten, für dessen Dynamik unter anderem die Vielzahl von Themen steht, die von den Teilnehmern der Arbeitsgruppe im Rahmen von Dissertationen und anderen Forschungsarbeiten bearbeitet werden. Die Arbeitsgruppe besteht derzeit schwerpunktmäßig aus Doktoranden und Forschern der Universität Amiens, der EHESS Paris, der TU Berlin, dem Wissenschaftszentrum Berlin und dem Centre Marc Bloch.

Um die bisher in beiden Ländern gestellten Forschungsfragen miteinander in Beziehung zu setzen, wurden in einführenden Exposés die jeweiligen Forschungsstände in beiden Ländern vorgestellt. Philippe Bongrand (Amiens) präsentierte dabei für Frankreich die politologischen und soziologischen Forschungen, die sich mit der Stellung des Expertenwissens in staatlich-politischen Zusammenhängen befassen. Mit dem Erscheinen des Buches „Agir dans un monde incertain“ im Jahr 20011 habe in der französischen Politologie das Interesse an der Bedeutung neuer Wissensformen zugenommen, die in spezifischen Situationen zur Überbrückung entstehender Unsicherheitszonen eingesetzt würden. Allerdings habe dieses gestiegene Forschungsinteresse am Expertenwissen bislang noch nicht einen äquivalenten Niederschlag in empirischen Arbeiten gefunden, da eine Vielzahl von Aufsätzen eher die eigene Expertenrolle der Forscher problematisiere. Daneben betonte er das Interesse, das die Expertise schon lange in der französischen Rechtssoziologie findet. Die verbreitete Praxis der Gutachtertätigkeit im Rahmen von Gerichtsverfahren gelte dabei in der Forschung als charakteristisch für die generelle Rolle der Expertise im Prozess der Entscheidungsfindung. Vor dem Hintergrund dieses Forschungsspektrums problematisierte er abschließend die Möglichkeit der Wissenschaft, selbst objektivierbares Wissen über Expertenwissen zu erzeugen, sei doch der einzelne Wissenschaftler selbst immer wieder in die Produktion von Expertenwissen eingebunden.

In seinem Überblick über die geschichtswissenschaftliche Forschung im deutschsprachigen Raum betonte Jakob Vogel (Berlin) die Vielzahl bislang unternommener Forschungen auf dem Gebiet der Expertenkultur, wobei allerdings oftmals der Begriff der Expertise nicht im Titel der Arbeiten auftauche. Gerade in den letzten Jahren sei es zu einer Welle neuer Untersuchungen zum Thema gekommen.2 Nicht zuletzt Anregungen aus der Wissenschaftsgeschichte bildeten den Hintergrund einer größeren Zahl jüngerer historischer Arbeiten und Projektverbünde, die sich kritisch etwa mit der Rolle der „Verwissenschaftlichung“ sozialer Zusammenhänge oder der Konstruktion statistischer Kategorien beschäftigten.3 Ein Teil der Forschung sähe dagegen in der Nachfrage nach Expertenwissen eher den Vektor einer wachsenden Rationalisierung, die vor allem seit der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert eine zentrale Funktion im gesellschaftlichen Leben erfülle. Eine besonders wichtige Rolle spielten in diesem Zusammenhang die Forschungen zur Geschichte der Verwaltung. Vogel plädierte für eine systematische Historisierung von Expertiseformen, da auf diese Weise die in den Geschichtswissenschaft üblichen Periodisierungen in Frage gestellt und Ungleichzeitigkeiten in der Konstruktion der Wissensgesellschaft aufgedeckt werden könnten. Gerade der Blick auf die Vielfalt der Wissensformen würde dem empirisch arbeitenden Historiker immer wieder die Bedeutung des praktischen Wissens vor Augen führen und dabei die Begrenztheit des akademischen Wissens deutlich machen.

Zwei weitere Impulsreferate trugen dazu bei, einen gemeinsamen Fragenkatalog für das Feld des Expertenwissens zu formulieren. Martin Lengwiler (Basel) stellte seine Forschungen zur Geschichte der Schweizer Unfallversicherung vor. Expertenwissen definierte er dabei als die Verwendung akademischen Wissens in einem nicht akademischen Kontext. Die Unfallversicherungen rekurrierten auf ein solches Wissen als Werkzeug in einer Kultur omnipräsenten Misstrauens. Durch ärztliche Gutachten versuchte man, fällige Versicherungsleistungen immer wieder in Frage zu stellen. Der Vortrag betonte, dass sich Expertenwissen immer über seine institutionalisierte Nachfrage definiere. An Hand einer handlungsorientierten Lesart des Expertenwissens unterschied Lengwiler verschiedene Stile einer institutionellen Umrahmung: einen assoziativen Stil, verbunden mit einer selbstorganisierten und ausgehandelten Verwendung des Expertenwissens; einen korporatistischen Stil, in dem auf die Expertise als politisch-normatives Mittel zurückgegriffen wurde und einen statischen Stil, der mit einer vollständig bürokratisierten Verwendung des Expertenwissens einhergeht. Dieses Dreistufenmodell ließe zwar manche Spielarten aus, könne aber die politisch-historische Entwicklung der letzten 150 Jahre im Bereich des Versicherungswesens annähernd nachzeichnen.

Die Verwendung von Expertengutachten im Gerichtsverfahren wurde von Danièle Bourcier (Paris/Berlin) problematisiert. Diese Praxis ist in Frankreich nicht zuletzt auf Grund des Pädophilieskandals von Outreau, bei dem durch falsche Gutachtertätigkeit 16 Menschen unschuldig verurteilt wurden, in den letzten Jahren besonders diskutiert worden. An Hand einer Untersuchung von Gerichtsverfahren versuchte sie, die Verwendung der Expertise innerhalb von Entscheidungsfindungen im Allgemeinen zu hinterfragen. Drei Elemente seien dabei für das Feld der Expertise im Gerichtsverfahren charakteristisch: die formale Prozessregelung, die Definition bestimmter professioneller Wissensfelder und die Rolle der Berufsverbände als Aushandlungspartner. Dabei sei die Expertise bei Gericht nie ohne eine Öffentlichkeit denkbar, die bestimmte Objektivierungsmechanismen verlange. An verschiedenen Beispielen demonstrierte Bourcier gewisse Paradoxien in der Verwendung eines solchen externen Wissens. So würde etwa der Moment der Expertiseanforderung im Gerichtsverfahren voraussetzen, dass ein Richter mangelnde Kompetenz eingesteht und sich im Gegenzug der Experte selbstständig und ohne objektive Kontrolle eine solche Qualifikation zuschreibt.

In zwei Diskussionsblöcken wurde auf der Tagung versucht, mögliche Forschungsfragen zu systematisieren. Zunächst stand dabei das Begriffspaar von ‚Angebot’ und ‚Nachfrage’ im Mittelpunkt. Schnell wurde die Bedeutung klar, die Öffentlichkeit und Medien bei der Konstruktion einer solchen Nachfrage spielen. Daneben wurden noch einmal die unterschiedlichen Forschungspositionen hervorgehoben, die entweder das 19., das 20. oder das erst beginnende 21. Jahrhundert als Höhepunkte einer Expertenkultur beschreiben. Auch die soziologische und sozialgeschichtliche Untersuchung der Figur des Experten wurde angeregt und dabei der nötige Anschluss an ältere sozialhistorische Forschungen zur Professionalisierung betont. Als weitere Frage stand die Alternative zwischen einer eher endogenen Analyse des Beratungswissens in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft oder der exogenen Analyse von Konfigurationen des Wissens im Vordergrund. In einem längeren Statement umschrieb Jean François Bayart dabei die Expertise als „registre d'énonciation“, die als besonders hervorgehobener „speech act“ verstanden werden müsse, der von allen Akteuren durch seine vorgebliche Neutralität ernst genommen würde.

Ein zweiter Diskussionsblock hatte zum Ziel, den Teilnehmern Raum für eine Präsentation ihrer Arbeiten zum Thema Experten und Expertise zu geben. Dabei zeigte sich die immense methodische Spannweite und Vielfalt der möglichen Perspektiven auf das Thema. Vorläufig können die Projekte und Arbeiten der Teilnehmer etwa nach den folgenden vier Leitfragen zusammengefasst werden: die Umwandlung von Expertenwissen in Entscheidungsprozessen und konkreten Handlungen; eine Problematisierung der Stellung des Experten in Selbst- oder Fremdzuschreibungen; Konfigurationen, in denen auf Expertenwissen zurückgegriffen wird oder dieses abgelehnt wird; politische Nachfrage nach und Legitimierungsstrategien durch Expertenwissen.

Es ist geplant, die Diskussionen der Arbeitsgruppe auf vier weiteren Sitzungen in den nächsten beiden Jahren zu vertiefen, wobei jeweils spezifischen Fragen nachgegangen werden soll.4 Betrachtetet werden sollen vor allem die komplexen Momente einer Professionalisierung der Experten, der komplexe Status ihres Expertenwissens, Unterschiede und Ähnlichkeiten von sozial- und naturwissenschaftlichen Experten sowie die historische Bestimmung und Periodisierung unterschiedlicher Formen der Expertise und Figurationen des Experten. Die nächste Sitzung wird am 11. und 12. Mai 2006 in Amiens stattfinden, weitere sind in Berlin und Paris geplant. Neben den Workshops sollen weitere Kooperationsprojekte aus dem Forschungsnetzwerk hervorgehen.

Anmerkungen:
1 Callon, Michel, Lascoumes, Pierre, Barthe, Yannick, Agir dans un monde incertain. Essai sur la démocratie technique, Paris 2001.
2 Etwa Fisch, Stefan, Rudluff, Wilfried (Hgg.), Experten und Politik: Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive, Berlin 2004; Engstrom, Eric, Hess, Volker, Thoms, Ulrike (Hgg.), Figurationen des Experten. Ambivalenzen wissenschaftlicher Expertise im ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert, Berlin 2005; Nützenadel, Alexander, Stunde der Ökonomen. Wissenschaft, Politik und Expertenkultur in der Bundesrepublik 1949-1974, Göttingen 2005; Collin, Peter, Horstmann, Thomas (Hgg.), Das Wissen des Staates. Geschichte, Theorie und Praxis, Baden Baden 2004.
3 So auch das am Centre Marc Bloch in Kürze angebundene BMBF-Projekt „Die vergangene Zukunft Europas. Kulturwissenschaftliche Analysen zu Wissensordnungen und demografischen Prognosen im 20. und 21. Jahrhundert“.
4 Informationen zu den weiteren Veranstaltungen über die Homepage des CIERA: http://www.ciera.fr