Gender and Memory: Documenting, Recording, Transmitting

Gender and Memory: Documenting, Recording, Transmitting

Organisatoren
Women on Ireland Research Network (WOIRN); Centre for Women's Studies at the University College Limerick
Ort
Limerick, Irland
Land
Ireland
Vom - Bis
08.06.2005 - 09.06.2005
Url der Konferenzwebsite
Von
Inga Brandes, SFB 600 „Fremdheit und Armut“, Universität Trier

Die dritte internationale und interdisziplinäre Konferenz des "Women on Ireland Research Network" 1 fand am Zentrum für Frauenstudien der Universität Limerick statt und wurde von Dr. Yvonne McKenna (Centre for Women's Studies, University of Limerick) und Dr. Maria Power (Institute of Irish Studies, University of Liverpool) federführend organisiert. Die wissenschaftliche Relevanz und Aktualität des Themas "Gender and Memory" 2 brachte mehr als 40 Soziologinnen, Historikerinnen, Anthropologinnen und Literaturwissenschaftlerinnen aus Irland (Nord und Süd), England, Schottland, Deutschland, Kanada und den USA zusammen.

In sozial- und kulturwissenschaftlichen Debatten über die Interdependenzen zwischen verschiedenen Erinnerungskulturen, den sozialen Gedächtnissen bestimmter Gruppen und Milieus sowie den Lebenserfahrungen und Lebenserzählungen von Individuen ist die Frage nach der Kategorie Geschlecht bislang nur sehr am Rande thematisiert worden. Das Desiderat umfasst theoretische und methodische Fragen ebenso wie die Dokumentation, Archivierung, Zugänglichkeit und Auswertung weiblicher Lebensgeschichte(n).

Die spärliche deutschsprachige Forschung zu Geschlecht und Gedächtnis bezieht sich entweder auf Gewalterfahrungen in Kriegen oder auf die Lebensgeschichten von Überlebenden der Shoah. Inwieweit Erfahrungen, Erinnerungen und Erzählungen geschlechtsspezifische Inhalte und Formen besitzen ist bisher kaum empirisch untersucht worden. Im irischen Kontext hingegen wird Erinnerungskultur hauptsächlich auf die Spaltung der Nation in Nord und Süd bezogen und die damit einhergehenden symbolischen und realen Kämpfe um die Legitimität der Geschichtsdeutung. Kollektive Erinnerungsrituale wie Oraniermärsche in Nordirland und der St. Patricks' Day in der irischen Republik werden auch von Wissenschaftlern überwiegend entlang der Achse Katholizismus/Protestantismus oder Nationalismus/Unionismus verstanden und interpretiert. Sich von dieser vereinfachenden Dichotomie des dominanten Diskurses zu verabschieden, um komplexere Geschichten erzählen zu können, ist das Anliegen vieler irischer Soziologinnen und Historikerinnen. Prominente Plenumssprecherinnen wie Myrtle Hill, Eilish Rooney oder Breda Gray bestanden denn auch darauf, dass die feministische Perspektive hervorragend geeignet sei, auf die Erweiterung und Pluralisierung des irischen kollektiven kulturellen Gedächtnisses hinzuwirken. Dementsprechend bestand ein zentrales Anliegen der Veranstalterinnen darin, die Kombination von Gender- und Gedächtnisforschung methodisch, theoretisch und praktisch auf seine Tragfähigkeit zu überprüfen und im interdisziplinären Gespräch neue Forschungsfragen aufzuwerfen.

In der Sektion "Autobiography" plädierten drei Historikerinnen anhand verschiedenartiger Egodokumente für kulturwissenschaftlich erweiterte Methoden der Verwendung autobiographischer Texte. Der Zusammenhang zwischen kommunikativem Zweck eines Textes und seiner narrativen Form müsse in die Quellenkritik eingehen sowie verschiedene Selbstzeugnisse vergleichend betrachtet werden. Aoife Bhreatnach (NUI Maynooth) zeigte, dass die Memoiren von irischen Juristen, Verwaltungsbeamten und Politikern zwischen 1890 und 1930 sich hauptsächlich mit der beruflichen Karriere ihrer Verfasser beschäftigten. Sie vertrat die These, dass die narrative Form der Anekdote ein zentrales Element in der Erzählung der "professional lives" darstelle, und dazu diente, die Klassenunterschiede zu Bauern und Landarbeitern stilistisch zu markieren. Von den ausschließlich männlichen Autoren wurde die als weiblich gedachte Sphäre des Haushalts, des Privatlebens und der sozialen Beziehungen komplett ausgeblendet. Inga Brandes (Universität Trier), die sich mit Repräsentationen von Armut zwischen 1890 und 1930 befasste, konnte diesen Befund nicht bestätigen. In Egodokumenten, die vorwiegend aus den ländlichen Unterschichten in Irlands Nordwesten stammten, wurden sowohl weibliche als auch männliche Lebenswelten beschrieben. Am Beispiel der narrativen Bearbeitung von körperlichen Schmerzen bei der Feldarbeit zeigte sie, dass die Kindheitserinnerungen eher geschlechtsunspezifisch von der Erfahrung der Familie, der Nachbarschaft und des Dorfes geprägt waren. Allerdings markieren in diesen Texten Heirat oder Mutterschaft eine tiefe Zäsur, die die geschlechtliche Dichotomisierung der Lebenswelt nach diesem Zeitpunkt erzählerisch reflektieren. Ann Matthews (NUI Maynooth) wandte sich den "Military Bureau Statements" zu, die erst im Jahre 2005 freigegeben wurden und hunderte von Selbstzeugnissen umfassen. Es handelt sich um Erklärungen, die in den 1940er Jahren von republikanischen Männern und Frauen abgegeben wurden, um ihre Teilnahme am Unabhängigkeitskrieg auf Seiten der IRA zu dokumentieren. Matthews erste Analyse der Dokumente ergab, dass neben dem inhaltlichen Neuigkeitswert der Aussagen auch in diesem Fall der kommunikative Zweck der Äußerungen in die Auswertung miteinbezogen werden muss, um die Struktur der Texte zu entschlüsseln. So lässt sich in ihnen etwa kein Gefühl für die Chronologie von Ereignissen erkennen, was für die ereignisgeschichtliche Grundlagenforschung zum irischen Bürgerkrieg zunächst einmal ein enttäuschender Befund ist. Ursächlich für die narrative Form war, dass die Statements aufgenommen wurden, um einen Anspruch auf eine Pension geltend zu machen und nicht etwa um eine möglichst genaue Rekonstruktion von Ereignissen zum Zwecke der Verurteilung zu betreiben.

Im Plenum ging es anhand des Nordirlandkonflikts anschließend um "History and Engagement". Die beiden friedensbewegten Wissenschaftlerinnen Myrtle Hill (Queens University Belfast) und Eilish Rooney (University of Ulster) skizzierten, wie der Friedensprozess durch den dominanten Erinnerungsdiskurs entlang der Achse Unionismus/Nationalismus immer wieder ins Stocken kommt, weil das Gedächtnis auf individueller, kommunaler und nationaler Ebene beständig Loyalitäten erschaffe, die es verhindern, partei- und milieuübergreifend miteinander ins Gespräch zu kommen. Widerstreitende Geschichtsbilder sowie Erinnerungen an Morde und Blutvergießen bei allen Beteiligten machen die nordirische Wirklichkeit komplex und schwierig. Die Legitimität von Erfahrungen ist in Nordirland heiß umkämpft, und die Geschichte wird auf beiden Seiten immer wieder zu einem Argument, das direkt für politische Forderungen instrumentalisiert wird. Hill und Rooney kritisierten die doppelte Vernachlässigung der Kategorie Geschlecht bei der Analyse von Konfliktursachen und der Entwicklung von Lösungsstrategien. Zum einen fehlten die Erfahrungen und Lebensrealitäten von nordirischen Frauen in den offiziellen Geschichten. Zum anderen sei der Maskulinismus, Militarismus und Paternalismus, der den traditionellen Nationalismus bestimme, bisher kaum Gegenstand von Analysen geworden. Auch verhindere der dominante historische Diskurs die Einbeziehung von anderen Analysekategorien wie Hautfarbe, Alter oder Klasse. Um eine vielstimmigere und damit komplexere Geschichte erzählen zu können, forderten die Referentinnen dementsprechend einen methodischen Ansatz ein, der verschiedene Quellengattungen berücksichtigt, Diskurse und Praktiken gruppenübergreifend in ihrer Wechselwirkung thematisiert und gründlich reflektiert, wie die Wissenschaftlerinnen ihren Gegenstand konstruieren. Anhand einer aktuellen Radiokollage der BBC Northern Ireland, in der Texte, die von Gewalterfahrungen handelten, losgelöst von ihren sozialen Kontexten gleichsam von anonymen Sprecherstimmen gesprochen wurden, warnten Hill und Rooney davor, Erinnerungen von konkreten Personen abzukoppeln, da die Dekontextualisierung und Entpolitisierung von Zeugenaussagen die Gefahr bergen, dass die Verantwortung für Gewalttaten und Mord nicht mehr zugewiesen werden kann. Klassisch feministisch und als betroffene Akademikerinnen, die im heutigen Nordirland leben, bekannten Hill und Rooney sich dazu, dass sich für sie der Wert eines neuen theoretischen Ansatzes daran misst, welches Potenzial er aufweist, auf die Gegenwart positiv zu wirken. Beide Referentinnen waren sich einig, dass es in Nordirland keinen neutralen Standpunkt geben könne und sie plädierten eindringlich für systematische Vergleiche mit Israel/Palästina und anderen Konfliktherden in der Welt, um mehr Kenntnisse über ähnlich gelagerte Konfliktdynamiken zu gewinnen.

In der Sektion "Oral Histories" ging es um grundlegende theoretische und methodische Fragen bei der Erhebung von qualitativem Datenmaterial: die Entwicklung eines Fragebogens, das Suchen und Auswählen von Interviewpartnerinnen, die Beeinflussung der Befragten durch die Interviewende oder Probleme bei der Transkription. Alle Referentinnen hatten zwischen 20 und 50 Interviews geführt. Die Interviewpartnerinnen waren überwiegend Frauen.
Liz Kiely (University College Cork) stellte die Ergebnisse eines Forschungsprojekts der Universität Cork vor, in dem es um die Frage geht, wie arbeitende Frauen aus Cork, Limerick und Kerry ihren Umgang mit dem zwischen 1930 und 1960 kulturell dominanten Frauenideal erinnerten, das sie diskursiv auf die Rolle von Ehefrauen und Müttern beschränkte.3 Die Mehrzahl der Frauen waren sich der damaligen Geschlechterstereotype bewusst und schilderten ihre Strategien, die dadurch entstandenen gesellschaftlichen Zwänge zu unterlaufen. Für andere wiederum war das Frauenbild jener Jahre eines, mit dem sie sich weitgehend identifizieren konnten, obwohl sie selbst nach ihrer Heirat weitergearbeitet hatten. In der Erzählung der Frauen wurde das allerdings nicht als Widerspruch thematisiert. Kiely nahm die Aussagen insgesamt als Beleg für die These, dass den Frauen ein größerer individueller Handlungsspielraum zugeschrieben werden muss als bisher vermutet. Die historische Frauenforschung hat die 1930er bis 1950er Jahre bislang gern als eine Art bleierne Zeit beschrieben, in der die moralischen Ge- und Verbote der katholischen Kirche alle Bereiche des öffentlichen Lebens dominierten, so dass Frauen kaum Bewegungsfreiheit hatten. Kielys Befund wurde durch die Schilderungen Mary Muldowneys (Trinity College Dublin) untermauert, die ihre reibungslos verlaufenen Interviews mit Frauen aus Dublin und Belfast, die während des Zweiten Weltkrieges berufstätig waren, detailreich erläuterte. Catherine O'Connor (University College Limerick) setzt sich mit den Lebenserfahrungen von protestantischen Frauen in einer ländlichen Gemeinde County Wexfords nach der irischen Unabhängigkeit auseinander. Im Gegensatz zur Vorrednerin hob O'Connor die Probleme hervor, die ihre Position als Soziologin und als Fremde erzeugten. Nicht alle von ihr gestellten Fragen wurden zur Zufriedenheit beantwortet, manche Antworten erwiesen sich im Nachhinein als "verabredet" oder die Anwesenheit von Ehemännern verhinderte überhaupt, dass neuralgische Punkte des Privatlebens angesprochen werden konnten. Hinzu kam, dass einige Frauen wohl noch nie über die Themen Wohnen, Familie, Arbeit und Bildung nachgedacht hatten. Die Referentin betonte, dass bei diesen Frauen überraschenderweise ein Opferdiskurs fehlte, obwohl Geschlechtergrenzen beständig zu Lasten der Frauen überschritten worden waren. Ihre Erklärung lautete, dass die Frauen ihren informellen Einfluss auf Gemeindeentscheidungen subjektiv sehr hoch einschätzten, obwohl sie beispielsweise in kirchlichen Gremien nicht vertreten waren. Marie Hammond Callaghan (Mount Allison University) verglich in ihrem Vortrag die Aktivitäten von friedensbewegten Frauen in Nordirland und Québec zwischen 1970 und 1972. Dass die verbreitete Annahme, Frauen wären in einem gesellschaftlichen Krisenmoment, das diskursiv als männlich und militarisiert konstruiert wurde, nur passive Statistinnen gewesen, nicht haltbar ist, konnte die Referentin für beide Fälle überzeugend nachweisen.

Die Sektion "Gender and Migration" zielte darauf ab, anhand von Interviews Wechselwirkungen zwischen Migrationserfahrungen und der Entwicklung des sozialen Geschlechts soziologisch zu beschreiben und zu analysieren. Infolge von nahezu zwei Jahrhunderten irischer Massenauswanderung stellt die Migration mit ihren politischen, ökonomischen, kulturellen Ursachen und Begleiterscheinungen eine Erfahrung dar, die sowohl in individuellen Lebenserzählungen von Iren wie auch in gesellschaftlichen Erinnerungsdiskursen nachhaltig präsent ist. Aus historischer Perspektive ist besonders spannend zu beobachten, wie sich das Bild Irlands in den letzten Jahrzehnten gewandelt hat. Galt es in den 1950er Jahren noch als ein großer Erfolg, das rückständige Irland mit seinem restriktiven gesellschaftlichen Klima verlassen zu können, so wird die irische Republik seit den frühen 1980er Jahren als "safe haven" imaginiert, in dem man vor den Fährnissen des modernen westlichen Lebens geschützt sei. Dazu wurde aus dem Auditorium kritisch angemerkt, dass die Konstruktion Irlands als eines "premodern Other", in dem nur Familie und (Dorf-)Gemeinschaft zählten, zwar ein weltweit verbreiteter Mythos sei, der dadurch aber nicht richtiger werde. Johanne Devlin Trew (Queens University Belfast) fragte nach Migrationserfahrungen nordirischer Protestanten, die im Ausland gelebt hatten und zwischen 2000 und 2005 nach Irland (Nord und Süd) zurückgekehrt waren. Befragt wurden sowohl Männer als auch Frauen mit dem Ziel, die These zu belegen, dass ein zentrales Thema lebensgeschichtlicher Narrationen von Migration und Rückkehr die Ausbildung männlicher und weiblicher Identität darstellt. Devlin Trew machte deutlich, dass psychische Probleme wie das posttraumatische Stresssymptom von den Befragten fast ausschließlich als weibliches Problem wahrgenommen wurde. Im dominanten nordirischen Erinnerungsdiskurs sind Opfer nach wie vor weiblich kodiert und Helden männlich. Devlin Trews Forschungen zeigten außerdem, dass es den Befragten nicht gelungen war, die "konfessionelle Polarisierung, die Gefühle der Ohnmacht und des Opferseins oder das kollektive Beschweigen von schmerzhaften Erfahrungen" in Nordirland zurückzulassen. Ihre Fallstudie demonstrierte, in welch' hohem Maße individuelle Erzählungen und Erinnerungen von nordirischen Migranten in den kulturellen und politischen Horizont der Herkunftsgesellschaft eingebunden bleiben. Außerdem wurde Nordirland, ganz im Gegensatz zum Süden, in der Erinnerung als unsicherer Ort konstruiert. Yvonne McKenna (University College Limerick/ University of London) fragte danach, wie sich Ordensschwestern beschrieben, die in den letzten Jahren aus England nach Irland zurückgekehrt waren. Zum einen wurde die Rückkehr positiv als "Heimkommen" beschrieben, zum anderen nahmen die Frauen wahr, dass ihrer Lebensweise als "women religious" mit Unverständnis oder Ablehnung begegnet wurde. Einige verbargen ihren Status sogar bewußt, um den vielfältigen mit diesem Status verbundenen Restriktionen in Irland zu entgehen. Bronwen Walter (Anglia Ruskin University) stellte ihr neues Forschungsprojekt vor, das Muster sozialer Identitäten von Kindern irischer Einwanderer ("second-generation Irish") in England untersucht. Ihr Material besteht aus Autobiographien, Romanen und aus qualitativen Daten, die sie in gemischten Gruppeninterviews gewonnen hat. Bisher fällt auf, dass die jährlichen Sommerferien in Irland in den Kindheitserinnerungen eine zentrale Rolle spielen. Die Ähnlichkeiten zwischen den verschiedenen Gruppen von Frauen und Männern, Katholiken und Protestanten waren dabei größer als die Unterschiede. Spannend ist aus historischer Perspektive, dass sich zeitliche Differenzierungen aus dem Material vornehmen lassen. In der Tendenz war insbesondere die Alterskohorte der in den 1950er und 1960er Jahren Urlaub machenden Kinder besonders von den extrem strengen Geschlechterrollen der irischen Gesellschaft geprägt worden. Deutlich wurde auch hier, dass das Bild Irlands als "sicherer Hafen" eine starke Kontinuität besitzt.

Der zweite Konferenztag begann mit der Sektion "Motherhood". Die drei vortragenden Soziologinnen hatten Interviews mit jeweils etwa 20 Frauen durchgeführt. Dieses Material erlaubte es ihnen, die Frage nach der Kinderbetreuung, der Erwerbstätigkeit und den sozialen Anforderungen, die an Mutterschaft gestellt werden, zu bearbeiten. Patricia Kennedy (University College Dublin) argumentierte, dass Mutterschaft eine Institution darstelle, die Frauen von gesellschaftlicher Teilhabe in unterschiedlicher Weise isoliere. Dies traf für Frauen in prekären Arbeitssituationen stärker zu als für besser situierte. Louise Ryan (Middlesex University) präzisierte diesen Befund anhand der von ihr untersuchten Gruppe irischer Nachtschwestern. Transnationale und lokale Netzwerke waren besonders wichtig für die jungen, nicht arbeitenden Mütter unter ihnen, die nach der Heirat ihre Freundesbeziehungen und Freizeitaktivitäten aufgegeben hatten und anschließend oftmals eine Phase der sozialen Entwurzelung und Isolation durchlebten. Hilfe bei der Kinderbetreuung, finanzielle Unterstützung und Informationen über Arbeitsmöglichkeiten - all dies leisteten lokale Bekanntschaften und Freunde. Bei der Bewältigung von extremen Krisensituationen scheint jedoch die eigene Familie eine unersetzliche Ressource darzustellen. Über die Aushandlung von nationaler Identität innerhalb irischer Familien in Schottland heutzutage sprach Avril Tobin (University of Edinburgh). Dabei interessierten sie besonders die Pfade der Integration von irischen Migranten in Schottland. Für die Elterngeneration hat sich die Positionierung der Familie zwischen irisch-katholischer Identität und schottischem Nationalismus bisher als ein schwieriger Spagat erwiesen, weil sie mit Fragen der Staatsangehörigkeit und Schulbildung verknüpft ist.

Im zweiten Plenum "gender und memory" gelang es der irischen Soziologin Breda Gray (University of Limerick) bereits zur Sprache gekommene Einzelaspekte zu bündeln und zu systematisieren. Ihr Plädoyer für ein selbstbewusstes Auftreten feministischer Wissenschaftlerinnen verdient besonders hervorgehoben zu werden. Nach einer kritischen Überprüfung des zur Verfügung stehenden Begriffsinstrumentariums, betonte Gray, dass feministisch orientierte Wissenschaft hier einen wichtigen Beitrag zu leisten habe, um Geschlechter- und Gedächtnisforschung Gewinn bringend zu kombinieren und theoretisch, methodisch sowie thematisch zu erweitern. Einerseits enthalte das kulturelle Gedächtnis Konstruktionen von Weiblichkeit, die Frauen bestimmte Rollen zuweisen, indem sie gesellschaftliche Erwartungen an den weiblichen Lebenslauf wecken. So würden wiederum die Grenzen dessen konstituiert, was als spezifisch weibliche Lebenserfahrung legitimerweise ins kulturelle Gedächtnis der Gesellschaften eingehen darf. Diese Weiblichkeitskonstruktionen müssten immer wieder dekonstruiert und auf ihre patriarchalen Beherrschungspotenziale hin befragt werden. Eine zweite Aufgabe feministischer Wissenschaft sei es, weibliche Lebensgeschichten, Stimmen und Erinnerungen aufzuzeichnen und zu archivieren, damit sie nicht vergessen oder übergangen werden. Ihrem Eindruck nach seien es insbesondere die transnationalen und mobilen Zugehörigkeiten, denen es im "weiblichen kulturellen Gedächtnis" nachzuspüren gilt. Damit werde zur Vielstimmigkeit des irischen kulturellen Gedächtnisses weiter beigetragen. Im Einklang mit anderen Konferenzteilnehmerinnen bestand Gray darauf, dass Erfahrung und soziale Wirklichkeit sich nicht in einem wie auch immer gearteten Diskursuniversum verlieren sollten.

Mit "Ireland Imagined / Ireland Remembered" wurden in der letzten Sektion die zeitlich und räumlich diversen Elemente des Irlandbildes thematisiert. Peggy Lynch-Brennan (New York State Education Department) wies nach, dass die vorherrschende Interpretation der Ursachen weiblicher Emigration aus Irland zwischen 1850 und 1930 empirischen Untersuchungen an US-amerikanischem Material nicht stand hält. Anstatt, wie von der Migrationshistoriographie gerne behauptet, vom ländlichen Leben angeödet und gelangweilt gewesen zu sein, hatten viele Frauen das ausgeprägte Sozialleben in irischen Dörfern mit seinen Nachbarschaftsverbindungen, Märkten, Hochzeiten und kollektiven Arbeitsrhythmen positiv in Erinnerung. In ihren Erzählungen sei Religion nicht ohne weiteres mit Repression gleichzusetzen. Lynch-Brennan forderte energisch eine ausgewogenere Sichtweise des ländlichen Irland in der post-famine-Zeit ein, die den soziokulturellen Kontext des ländlichen Irland stärker berücksichtige, die stärker den Vergleich mit andern europäischen "peasant societies" einbeziehe und auch Klassenunterschiede in der Analyse zu berücksichtigen hätte. Die Anthropologin Brigittine French (Grinnell College) kontrastierte zwei historische Kontexte kollektiver Bestimmung von "Irishness" in einer ländlichen Gemeinde im mittleren Westen der USA, um Bedeutungsverschiebungen aufzuzeigen. Während es zwischen 1850 und 1870 ein kollektives politisches Engagement für die Unabhängigkeit Irlands von Großbritannien gab und die Gemeinde im Wesentlichen aus Feniern 4 bestand, wurde durch den Bürgerkrieg eine amerikanische Identität aller Einwohner, darunter auch weiteren europäischen Migrantengruppen befördert. In den letzten 20 Jahren des 20. Jahrhundert hingegen ist anhand von neu etablierten St. Patricks' Day Festivitäten eher eine Kultur der "ethnischen Differenz" von Einzelnen zu beobachten. Ein Bewusstsein gemeinsamer politischer Ziele gibt es nicht mehr. Erklärungen für diese Veränderungen beschränkte French allein auf den Wandel der US-Gesellschaft und ließ etwa die Tatsache außer Acht, dass Irland seit 1921 politisch unabhängig ist. Das Leben und Werk von zwei literarisch produktiven aber bislang wenig beachteten Schriftstellerinnen Irlands in das öffentliche Bewusstsein zurückzuholen war das Ziel der letzten beiden Vorträge dieser Sektion. Tony Jordan (NUI, Maynooth) schilderte die politisch-literarischen Aktivitäten der Journalistin und Schriftstellerin Eithne Carberry (1866-1902), während Joanna S. Wydenbach (Queens University Belfast) ein unpubliziertes Tagebuch (1914-1925) der Romanschriftstellerin Emily Ussher in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen stellte.

Obwohl einige inhaltliche Fragen offen bleiben mußten, etwa die nach den Ursachen für das gewandelte Irlandbild seit den 1980er Jahren oder die nach der Funktion von jährlichen Sommerferien in Irland für die Sozialisation von Emigrantenkindern, kann das Ziel der Veranstaltung als erreicht betrachtet werden: Ein fruchtbares interdisziplinäres Gespräch kam in Gang, wodurch sich neue Forschungsperspektiven eröffneten. Die Grundsatzfragen, die in fast allen Vorträgen und anschließenden Diskussionen aufgegriffen wurden, lassen sich drei Problemkomplexen zuordnen, in denen es noch sehr viel Forschungs- und Diskussionsbedarf gibt.

1) Erhebung, Dokumentation und Erschließung von weiblichen Lebensgeschichten

Auf der Ebene der individuellen Akteure steht zunächst die Notwendigkeit des Sammelns von Quellen jeglicher Provenienz im Vordergrund, deren Auswertung allerdings angeleitet und gefördert werden muss.5 Handelt es sich um die Auswertung von Egodokumenten, so ist eine sorgfältige und systematische Klassifikation der vielfältigen sozialen, kulturellen, ökonomischen, politischen oder geschlechtsspezifischen Kontexte ein methodisches Muss: Autobiographische Texte von politisch aktiven Frauen wurden etwa oft dem Status ihres Vaters oder Ehemanns entsprechend rezipiert. Aus feministischer Perspektive ist insbesondere das Führen von Interviews mit Frauen notwendig, um "weibliches Gedächtnis" zu bewahren. Insbesondere die Arbeitswelt und die politische Partizipation von Frauen beispielsweise in der IRA oder im nordirischen Friedensprozess sind kaum erforscht. Grundsätzlich ist es schwierig, Frauen zu finden, die bereit sind über ihre Erfahrungen und Wahrnehmungen zu sprechen, was bereits ein Ergebnis der geschlechtsspezifischen Sozialisation darstellt: Frauen in Irland sind nie zu öffentlichem Sprechen ermutigt worden, haben also wenig Erfahrung damit und lehnen die feministische Formel "das Private ist politisch" häufig vehement ab. Außerdem ist es schwer, als wissenschaftliche "Außenseiterin" Zugang zu den Befragten zu finden und mit ihnen über Themen wie Gewalt in der Familie oder Familienplanung zu sprechen. Kritisch diskutiert wurde die Rolle der Interviewerin. Bronwen Walter und Breda Gray wiesen darauf hin, wie Lebenserfahrung und Erwartungen der Fragenden die emotionale Verfassung der Interviewten beeinflussen und sich auf die Form ihrer Narration auswirken. Bei Aufmerksamkeit für die Gesprächssituation sei oft zu beobachten, dass der "memory framework" der befragten Person sich sehr von den wissenschaftlichen Forschungsinteressen der Fragenden unterscheiden könnte. Manche Erfahrung sei auch so selten erzählt worden, dass die narrative Struktur noch sehr offen sei und eine besondere Gefahr bestehe, dass die Fragende die Erzähl-Form bestimme. Sie forderten, die gemeinsame Verfertigung der Lebensgeschichten von Interviewerin und Interviewter stärker theoretisch zu reflektieren und methodisch zu kontrollieren. Vorteilhaft sei die Methode der qualitativen Gruppendiskussion in gemischten Gruppen oder das Mehrgenerationengespräch innerhalb einer Familie.5

2) Gedächtnis zwischen individueller Erfahrung und kollektiver Erinnerung

Das zweite Problemfeld drehte sich um die Generalisierbarkeit von individueller Erfahrung und Erinnerung. Die meisten beteiligten Wissenschaftlerinnen fanden es wichtig, die subjektive Geschichte des Selbst, seiner Genese und die Formen seiner Beschreibung zu untersuchen aber auch themenbezogene Forschungsprojekte durchzuführen, in denen die Einbindung in soziale Institutionen und Kommunikationsräume wie Familie, Gemeinde, Nachbarschaft oder Nation zum Gegenstand der Betrachtung werden könne. Zu diesem Zwecke ist es methodisch geboten, traditionelle Unterscheidungen wie etwa die zwischen Schrifttexten und mündlichen Texten zu überwinden. Zwar gälte es, verschiedene Quellengattungen wie Interviews, Autobiographien, Regierungsberichte oder Statistiken auf ihre Erzählkonventionen hin zu untersuchen und die Mechanismen der Kohärenzerzeugung aufzudecken, doch sollten sie dann bezogen auf eine Fragestellung miteinander kombiniert werden.

3) Geschlecht und Gedächtnis

Sehr kontrovers wurde die Frage erörtert, in welchem Verhältnis Geschlecht, Erfahrung, Gedächtnis und Erinnerung theoretisch zueinander stehen. Angesprochen wurden dabei auch Fragen des interkulturellen Vergleichs von Erfahrungen und Erinnerungen. Es überrascht nicht, dass es in diesem Bereich die meisten offenen Fragen gab, von denen nur einige hier genannt werden sollen. Während für einige Wissenschaftlerinnen Frauenforschung darin bestand, Frauen zu befragen und Texte von Frauen zu dokumentieren, argumentierte die Mehrzahl dafür, die Geschlechterperspektive ernst zu nehmen und die Frage zu stellen, ob und wie Erfahrungen, Erinnerungen und Erzählungen geschlechtsspezifisch kodiert sind. Dazu muss Männlichkeit und das Verhältnis der Geschlechter zueinander in die Betrachtung einbezogen werden. Wie verändert beispielsweise Mutterschaft die Rollenverteilung innerhalb der Familie? Und wie erleben und sprechen Männer und Frauen über diese Veränderungen? Gibt es Bereiche menschlicher Erfahrung, in denen das Geschlecht überhaupt keine Rolle spielt? Weiterhin wurde dafür geworben das Geschlecht ins Verhältnis zu anderen Faktoren wie Alter, Klasse, Staatsangehörigkeit oder Religion zu setzen. Damit ging es auch um die gesamtgesellschaftliche Ebene, auf der eine Feminisierung von Erinnerungsdiskursen zu beobachten ist. Welche Rückwirkungen haben diese Diskurse wiederum auf individuelle Erinnerungen und welche Reichweiten besitzen Familiengedächtnisse, lokale oder nationale Gedächtnisse? An welchem Punkt kann man überhaupt anfangen, von Diskursen zu sprechen? Welchen realen sozialen Wandel erfordert es, um bestimmte gesellschaftliche Tabus und Rollenzwänge überhaupt ansprechen zu können? Diese Fragen konnten natürlich nicht umfassend beantwortet werden, aber einige Vorschläge dazu kann man demnächst nachlesen, denn ein Sammelband zum Thema der Tagung befindet sich in Vorbereitung.

Anmerkungen:
1 Die WOIRN-Liste freut sich stets über neue Mitglieder. Wer sich registrieren lassen will, schreibe eine e-mail an die folgende Adresse: <m.c.power@liv.ac.uk> mit WOIRN list in der Betreffzeile.
2 Da jeweils zwei Sektionen gleichzeitig stattfanden, können davon hier nur fünf sowie zwei Plenumsvorträge eingehender besprochen werden. Bei weitergehendem Interesse kann das vollständige Konferenzprogramm bei mir per e-mail als PDF-Datei angefordert werden.
3 Weitere Informationen zum "Women's Oral History Project" der Universität Cork unter <http://www.ucc.ie/wisp/ohp/> (01.02.2006).
4 Als Fenier werden verschiedene nationalistische Gruppen bezeichnet, die für die irische Unabhängigkeit von Großbritannien eintraten, sich in Geheimbünden organisierten, bereit waren, ihre Ziele mit Gewalt zu verfolgen und die in Irland, Großbritannien und Nordamerika operierten, wo sie in großen Immigrantengemeinden wie New York entstanden waren. Vgl. Art. Fenianism, in: Connolly, S.J. (Hg.), The Oxford Companion to Irish History. 1. Aufl., Oxford 1998.
5 Auf der Webpage des irischen Nationalarchivs ist die Datenbank der "Women's History Project" einsehbar unter <http://www.nationalarchives.ie/wh/introduction.html> (01.02.2006).