Generationsidentitäten nach 1945 in Deutschland

Generationsidentitäten nach 1945 in Deutschland

Organisatoren
Prof. Dr. Aleida Assmann, Prof. Dr. Bernhard Giesen; Kulturwissenschaftliches Forschungskolleg SFB 485 „Norm und Symbol. Die kulturelle Dimension sozialer und politischer Integration“, Universität Konstanz
Ort
Konstanz
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.01.2006 - 20.01.2006
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Von
Lu Seegers, Justus-Liebig-Universität Gießen

Die Idee für die Tagung resultierte aus einem gemeinsamen Forschungsprojekt, das Aleida Assmann und Bernhard Giesen derzeit in interdisziplinärer Kooperation an der Universität Konstanz aus soziologischer und literaturwissenschaftlicher Perspektive zum Thema „Grenzen des Verstehens. Generationsidentitäten nach 1945“ leiten. Das Thema, in dessen Mittelpunkt die Generation der „68er“ und ihr Verhältnis zur Elterngeneration sowie zu ihren eigenen Kindern stand, wurde facettenreich angegangen – eingeladen waren Historiker, Soziologen, Sozialpsychologen und Literaturwissenschaftler.

Seinen ebenso anregenden wie kontrovers diskutierten Eröffnungsvortrag begann der Soziologe Heinz Bude (Hamburg/Kassel) mit der Frage, warum viele Menschen gängige Generationendeutungen zurückweisen, sich aber dennoch oftmals in Relation zu bestimmten Generationen setzen würden – beispielsweise wenn man „kein 68er“ sein möchte. Den Grund dafür sieht Bude in einer „Paradoxie des Identitätsmanagement“, die zwischen der Einzigartigkeit der eigenen Biographie und der Angst vor Kontingenz changiere. Insofern seien generationelle Zuschreibungen eine Form von Selbstvergewisserungsstrategie sowohl für die Deutung der Vergangenheit als auch für Erwartungen und Wünsche an die Zukunft. Den Nutzen der Verwendung des Generationenbegriffs sieht Heinz Bude vor allem in dreierlei Hinsicht: erstens, in seiner transnationalen Kommunizierbarkeit; zweitens, in der ihm eingeschriebenen Kontroversität und drittens in der Verbindung von Biologie und Geschichte. Gegenüber dem diachronen Aspekt genealogischer Generationenverhältnisse sei der synchrone Aspekt jahrgangsspezifischer Generationsprägungen im 20. Jahrhundert in den Vordergrund getreten. Dies führe dazu, dass sich Generationenwechsel manchmal innerhalb kürzester Zeit vollzögen, gelegentlich aber auch Generationen jahrzehntelang dominierend blieben, wie die „Weimarianer“ in der Bundesrepublik und noch wesentlich ausgeprägter in der DDR. Erst mit „1968“ habe es dann nach vollbrachtem Wiederaufbau einen eindeutigen Wandel gegeben, da junge Akademiker die Angst gehabt hätten, dass die Söhne „vor den Vätern“ sterben könnten (Thomas Brasch). Diese Melancholie sei mit einem „absoluten Erfahrungshunger“ zusammengetroffen, den Heinz Bude als Hauptursache für die Entstehung der „68er“-Bewegung ausmacht. Um so frappierender sei der schlagartige Bedeutungsverlust, den die bis vor kurzem noch an der Regierung stehende 68er-Generation aktuell erfahre und für die der ehemalige Außenminister Joschka Fischer beispielhaft stehe. Während die 68er-Generation sich vor allem durch die moralischen Lehren der Erfahrung des Nationalsozialismus und damit aus der Vergangenheit heraus definiert habe, versuche die Große Koalition unter der Führung von Angela Merkel (Jg. 1954) in erster Linie die Probleme der Zukunft in den Griff zu bekommen; ein neuer politischer wie generationeller Stil, den Heinz Bude mit dem Begriff des „Neorealismus“ kennzeichnet.

Die erste Sektion der Tagung eröffnete der Soziologe Bernhard Giesen mit Überlegungen zum historischen und ethnographischen Begriff der Generation. Durch den Generationenbegriff könne nicht nur die Sozialstruktur temporalisiert, sondern auch die Deutungshoheit bezüglich des gesellschaftlichen Wandels selbst verzeitlicht werden. Generationen würden zumeist durch geteilte Erlebnisse wie beispielsweise Kriege, Aufstände oder andere historische Bewegungen konstituiert, die in der prägungswirksamen Phase der Adoleszenz die Erfahrungen der Älteren entwerten. Der Drang, das Bestehende durch Neues zu übertreffen und die Geschichte in eine offene Zukunft zu beschleunigen, habe sich mit dem ausgehenden 20. Jahrhundert zunehmend erschöpft. So seien ältere und jüngere Generationen heute nicht mehr durch unüberwindbare Barrieren des Nichtverstehens getrennt. Die Klage der 1968er-Generation über das Unverständnis der Eltern und ihre fehlende Bereitschaft zum Gespräch, so das Ergebnis des Konstanzer Forschungsprojekts, sei vielmehr in ihr Gegenteil umgeschlagen: Die ewig verständnisvollen und gesprächsbereiten Eltern würden von ihren Kindern heute zunehmend als lästig empfunden. Die Differenzen zwischen den Generationen würden heute vielmehr an Alltagspraktiken und Stilattributen denn an historischen Erfahrungen oder gesellschaftlichen Projekten – wie dies noch bei der retrospektiven generationellen Verankerung der 68er-Bewegung der Fall gewesen war – festgemacht. Dies reflektierten auch die öffentlichen Debatten über Generationen.

Der Historiker Jürgen Reulecke (Gießen) behandelte in seinem Vortrag zwei männliche, vielfach vaterlos aufgewachsene Generationen, nämlich die im oder kurz nach dem Ersten Weltkrieg Geborenen und diejenigen der Jahrgänge 1935-1945. Einleitend mahnte Reulecke eine Erweiterung der Generationenforschung an, die auch subjektive Faktoren wie die altersbezogenen Erfahrungen der Forschenden mit einbeziehen sollte. Der Definition von Generationen als festen Entitäten sei der Begriff der Generationalität vorzuziehen, der die Möglichkeit biete, die Selbst- und Fremdverortungen bestimmter Altersgruppen in ihrer Zeit als Konstrukte zu fassen, wobei auch geschlechtsspezifische Faktoren stärker berücksichtigt werden müssten. Vaterlosigkeit sei im 20. Jahrhundert in Deutschland in zweifacher Hinsicht thematisiert worden: Zum einen auf einer eher metaphorischen Ebene im Sinne einer „vaterlosen Gesellschaft“ insbesondere nach der Niederlage des Ersten Weltkriegs, als vielfach behauptet wurde, dass das schuldhafte Versagen und die Charakterlosigkeit der Väter der Grund für die deutsche Katastrophe 1918/19 gewesen seien. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam der Slogan erst wieder mit Alexander Mitscherlichs, „Auf dem Weg zur vaterlosen Gesellschaft“ (1963) auf den Markt der gesellschaftlichen Deutungen. Gegenüber der imaginierten Vaterlosigkeit sei die konkrete Vaterlosigkeit nach den beiden Weltkriegen jedoch kaum thematisiert worden. Zwar gibt es erste Anhaltspunkte, dass die Vaterlosigkeit in Zusammenhang mit fehlenden realen Männerbildern durch männliche Jugendliche vielfach durch ältere „Führer“ in Jugendorganisationen kompensiert wurde. Doch sei noch weitgehend offen, wie die konkrete Vaterlosigkeit die Lebenswege von den Betroffenen nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen europäischen Ländern tangiert habe und welche Auswirkungen dies auf die Nachkriegsgesellschaften gehabt hätte.

Der Soziologe Reimer Gronemeyer referierte zum Thema „Generationsverhältnisse und die Krise des Sozialstaats“. Angesichts der zunehmenden Vermarktung der Individuen in der derzeitigen „Geld-Gesellschaft“ prognostizierte Gromeyer einen Krieg der Generationen, der sich vor allem an der Frage der Versorgung der wachsenden Zahl der Hochaltrigen festmache, wobei die Grenzen zur Euthanasie schleichend seien. Ferner diagnostizierte Gronemeyer einen wachsenden kulturellen Bruch zwischen den Generationen. Während die ältere Generation noch durch die Arbeitsgesellschaft geprägt sei und kontinuierliche Berufsbiographien die Regel gewesen seien, könne die jüngere Generation die damit verbundenen Werte nicht mehr übernehmen, da viele die Erfahrung machten, dass ihre Arbeitskraft nicht mehr gebraucht werde.

Der Sozialpsychologe Harald Welzer (Witten-Herdecke/Essen) begann seine Ausführungen zum Thema „Standardisierung von Erinnerung. Generationen als Erinnerungsgeneratoren“ mit einer Kritik des Generationenbegriffs, da die Generationenzugehörigkeit nur eine von vielen Wir-Zugehörigkeiten (Familie, Partei, Milieu) sei, die parallel existieren. Für die Bundesrepublik will Welzer nur die „68er“ als Generation gelten lassen. Diese Jahrgänge hätten über – in der deutschen Geschichte – einmalige Aufstiegschancen und ein großes Gestaltungspotential verfügt, durch die eine [Selbst]-Bedeutungszuschreibung erst möglich geworden sei. Zur Zeit versuche diese Altersgruppe, die zunehmend aus entscheidenden Positionen in Gesellschaft und Politik abtreten müsse, sich eine neue Bedeutung zuzuschreiben, bzw. die alte zu verlängern, indem sie sich in der Öffentlichkeit retrospektiv als Kriegskindergeneration formiere. In den damit verbundenen Erinnerungsgemeinschaften würden Geschichten solange ausgetauscht und modifiziert, bis alle über ähnliche Erinnerungs-Geschichten verfügten. Dabei handele es sich oftmals um eine retro-aktive Identifizierung, die importierte Erinnerungen aus dem öffentlichen Raum ebenso aufnehme wie derzeit virulente therapeutische Diskurse um die Begriffe Trauma und Traumatisierung, um eigene Leiden in der Öffentlichkeit thematisieren zu können.

Der Beitrag von Mark Weißhaupt stellte den soziologisch ausgerichteten Teil des oben genannten Forschungsprojekts an der Universität Konstanz vor. Grundlage des Projekts bilden Interviews, mit denen Angehörige der APO-Bewegung, ihre Eltern und ihre Kinder daraufhin befragt werden, ob in ihren Äußerungen und Erinnerungen kommunikative Grenzen des Verstehens zwischen den Generationen sichtbar werden. Weißhaupt zeigte, dass das Generationenverhältnis in der Familie von den Interviewpartnern keineswegs als Generationenkonflikt wahrgenommen, sondern die Familiengeschichte vielmehr harmonisiert würde. Gleichwohl bestünden generationale Unterschiede in den Modi des Erzählens, die besonders dann deutlich würden, wenn biographische Brüche oder widersprüchliche Elemente innerhalb von Narrationen gerahmt werden müssten. Die dritte Generation sei eher in der Lage, die bestehende Fragmentiertheit der Gesellschaft anzuerkennen und könne mit den damit verbundenen Ambivalenzen souveräner umgehen als die Elterngeneration, die noch von dem Wunsch nach einem Gesamtplan für die Verbesserung der Gesellschaft geprägt sei.

Die zweite Sektion behandelte unter der Leitung von Aleida Assmann vorwiegend literaturwissenschaftliche Themen. Dabei standen die derzeit in Deutschland und Österreich sehr erfolgreichen Familien- und Generationenromane im Mittelpunkt. Elena Agazzi (Bergamo) sprach über „Profilierung und Bewältigung der historischen Konflikte im Generationenroman der Gegenwart“. Während die Generationenromane der 1970er-Jahre oftmals als Anklage der Söhne gegen die Väter formuliert waren (Bernhard Vesper, Die Reise), werde in den jüngsten Generationenromanen das Verhältnis zwischen den Generationen differenzierter dargestellt, zumal da Autoren wie Stephan Wackwitz (Ein unsichtbares Land) parallel zur Suche nach der Geschichte der Eltern und Großeltern auch eine Reise in die eigene Vergangenheit der Studentenbewegung unternähmen. Letztlich zeige die Popularität des Generationenromans einen neuen Wissensdrang der so genannten dritten Generation nicht nur in Deutschland, sondern auch in Italien.

Anne Fuchs (Dublin) analysierte Landschaftserinnerungen als Medium der transgenerationellen Kommunikation in den Romanen von Stephan Wackwitz „Ein unsichtbares Land“ und „In den Augen meines Großvaters“ von Thomas Medicus. Beide Romane seien in vielerlei Hinsicht repräsentativ für den neuen deutschen Familienroman, der seit den späten 1990er-Jahren die transgenerationellen Auswirkungen des Nationalsozialismus in der deutschen Nachkriegsfamilie aus der Perspektive der zweiten oder dritten Nachkriegsgeneration thematisiert. Der in den Texten praktizierte selbstreflexive Umgang mit Fotoalben, Tagebüchern und anderen historischen Dokumenten produziere ein historisches Patchwork, das einerseits das Fragmentarische historischer Erkenntnis und andererseits deren mediale Vermitteltheit verdeutliche. Den Autoren gehe es darum, jenen Leerstellen im Familiengedächtnis nachzuspüren, die zu fundamentalen Kommunikationsstörungen bzw. unheimlichen Wiederholungsstrukturen in den jeweiligen Nachkriegsfamilien geführt haben. Fuchs kann zeigen, wie etablierte Natur- und Heimatdiskurse in den Texten konkret aufgerufen werden, um eine kritische Interpretation des Familien- und Generationengedächtnisses zu leisten. Während Medicus die Dekonstruktion von Familienmythen an die Verabschiedung eines ästhetischen Landschaftsdiskurses binde, analysiere Wackwitz die Störung des Familiengedächtnisses im Paradigma des Heimatdiskurses, der als spezifische Spielart des kolonialen Diskurses ausgewiesen wird.

Andreas Kraft (Konstanz) stellte erste Ergebnisse des literaturwissenschaftlichen Projekts zum Thema „Grenzen des Verstehens“ vor. Während für die von Angehörigen der „68er“-Bewegung verfasste Vaterliteratur (Bernhard Vesper, Die Reise) die scharfe Opposition gegenüber den Vätern kennzeichnend sein, fänden sich in den Romanen der dritten Generation neue Erzählstrategien. Oftmals seien es (selbst-)therapeutische Texte, häufig geschrieben nach einer innerfamiliären Krise oder dem Tod des Vaters. Die heutigen Texte seien wesentlich subtiler und einfühlsamer, was das Verständnis für die Eltern angehe. Dementsprechend würden jüngere Autoren wie Alois Hoschnig (Ludwigs Zimmer) nicht-realistische Darstellungsformen und eine phantastische Bildsprache benutzen, um kommunikativen Leerstellen im Familiengedächtnis nachzuspüren und das kollektive Unbewusste im Generationenverhältnis zu beschreiben.

Das Fazit der Tagung lautet: Es bleibt schwierig – aber spannend! Die Beiträge boten viel Anregungspotential, zugleich zeigten sie einmal mehr, dass es leichter ist, „einen Pudding an die Wand zu nageln“ als den Generationenbegriff – ob seiner vielen Implikationen – trennscharf zu definieren. So wurden Generationen im Sinne sozialstaatlicher Generationen-Verantwortung thematisiert, aber auch als Familiengenerationen, bei denen die Genealogie eine entscheidende Rolle spielt sowie als Generationeneinheiten, die eine spezifische Selbsthistorisierung, ja Selbststilisierung im öffentlichen Raum betreiben. Es wurde daher dafür plädiert, eher vom Begriff einer altersgruppenspezifischen Generationalität auszugehen, nicht zuletzt wenn es um die Erforschung subkutaner altersbezogener Erfahrungen geht. Vielleicht schützt dies auch davor öffentliche Deutungsmuster gesellschaftlicher Eliten, die sich zu Generationen stilisieren oder stilisiert werden, nicht zu vorschnell zu übernehmen.


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