Musikkulturen zwischen Protest und Utopie. 1968: Musik und gesellschaftlicher Protest (II)

Musikkulturen zwischen Protest und Utopie. 1968: Musik und gesellschaftlicher Protest (II)

Organisatoren
PD Dr. Arnold Jacobshagen (Universität Bayreuth), Dr. Beate Kutschke (Universität der Künste Berlin) in Kooperation mit dem Interdisziplinären Forschungskolloquium Protestbewegungen (IFKP), dem Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth und der Katholischen Akademie Schwerte (Dr. des. Markus Leniger)
Ort
Schwerte
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.01.2006 - 15.01.2006
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Von
Sabine Ehrmann-Herfort, Istituto Storico Germanico, Rom

Vom 13. bis 15. Januar 2006 fand in der Katholischen Akademie Schwerte das Internationale Symposium „Musikkulturen zwischen Protest und Utopie“ statt, von der Akademie Schwerte veranstaltet in Kooperation mit dem Interdisziplinären Forschungskolloquium Protestbewegungen (IFK-Protestbewegungen) und dem Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth sowie unterstützt durch die Fritz Thyssen Stiftung. Organisiert und geleitet wurde die Tagung von Arnold Jacobshagen (Universität Bayreuth), Beate Kutschke (Universität der Künste Berlin) und Markus Leniger (Katholische Akademie Schwerte).

Das Symposium verstand sich als Fortsetzung der Tagung „1968: Musik und gesellschaftlicher Protest“, die im September vergangenen Jahres ebenfalls an der Katholischen Akademie in Schwerte stattgefunden hat. Ging es dort um ein Panorama zu Avantgardemusik, Musiktheater, Tanz und Hippiekultur in den 1968er-Jahren, so untersuchte das zweite Symposium die weitere Ausdifferenzierung der Protestbewegungen, wie sie sich insbesondere in den 1970er-Jahren ereignete. Während in einigen Disziplinen, beispielsweise in der Geschichtswissenschaft, längst grundlegende Forschungen zu den Protestjahren um 1968 existieren, zählt die musikwissenschaftliche Untersuchung dieses Zeitraums noch zu den Desiderata.

Dieser zweite Kongress war durch eine ungewöhnliche Vielfalt der zur Sprache gebrachten Untersuchungsgegenstände und -methoden gekennzeichnet. Die Referentinnen und Referenten kamen aus den verschiedensten Fachdisziplinen. Historiker, Kultur- und Medienwissenschaftler, Musik- und Sozialwissenschaftler, Germanisten und Psychologen aus verschiedenen Ländern berichteten über ihre Untersuchungen zu Phänomenen der 1968er Protestbewegungen. So international und interdisziplinär wie der Kreis der Teilnehmerinnen und Teilnehmer war auch die Auswahl der Themen, überreich das Spektrum der in den Vorträgen untersuchten Musik, das von der avantgardistischen Musik der 1968er-Jahre bis zu Rock- und Popmusik, Jazz, Blas- und Protestmusik reichte. Galt das erste Symposium vorrangig dem in der so genannten E-Musik artikulierten Protest, so standen jetzt primär die U-Musik und damit die populäre Kultur im Zentrum der Untersuchungen, wurden auch thematische Grenzgebiete wie der Film einbezogen.

Als ein wiederkehrendes Merkmal von Protestbewegungen, die mit utopischen Zielsetzungen im politischen wie im kulturellen Bereich die vorgefundene Realität zu verändern versuchen, erweist sich auch in der 1968er Zeit die Unvermeidbarkeit von Widersprüchen. Diese Einsicht, auf vielen Ebenen greifbar („links reden, rechts leben“; Kommerzialisierung von Protestkultur; wer sind die Rezipienten?) zog sich denn auch wie ein roter Faden durch Vorträge und Diskussionen des Symposiums. Thematisiert wurden Verschränkungen von politischem und kulturellem Protest: in den maoistischen K-Gruppen (Andreas Kühn, Düsseldorf), anhand der Geschichte einer linken Blaskapelle, die im Einsatz gegen Kernkraft funktionalisiert wird (Peter Schleuning, Oldenburg), am Beispiel des politischen Lieds, das „Liedermacher“ und „Protestsongs“ hervorbringt (Holger Böning, Bremen; Elena Müller, Berlin), in der Rockmusik (Stephanie Schmoliner, Flensburg) und im Free Jazz (Nina Polaschegg, Hamburg). Eindrucksvoll waren hierzu auch die Beschreibungen der Zeitzeugen, so Peter Schleunings aus unmittelbarer Nähe gegebene Schilderung der damaligen Freiburger Szene oder – als Kontrapunkt hierzu – Rainer Dollases (Bielefeld) mit persönlichen Erfahrungen durchsetzter Bericht, der mit statistischen Befunden für die 1968er Zeit eher die Kontinuität als den Umbruch belegte, den er „das Gekräusel auf den Wellen“ nannte.

Der Protest dieser Zeit manifestiert sich in einer (musikalischen) Widerstandskultur, die allerdings zugleich auch trefflich vermarktet wurde – eine der signifikanten Widersprüchlichkeiten der Epoche (dazu Sara Hakemi, Berlin; Ramon Reichert, Linz, zur Dekonstruktion des Images des Protestsängers bei Bob Dylan). Vielfach bedient sich der Widerstand, der eine Musik mit gesellschaftsverändernder Intention proklamiert, des Rückgriffs auf volksmusikalische Traditionen (Holger Böning; Daniel Koglin, Athen, für den griechischen Rebetiko), auf alte Musik (Kailan Rubinoff, Alberta/Canada), nutzt in den unterschiedlichen Frauenbewegungen geschlechtsspezifische Strategien (Monika Bloss, Berlin; Emmanuela Abadessa, Catania; Beate Kutschke, Berlin), schreibt zum wiederholten Male die viel strapazierte „Erneuerung“ auf seine Fahnen (Peter Hahnen, Düsseldorf; Daniela Philippi, Mainz, für die geistliche Musik) und wendet sich gegen im bürgerlichen Kulturbetrieb erstarrte Musikformen und Institutionen (Björn Heile, Brighton, am Beispiel Mauricio Kagels; Sabine Ehrmann-Herfort, Rom, zu Luciano Berio). Grundlegende Fragen nach Autonomie und Funktion von Musik, nach ihrer Wertung und Rezeption und nach den Wechselwirkungen zwischen Massenmusik und individueller Musikkultur bestimmten so die Diskussionen des Symposiums. Thematisch einführenden Charakter hatte der Vortrag von Gianmario Borio (Pavia), der ein vielgestaltiges Panorama des Avantgarde-Begriffs und seiner Manifestation in den Diskursen jener Zeit entwarf. Diesem auf Kommunikation und multimediale Komponenten fokussierten Überblick stellte Christophe Pirenne (Liège) seine Untersuchung zur Ausdifferenzierung der Stile in der Rockmusik an die Seite.

Die „langen“ 1968er Jahre, die sich in ihrer Wirkungsmacht keinesfalls auf die magische Jahreszahl 1968 eingrenzen lassen, haben vieles angestoßen, was bei näherer Betrachtung bis heute nachwirkt. So lädt die Frage der Relevanz jenes Protests für unseren heutigen kulturellen Kontext zu weiterem Nachdenken ein.


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Deutsch
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