Ernest Dichter-Symposium. Ein Motivforscher als "Kristallisationsort der Moderne"

Ernest Dichter-Symposium. Ein Motivforscher als "Kristallisationsort der Moderne"

Organisatoren
Rainer Gries, Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Wien; Stefan Schwarzkopf, Queen Mary College, London
Ort
Wien
Land
Austria
Vom - Bis
01.12.2005 - 02.12.2005
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Von
Andrea Morawetz, Wien

Rainer Gries (Institut für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Wien) und Stefan Schwarzkopf (Queen Mary College, London) hatten es sich als Veranstalter des Symposiums zum Ziel gesetzt, die Forschungen über den in den fünfziger und sechziger Jahre berühmten Motivforscher Ernest Dichter voranzutreiben. 1 Ernest Dichter war 1907 als ältester Sohn einer jüdischen Emigrantenfamilie in Wien geboren worden und in bitterer Armut aufgewachsen. Dennoch gelang es ihm Anfang der dreißiger Jahre, an der Universität Wien bei namhaften Vertretern unterschiedlicher akademischer Disziplinen zu studieren (z.B. Charlotte und Karl Bühler, Moritz Schlick). Darüber hinaus zeigte sich Dichter stark von der Psychoanalyse beeindruckt, die ihn ein Leben lang begleiten sollte.

Bereits von frühester Kindheit an hatte sich Dichter als Außenseiter und von größter Unsicherheit erfüllt wahrgenommen. Er selbst führte das, wie er später wiederholt betonte, auf seine roten Haare zurück. Diese zutiefst verinnerlichte Überzeugung, nicht der Norm zu entsprechen, so Rainer Gries in seinem Einleitungsvortrag, behielt Dichter auch bei, als er 1937 aus Österreich in die USA emigrierte. Dichter, der sich damit offenbar nie als Teil der "Mitte" gefühlt hatte, zeigte sich jedoch umso geübter in der Beobachtung dessen, was er nicht sein konnte - oder wollte. Seine Beobachtungsgabe und sein Einfühlungsvermögen für gesellschaftliche Entwicklungen sollte er schließlich in den Vereinigten Staaten auf dem Gebiet der sich etablierenden Motivforschung nutzbringend anwenden können. Bereits in den vierziger Jahren hatte Dichter den Grundstein für sein späteres Institute for Motivational Research gelegt. In den beiden Jahrzehnten darauf stieg er nicht zuletzt aufgrund Vance Packards umfassender Kritik an seiner Person, dem "geheimen Verführer", zum wohl berühmtesten und gefragtesten Motivforscher seiner Zeit auf. 2 Dichter starb Anfang der neunziger Jahre, nachdem er jahrzehntelang erfolgreich - aber nicht unwidersprochen - als Motivforscher, Werbefachmann und politischer Berater tätig gewesen war.

Diese Tagung versuchte nun erstmals, eine internationale Perspektive in die Auseinandersetzung mit Werk und Wirken Dichters einzubringen und zu fragen, wie seine Ideen in den jeweiligen Ländern seiner Tätigkeit rezipiert wurden. Der internationale Aspekt spiegelte sich auch in der Zusammensetzung der Referenten wider, die zudem eine Vielzahl an Disziplinen wie beispielsweise Geschichts-, Kommunikations- und Kulturwissenschaft oder Psychologie, Soziologie und Theologie vertraten. Von jeweils unterschiedlichen wissenschaftlichen Verständnissen ausgehend versuchten die Referenten, sich dem Phänomen Dichter anzunähern, sein umfassendes Werk in Angriff zu nehmen und seine Bedeutung für die Gegenwart zu eruieren.3 Rainer Gries sah anhand Leben und Werk Dichters insbesondere die Möglichkeit, auf gesellschaftliche Umwälzungen und damit verbundene Herausforderungen an den Einzelnen zu schließen. Dichter wäre damit vor allem eines: ein "Kristallisationsort der Moderne".

Die erste Vortragsreihe der Tagung war vorrangig der Person Dichters gewidmet. Bernd Semrad (Wien) stellte in seinem Vortrag die Biographie Ernest Dichters der seines Kontrahenten Hanns F. J. Kropffs gegenüber. Damit wurde zugleich der Lebensverlauf eines Emigranten mit dem eines ehemals bekennenden Nationalsozialisten verglichen. Ziel Semrads war es nicht nur, Kontinuitäten und Brüche zweier Karrieren und Lebensstile herauszuarbeiten, sondern über alle Gegensätze hinweg gemeinsame Grundlagen in der Werbe- und Motivforschung aufzuzeigen. Wolfgang Duchkowitsch (Wien) widmete sich aufgrund der widersprüchlichen Quellenlage der Frage, inwieweit Dichter in jungen Jahren als Sympathisant sozialistischen Gedankengutes erachtet werden könne. Dabei gelangte er zu dem Schluss, dass Dichter sich diesem wohl angenähert hatte, dies jedoch nicht tiefer gehend und lediglich von kurzer Dauer war. Christoph Steiner (Wien) tastete sich wiederum mit Hilfe theologischer Fragestellungen an das Denkgebäude Dichters an. Hier verwies er insbesondere auf dessen Bemühungen, Konsumenten von Schuldgefühlen zu befreien, die mit dem Kauf eines Produktes verbunden sein können. Grundtenor jenes Vortrages war somit, nicht nur die religiöse Komponente in Dichters Leben und Werk selbst stärker herauszustreichen, sondern deren Potenzial im Rahmen kulturgeschichtlicher Ansätze sichtbar zu machen. Anhand von Modellen einschlägiger PR-Definitionen befasste sich dagegen Roland Burkart (Wien) mit Dichters Talenten zur Selbstdarstellung und versuchte jene Faktoren fassbarer zu machen, die zu Dichters nahezu unvergleichlichen Ruhm geführt hätten.

Aus der Sichtweise des Psychologen wagte sich wiederum Peter Lunt (London) an die intensive Lektüre des 1971 erschienenen Werkes "Motivating Human Behavior" 4 heran. Sein Vorhaben bestand darin, zentrale Ideen Dichters herauszuarbeiten, um diese dann mit gegenwärtig aktuellen Theorien wie jener der reflexiven Modernisierung zu vergleichen. Dichters Anliegen war es hier vor allem, dazu beizutragen, mit den Erfordernissen des gesellschaftlichen Wandels besser umgehen zu können. Dabei gestand Lunt Dichter zu, bereits zu Beginn der siebziger Jahre bedeutende Thematiken der Konsumpsychologie vorweggenommen zu haben. Einschränkend merkte er jedoch an, dass das Erklärungspotenzial der Ansätze Dichters aufgrund ihrer generellen Natur nur eingeschränkt wirksam werden könne.

Ronald A. Fullerton (Kairo) gab abseits einseitiger Darstellungen wie Vance Packards "The Hidden Persuaders" und Dichters Autobiographie 5 ein Bild vom "Vater der Motivforschung". Er demontierte nicht nur Dichters Darstellung, als Erster psychoanalytische Verfahren in der Motivforschung eingebracht zu haben, sondern er verwies auch darauf, dass Dichters methodisches Spektrum als nicht repräsentativ erachtet werden könne. Trotz aller Kritik an Person und Werk des Motivforschers gestand Fullerton Dichter zu, dennoch auch im Sinne des Schutzes der Konsumenten tätig geworden zu sein.

Christian Führer (Wien) und Lieselotte Stalzer (Wien) setzten sich mit dem Wirken Dichters vor dem Hintergrund seiner Tätigkeit für Unternehmer und Berater auseinander. Während Christian Führer insbesondere auf Dichters Leistungen bei der Herausarbeitung eines "Marketing-Mixes" verwies, stellte Lieselotte Stalzer Dichters Bemühungen als "Berater der Berater" in den Mittelpunkt ihres Vortrages.

Mit der Rezeption Dichters in Deutschland setzten sich drei Referenten aus Wissenschaft und Praxis auseinander. Kai-Uwe Hellmann (Leipzig) hatte es sich zur Aufgabe gemacht, das Verhältnis Dichters zum Konsumenten auszuloten. Im Vordergrund stand damit dessen Bemühen, die "geheimen Wünsche" des Konsumenten sichtbar zu machen. Hellmann ortete hier aber nicht nur Dichters Anstrengungen, Hilfestellungen zur Bewältigung der Herausforderungen der Moderne zu geben. Er strich auch heraus, dass es gerade Dichters Tätigkeit war, die zu den mit der Moderne verbundenen Unsicherheiten beitrug. Wolfgang K. A. Disch (Hamburg) beleuchtete Dichters Betätigung in Deutschland als "Botschafter Neuen Denkens". Sein Hauptverdienst ortete er vor allem darin, Marketing-Fachleute dazu angeregt zu haben, sich dem Teufelskreis eingefahrener Denkstrukturen zu entziehen. Hingegen unternahm Dirk Schindelbeck (Freiburg im Breisgau) mittels einer Diskursanalyse in deutschen Fachzeitschriften den Versuch, Dichter mit den Augen seiner Gegner darzustellen. Er zeigte des weiteren anhand der Analyse einer Motivstudie Dichters auf, inwieweit Kritik an dessen Vorgehensweise wohl gerechtfertigt war. Fazit: Dichters Handeln war durchaus von ethischen Prinzipien geprägt und entsprach nicht unbedingt den in der Manipulationsdebatte generierten Vorstellungen.

Mit Dichters Wirken auf der "europäischen Bühne" setzten sich darüber hinaus Andrea Morawetz (Wien), Adam Arvidsson (Kopenhagen) und Stefan Schwarzkopf (London) auseinander. Während Andrea Morawetz einen Überblick über Dichters Tätigkeit in Österreich nach 1945 gab, behandelten Arvidsson und Schwarzkopf die Rezeption Dichters in Italien und Großbritannien. Arvidsson legte anhand der Person Francesco Alberonis die mit Dichters Ansätzen verbundenen Hoffnungen zur Modernisierung gesellschaftlicher Strukturen im Italien der fünfziger Jahre dar. Stefan Schwarzkopf behandelte beginnend mit den 1950er bis hin zu den 1970er Jahren Dichters Rezeption in Großbritannien. Er argumentierte, dass Dichters Motivforschung in Europa durchaus auch im Wettstreit mit anderen Ideen und theoretischen Schulen stand. Letztendlich sollte jedoch auch in Großbritannien eine auf die dortigen Verhältnisse adaptierte Version der Ansätze Dichters zu einer Modernisierung der britischen Marktforschung beitragen.

Im letzten Panel gewährten Helene Karmasin (Wien), Katherine Parkin (Long Branch, New Jersey) und Gerd Prechtl (Wien) Einblicke in das Lebenswerk des Motivforschers. Karmasin widmete sich in ihrem Beitrag Dichters Studien zum Thema Automobil, um dessen Pionierrolle bei der Benennung und Beschreibung der symbolischen und kommunikativen Funktionen des Autos herauszustreichen. Mit Dichters Einfluss auf die amerikanische Konsumkultur setzte sich Katherine Parkin auseinander. Dabei behandelte sie Dichters Anstrengungen, die Werber der fünfziger Jahre dazu zu ermutigen, die Betonung des spezifisch Männlichen und Weiblichen in der Werbung für Nahrungsmittel stärker herauszustreichen. Damit nahm Dichter eine Ausnahmestellung unter den Beratern ein, die, so argumentierte Parkin, nur aufgrund seiner europäischen Sozialisation akzeptiert worden war. Gerd Prechtl hatte es sich hingegen zur Aufgabe gemacht, das Leben Dichters unter politischen Vorzeichen zu betrachten. Dabei strich er die Forderung Dichters heraus, wie im Bereich des Marketing auch hier auf die Bedürfnisse der Wähler einzugehen. Abgerundet wurde diese Veranstaltung zusätzlich von persönlichen Erinnerungen der Witwe Ernest Dichters an den Motivforscher.

Fazit: Dichter revisited? - "Why not?"

Zwei zentrale Leitfragen kehrten in den Beiträgen und Diskussionen der Dichter-Tagung beständig wieder: So die Frage nach den Bedingungen und Möglichkeiten für Dichters ökonomische und publizistische Erfolge in den fünfziger und sechziger Jahren. Dabei stand der jeweilige Anteil seiner Person sowie der kulturellen, ökonomischen und sozialen Rahmenbedingungen im Mittelpunkt des Interesses. Andererseits beschäftigten sich die Referenten mit der Fragestellung, wie Dichter angesichts der nach heutigen Maßstäben mangelnden Wissenschaftlichkeit (z.B. zu kleine Samples) dennoch derart erfolgreich sein konnte. Dem wurde jedoch erklärend Dichters feines Gespür für gesellschaftliche Entwicklungen und kulturelle Bedürfnisse gegenübergestellt. Einigkeit herrschte unter den Beitragenden vor allem aber darin, als weiteren folgerichtigen Schritt die Theorie Dichters, die seinen Werken zwar implizit zugrunde liegt, aber nie ausdrücklich formuliert wurde, herauszuarbeiten.

Die Tagung sollte auch dazu dienen, eine internationale Perspektive in die Auseinandersetzung mit Dichter einzubringen. Damit wurde ein erster Schritt gesetzt, die Rezeption Dichters und damit verbundene Auswirkungen in den nahezu dreißig Ländern seines Wirkens zu erforschen. Zu den grundlegenden Fragestellungen zählte beispielsweise, auf welche Weise europäische und amerikanische Einflüsse und Elemente in Dichters Denken und Fühlen verschmolzen: Wie wurde Dichter zum "Amerikaner" und wie konnte er mittels seiner europäischen Sozialisation Einfluss auf die amerikanische Gesellschaft nehmen? Mit diesem ersten länderübergreifenden Ansatz wurde zugleich auch der Eindruck vermittelt, dass das Werk Dichters als eine nutzbringende Quelle für eine europäische oder gar transatlantische Kulturgeschichte persuasiver Kommunikation dienen kann.

Bereits zur Tagung war ein Themenheft der Zeitschrift "medien & zeit" unter dem Titel "Ernest Dichter - ,Vater' der Motivforschung" erschienen. 6 Pünktlich zu Ernest Dichters einhundertstem Geburtstag im August 2007 sollen die Ergebnisse des Symposiums zudem in Buchform verfügbar sein. Rainer Gries und Stefan Schwarzkopf planen je eine Publikation in englischer und deutscher Sprache, mit denen an den internationalen Charakter der Tagung angeknüpft werden soll. Insgesamt hat das Symposium aufgezeigt, wie ertragreich die Beschäftigung mit Ernest Dichter für eine Vielzahl von Disziplinen, aber auch die Praxis des Marketings, noch immer sein kann. Der Frage, warum man sich denn mit Person, Werk und Wirken des teils bereits in Vergessenheit geratenen Motivforschers auseinander setzen sollte, stellten die Referenten im Sinne Dichters somit einhellig die Aussage entgegen:

"Why not?"

Anmerkungen:
1 Die Durchführung der Tagung war durch die Kooperation mit dem Arbeitskreis für historische Kommunikationsforschung (AHK) und den Verband der Marktforscher Österreichs (VMÖ) ermöglicht worden. Eine finanzielle Förderung des Projektes erfolgte durch die Wissenschaftliche Gesellschaft zur Förderung und Weiterentwicklung empirischer Kommunikationsforschung (Fritz Karmasin-Stiftung), die Karmasin.Motivforschung sowie die Wissenschafts- und Forschungsförderung der Stadt Wien (MA 7). Siehe auch die Homepage dieser Veranstaltung: <http://www.ernest-dichter.info> (03.02.2006).
2 Packard, Vance, Die geheimen Verführer. Der Griff nach dem Unbewußten in jedermann, Frankfurt am Main 1957.
3 Als Quellen dienten zahlreichen Vortragenden kommerzielle Motivstudien aus dem Nachlass Dichters, der in den Räumlichkeiten des Instituts für Publizistik- und Kommunikationswissenschaft aufbewahrt wird. Dieser umfasst rund dreitausend Studien.
4 Dichter, Ernest, Motivating human behavior, New York 1971.
5 Ders.: Motivforschung - mein Leben. Die Autobiographie eines kreativ Unzufriedenen, Frankfurt am Main 1977.
6 Arbeitskreis für historische Kommunikationsforschung (Hg.), medien & zeit. Kommunikation in Vergangenheit und Gegenwart, 20 (2005), 4.


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