Berlin-Brandenburg im Kalten Krieg 1948-1975. Wissenschaft, Technik, Kultur und Alltag im ‚Schaufenster’

Berlin-Brandenburg im Kalten Krieg 1948-1975. Wissenschaft, Technik, Kultur und Alltag im ‚Schaufenster’

Organisatoren
ZZF Potsdam in Kooperation mit der Historischen Kommission zu Berlin (HIKO)
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
27.01.2006 - 28.01.2006
Url der Konferenzwebsite
Von
Enrico Heitzer, Universität Halle

Vom 27. bis zum 28. Januar 2006 fand der vom Zentrum für Zeithistorische Forschung (ZZF) organisierte Workshop „Berlin-Brandenburg im Kalten Krieg 1948-1975. Wissenschaft, Technik, Kultur und Alltag im ‚Schaufenster’“ statt. Als Tagungsort diente das Haus der Brandenburgischen Geschichte in Potsdam, das neben der Historischen Kommission (HIKO) Berlin Mitveranstalter war. Die Veranstaltung des ZZF-Projektbereiches zum Ost-West Konflikt in der geteilten Region1 fügt sich als hauptsächlich geschichtswissenschaftliches Experten-Podium in die Workshopreihe des ZZF über die Spezifika des Kalten Krieges im Verflechtungs- und Teilungsraum Berlin-Brandenburg ein. In den vier Sektionen der Tagung sollten anhand aktueller Forschungsergebnisse zu verschiedenen Bereichen der regionalen Systemauseinandersetzung die Tragfähigkeit der Analysekonzepte „Systemkonkurrenz“ und „Schaufenster“ erprobt werden.2
Der sehr produktive Workshop, an dem bis zu fünfzig Wissenschaftler auch aus anderen Forschungsbereichen teilnahmen, diente der Diskussion von institutionell übergreifenden Fachproblemen und Forschungsperspektiven. Außerdem sollten die Kooperationsmöglichkeiten zwischen den mit der Problematik befassten Institutionen und Wissenschaftlern weiter erörtert werden. Es wurde beinahe durchweg aus derzeitigen Forschungsprojekten, darunter laufende Dissertationsvorhaben, berichtet.

Den Eröffnungsvortrag hielt der Projektleiter Michael Lemke (ZZF Potsdam/Uni Halle). In seinem Referat umriß er die Konzeption seines Projektbereiches „Berlin-Brandenburg im Kalten Krieg“ und den derzeitigen Forschungsstand. Er ging von der These aus, dass man es in dieser Region mit einer einmaligen Konfiguration in Europa zu tun habe. Anschließend begründete er die zentrale Kategorie des Untersuchungsfeldes, die Systemkonkurrenz. Diese führte einerseits zu scharfer gegenseitiger Abgrenzung, brachte andererseits aber auch eine besondere regionale Disposition für ost-westliche Entspannungsbemühungen hervor. In diesem Zusammenhang skizzierte er das heuristische Modell zweier antagonistischer „Schaufenster“ im Ost- und Westteil Berlins. Die besonders scharfe Systemkonkurrenz in diesem historisch gewachsenen Verflechtungsraum, die zwischen Konfrontation und Wettbewerb alternierte, zwang die Konfliktparteien dazu, „Schaufenster“ für die Überlegenheit der einen über die jeweils andere Seite zu schaffen. Lemke verwies auf die Magnettheorien, die auf beiden Seiten zum Ziel hatten, das eigene System zu stabilisieren und nach außen Einfluß zu gewinnen.

Sektion Wissenschaft
Um im Sprachbild zu bleiben: Die auf Lemke folgenden Referenten füllten mit ihren Beiträgen die „Schaufenster“ Ost- und West-Berlins. Der erste Abschnitt des Workshops, der von Constantin Goschler von der HU Berlin moderiert wurde, behandelte das Thema Wissenschaft. Igor J. Polianski (ZZF) widmete sich im ersten Vortrag über die Pawlow-Propaganda den „beiden Seelen“ der gespaltenen Stadt nach 1945. Für ihn waren die Nachkriegsberliner gewissermaßen „eingeklemmt“ zwischen Pawlow und Freud. Zunächst hatte es in Ost-Berlin Bestrebungen gegeben, Freud mit Marxismus zu vereinen. Aber bereits 1948 waren solche Bestrebungen, die Deutschen von ihren „Hemmungen“ zu befreien, beendet. In die entstehende Lücke schrieb sich Pawlow, der in den „Hemmungen“ umgekehrt ein Heilmittel sah. Es begann sich ein eigener Pawlow-Kult zu entwickeln. Dass auch auf diesem Feld die Systemkonkurrenz ausgetragen wurde, zeigte Polianski am Beispiel der Schlaftherapie, mit der man in Ostberlin versuchte, Patienten ihre Beschwerden antifreudianisch einfach weg schlafen zu lassen.

Ina Dietzsch präsentierte in ihrem Vortrag Ergebnisse aus dem Projekt „Volkskunde als öffentliche Wissenschaft. Die Wissens- und Wissenschaftsgeschichte der Berliner Volkskunde 1860 bis 1960“ am Institut für Europäische Ethnologie an der Humboldt-Universität. Sie beschrieb die Auseinandersetzungen um eine sozialistische Ethnographie im Nachkriegsberlin. Daran anschließend beschäftigte sich Peter Walther von der Humboldt-Universität mit der institutionellen Neuordnung der Berliner Wissenschaften am Beispiel der Diskussionen um die Akademiegründung in Westberlin und klärte die Frage, warum verschiedene Initiativen im Sande verliefen. Tobias Schulz (ZZF) wies in seinem Vortrag über die „schwierige“ 150-Jahrfeier der Humboldt-Universität 1960 auf das Konkurrenzverhältnis zur Freien Universität und den erbitterten Streit um das Erbe Humboldts hin. In den Diskussionsbeiträgen zu diesem Vortrag wurde auf bemerkenswerte Kontinuitäten bis in die heutige Zeit hingewiesen.

Sektion Technik
Die von Rainer Karlsch (Berlin) moderierte zweite Sektion befaßte sich mit dem Komplex „Technik“. Burghard Ciesla (Berlin) thematisierte die „Bahn als Systemkonkurrenz“. Die S-Bahn in Westberlin blieb bekanntlich Bestandteil der Ost-Berliner Reichsbahn. Deshalb war gerade in diesem Betrieb eine eigentümliche Verflechtungssituation während der gesamten Zeit der Teilung der Stadt und ihrer verkehrstechnischen Auseinanderentwicklung zu beobachten. Im Vortrag von Ruth Federspiel (Berlin) ging es hingen um scharfe Konkurrenz im technologischen Bereich. Sie verglich einige Entwicklungen in der produktionstechnischen Forschung an der TU Berlin mit denen an der TU Dresden.

Kontroverse Diskussionen löste die These von Karin Zachmann (TU München) aus, dass die Übertechnisierung der heutigen Küchen in Deutschland das Ergebnis des Kalten Krieges sei. Sie interpretierte Küchen als Schnittstelle zwischen Staat, Wirtschaft und Heim, mithin als Bühnen der politischen Inszenierung vom guten Leben. Ausgehend von der bekannten „Küchendebatte“ auf der Amerikanischen Ausstellung in Moskau 1959 zwischen Chruschtschow und Nixon konnte sie zeigen, dass die Systemkonkurrenz auch die Küchen ergriffen hatte. So wurde auf der einen Seite amerikanischer Überfluß zum Programm der Inszenierung der hedonistischen Hausfrau, während auf der anderen Seite Frauen sich über die Berufstätigkeit emanzipieren und Konsumverzicht üben sollten.

Sektion Kultur
Die von Elke Scherstjanoi (IfZ) geleitete dritte Sektion beschäftigte sich mit der „Kultur“ im Kalten Krieg. Der Experte für die Verlags- und Zensurgeschichte Siegfried Lokatis (ZZF) referierte über den Literaturaustausch in der geteilten Stadt. Berlin sei die „offene Wunde des Zensursystems“ gewesen, allein schon durch die unkontrollierbare Zahl der Grenzgänger, die sich täglich mit „feindlicher“ Literatur versorgten. Auch Daniel Schwane (Zürich) befasste sich mit Ost-West-Kontakten im literarischen Bereich. Er wählte hierfür einen heute unbekannten Fall aus den Jahren 1964/65: Bereits bei den Lesungen der DDR-Schriftsteller in West-Berlin im Rahmen der so genannten Siegmunds Hofer Gespräche entwickelten sich Konzepte, die einiges vom später praktizierten „Wandel durch Annäherung“ antizipierten.

Am Beginn des zweiten Workshop-Tages (Fortsetzung der Sektion „Kultur“, Moderation Wolfgang Ribbe, HIKO), ging Michael Lemke in seinem Vortrag der Frage nach, ob der „Fall“ Walter Felsensteins, des international renommierten Intendanten der Komischen Oper, ein interner Systemkonflikt gewesen sei. Auch dieser eigentlich DDR-interne Fall erhielt auf mehreren Ebenen eine Dimension, die ihn in Bezug zur Systemkonkurrenz zwischen Ost und West setzte. Felsenstein sollte aus ideologischen Gründen Westberliner Mitarbeiter entlassen, was er jedoch strikt ablehnte. Lemke schloß aus dem Verlauf des Konfliktes und seiner Beendigung durch ein Machtwort Ulbrichts, dass es sich in diesem Fall um ein Paradebeispiel der Schaufensterpolitik gehandelt habe. Nur deshalb konnte sich der „bürgerliche“ Felsenstein gegenüber der Parteibürokratie durchsetzen. Anschließend fragte Denise Wesenberg von der Universität Halle-Wittenberg, ob die X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Ost-Berlin ein Ansatz für eine neue Jugendkultur gewesen seien. Mit ihrer These, die Jugendfestspiele seien lediglich eine Inszenierung seitens der SED (ein „Rotes Woodstock“) gewesen, rief sie insbesondere bei einigen Zeitzeugen heftigen Widerspruch hervor. Zwar habe es keine offenen Festspiele gegeben, lautete ihr Gegenargument, wohl aber eine neue Qualität von Jugendkultur.

Sektion Alltag
Die vierte, von Thomas Klein (ZZF) geleitete Sektion, beschäftigte sich mit dem Themenkomplex „Alltag“ im Schaufenster. Melanie Arndt (ZZF) lieferte mit ihrem Beitrag „Pillen gegen den Kommunismus?“ über Medikamentenhilfen und Patientenbetreuung in der geteilten Region einen Werkstattbericht aus ihrem laufenden Dissertationsprojekt, in dem sie die Gesundheitspolitiken im Ost- und Westteil Berlins bis 1961 vergleichend betrachtet. Ihr Zwischenfazit bildete die Feststellung, dass es sich beim West-Berliner System der Medikamentenversorgung für Ostdeutsche nicht um ein gutsortiertes Schaufenster, sondern viel eher um einen „unaufgeräumten Arzneimittelschrank“ gehandelt habe.

Frank Roggenbuch (ZZF) beschrieb in seinem Beitrag den Streik der Unabhängigen Gewerkschaftsorganisation (UGO) von 1949 als vielschichtigen Verflechtungskonflikt und tief greifendes soziales und politisches Ereignis, für das die Bezeichnung Eisenbahnerstreik zu kurz greife. Wolfgang Ribbe (HIKO) stellte unter der Überschrift „Wohnen im geteilten Berlin“ Ergebnisse eines Projektes an der TU Berlin dar. Er referierte hauptsächlich über die Bautätigkeiten Ost- und West-Berlin in den 1950er-Jahren. Er bot eine vergleichende Wohnungsbaugeschichte der beiden Stadthälften und zeigte, dass die unterschiedlichen Systeme seit dem Berliner Wiederaufbau unterschiedliche baukulturelle Konzepte hervorbrachten. Ost-Berlin neigte sich dem sowjetischen Bauen zu, West-Berlin hingegen westlichen beziehungsweise internationalen Standards. Auch er hob immer wieder die besondere politisch-ideologische Dimension von Baumaßnahmen, beispielsweise der Stalin-Allee oder des West-Berliner Hansa-Viertels, hervor. Anne Kaminsky schließlich beleuchtete die Konsumgeschichte der 1950er und 1960er-Jahre in der Region Berlin-Brandenburg. Beide Seiten versuchten den Kampf an der „Konsumfront“, der ausgerechnet von Ostberlin ausgerufen worden war, für sich zu entscheiden. Auf den Punkt gebracht, lautete ihre These, die noch lange wirkungsmächtigen Diskurse und Bilder vom Konsum im geteilten Deutschland hätten sich bereits in den 1950er-Jahren etabliert.

Der durchweg von einer angenehmen und offenen Atmosphäre getragene Workshop bot Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen ein Forum, um ihre Projekte vorzustellen und über neue Erkenntnisse und Fragestellungen zu diskutieren. Auch erwies sich das Systemkonkurrenz- und „Schaufenster“-Modell als produktiv und interdisziplinär ausbaufähig.

Anmerkungen:
1 Informationen zum Projekt unter: http://www.zzf-pdm.de/projekte/projab04/pb1_n.html
2 Programm des Workshops unter: http://www.zzf-pdm.de/veranst/tagungen/bbkkrieg/wskkrieg2.pdf


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