450 Jahre Augsburger Religionsfrieden. Reformation und Luthertum im Ostseeraum im 16. und 17. Jahrhundert. Territorien und Konfession 1500-1721

450 Jahre Augsburger Religionsfrieden. Reformation und Luthertum im Ostseeraum im 16. und 17. Jahrhundert. Territorien und Konfession 1500-1721

Organisatoren
Lehrstuhl für pommersche Geschichte und Landeskunde, Universität Greifswald; Lehrstuhl für Neuere Geschichte, Universität Tübingen; Arbeitsgemeinschaft für pommersche Kirchengeschichte
Ort
Greifswald
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.12.2005 - 09.12.2005
Url der Konferenzwebsite
Von
Daniel Stancke, Paris

450 Jahre Augsburger Religionsfrieden. Reformation und Luthertum im 16. und 17. Jahrhundert. Diese thematische, räumliche und zeitliche Eingrenzung bildete den Rahmen der am 8. und 9. Dezember 2005 in Greifswald vom hiesigen Lehrstuhl für pommersche Landesgeschichte (Prof. Dr. Werner Buchholz) in Zusammenarbeit mit dem Lehrstuhl für Neuere Geschichte der Universität Tübingen (Prof. Dr. Anton Schindling) und der Arbeitsgemeinschaft für pommersche Kirchengeschichte (Kirchenrat Dr. Norbert Buske) durchgeführten interdisziplinären Tagung zur Geschichte von Reformation- und Konfessionalisierung im Ostseeraum unter besonderer Berücksichtigung des Baltikums und Pommerns. Beteiligt waren lettische, estnische und deutsche Literaturhistoriker, Historiker, Kunsthistoriker, Theologen und Sprachwissenschaftler von den Universitäten bzw. Kunstakademien in Reval/Tallinn, Riga, Uppsala, Tübingen, Osnabrück und Greifswald.

Die Tagung stand im Zusammenhang mit einer bereits im Jahre 2004 durchgeführten Konferenz, bei der die politischen und wirtschaftlichen Strukturen Estlands, Livlands, Ingermanlands, Lettgallens und Kurlands im großen und ganzen das Gebiet der heutigen Staaten Estland und Lettland vom späten 15. bis zum frühen 18. Jahrhundert im Vordergrund standen.

Dieses Mal widmete sich die Konferenz vor allem der Frage nach der realen Durchsetzung der lutherischen Lehre und ihrer Übernahme und Verinnerlichung durch die Masse der Gläubigen. Auf welche Voraussetzungen stieß die Reformation? Inwieweit gelang ihr der Zugriff auf sie. Im Hintergrund stand die provozierende These von Gerald Strauss, dass das Luthertum in dieser Hinsicht versagt habe. Es sei obrigkeitlich durchgesetzt worden, die breiten Volksschichten hätten lange in innerer Opposition zur lutherischen Lehre verharrt, deren Verbreitung im Interesse von Herrschaft und Obrigkeit gestanden hätte, aber nicht geeignet war, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen, wie dies bei der noch stark mit naturreligiösen Elementen durchsetzten, vorreformatorischen Frömmigkeitspraxis zumindest im Hinblick auf die ländliche Bevölkerung der Fall gewesen sei.

Wie die interdisziplinäre Zusammensetzung der Referenten schon andeutet, wurde diesen Fragen in einem größeren Zusammenhang nachgespürt. Die Entwicklung der Landessprachen unter dem Einfluss der Reformation wurde ebenso analysiert, wie die Wandlung der Kirchenarchitektur und der darstellenden Kunst, sowie ihr innerer Zusammenhang mit der neuen Lehre und deren Kultformen.

Eröffnet wurde die Tagung durch einen Vortrag von Prof. Buchholz zur Rezeption des Augsburger Religionsfriedens in Pommern. Buchholz zeigte, dass der Augsburger Religionsfrieden unmittelbar für Pommern übernommen wurde. Dieser führte zur Konsolidierung der Landesherrschaft der Herzöge aus der Greifendynastie und damit zu einem Schub in der Entwicklung frühmoderner Staatlichkeit Pommerns. Die endgültige Erledigung der von den Altgläubigen wegen der Säkularisation des Kirchengutes angestrengten und bis dahin schwebenden Reichskammergerichtsprozesse, sowie der bereits ergangenen Mandate, die Integration des Hochstifts Kammin in das Herzogtum und die Übertragung der bischöflichen Diözesangewalt auf die Landesherrschaft, die Erneuerung der Kirchenordnung auf der Grundlage der Confessio Augustana variata Melanchthons von 1540 und die Durchführung einer dichten Folge von Visitationen dürften die wichtigsten Maßnahmen gewesen sein, die in der Folgezeit zur Entwicklung des Herzogtums Pommern zu einem konfessionell homogenen frühmodernen Staat lutherischer Prägung, allerdings ohne der Konkordienformel beizutreten, führten.

Dr. Buske wies in seinem Vortrag über die kirchliche Architektur und Kunst in Pommern, welcher den Auftakt des zweiten Tages der Tagung bildete, auf die Transformation der vorreformatorischen Heiligendarstellungen in die Darstellung der sieben Tugenden im Zuge der Reformation hin. Dieser Vortrag leitete über zu den folgenden Referaten über die Entwicklung von Kunst und Architektur im Baltikum unter dem Einfluss von Reformation und lutherischer Konfessionalisierung. Frau Prof.´in Dr. Kodres, Tallinn, machte die Lücken deutlich, die wegen der Vernachlässigung der Erforschung der Reformationszeit während der Sowjetzeit heute vorhanden sind. So steckt die kunsthistorische Forschung zu dieser Epoche zurzeit noch in ihren Anfängen. Dennoch konnte die Referentin auf einige aufschlussreiche Tendenzen hinweisen. Für den estnisch-ingermanländischen Raum zeigte sie an Beispielen, dass hier noch geraume Zeit nach der offiziellen Einführung der Reformation weiterhin katholische Stilelemente in den Kirchen angebracht wurden. Obwohl in der Ortschaft Karmel schon seit 1525 das Pfarramt mit protestantischen Geistlichen besetzt wurde, wurde noch im Jahre 1547 für die Kirche eine Marienkrönung angefertigt.

Daran anschließend warf Prof. Dr. Sparitis in seinem Vortrag die grundsätzliche Frage auf, ob und inwieweit die Bevölkerung des Baltikums zu Beginn des 16. Jahrhunderts überhaupt schon vom Christentum durchdrungen war. Diese Frage stellt sich jedoch nur im Hinblick auf die Landbevölkerung, während die Reformation in den Städten sich ähnlich schnell durchsetzen konnte wie in den Städten des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation.

Dr. Martin Klöker vom Interdisziplinären Institut für europäische Kulturgeschichte in Osnabrück setzte sich in seinem Vortrag mit der (deutschsprachigen) humanistischen und der geistlichen Literatur der behandelten Epoche auseinander. Literarisches Leben spielte sich hauptsächlich in den drei großen Städten Riga, Reval und Dorpat ab. Seine Träger waren die deutschsprachigen politischen Führungsschichten und das Bildungsbürgertum. Im Einklang mit der übrigen europäischen Entwicklung überwogen zunächst Chroniken und dichterische Darstellungen. Entscheidend gefördert wurde die Verbreitung der einheimischen literarischen Schöpfungen durch die Einrichtung einer Druckerei in Riga im Jahre 1588.

Über das aus mittel- und westeuropäischer Perspektive wohl erstaunlichste Phänomen in der Geschichte des Baltikums, das unter der schwedischen Herrschaft eintrat, referierte Prof. Dr. Raag, Universität Uppsala: die Einrichtung von Elementarschulen für die estnischen Bauernkinder. Dies brachte eine für europäische Verhältnisse in der Frühen Neuzeit wohl einzigartig breite Institutionalisierung der Volksbildung in Estland und im estnischsprachigen Raum Livlands unter der schwedischen Herrschaft seit dem 17. Jahrhundert. In der Auseinandersetzung mit der Gegenreformation versuchte man offenbar über diese Bildungsinitiative zur Alphabetisierung breiter Volksschichten sowohl die vorhandenen Defizite in der Christianisierung auszugleichen als auch die Konfessionalisierung voranzutreiben und Festigkeit im Glauben gegenüber den jesuitischen Bestrebungen von Polen und Litauen her zu erreichen.

Ein weiterer Hintergrund dieses noch nicht umfassend erforschten Phänomens könnten Bestrebungen gewesen sein, im Baltikum einen ähnlich selbstbewussten Bauernstand heranzuziehen, wie er im schwedischen Reich (mit dem heutigen Finnland) existierte und sich hier stets als eine zuverlässige Stütze des Königtums erwies. Für das schwedische Pommern sind solche Bestrebungen seit längerem bekannt (s. Historische Zeitschrift, Beiheft 37). Hier leitete Gustav IV. Adolf seine Agrarreformen von 1806 explizit mit dieser Zielsetzung ein. Für das Baltikum lässt sich allerdings zurzeit der Erfolg des Elementarschulwesens noch nicht ermessen.

Der sich durch alle Vorträge und Diskussionen der Tagung hindurchziehende Spannungsbogen zwischen deutschsprachiger Oberschicht und lettisch- und estnischsprachiger Unterschicht machte der Referent des letzten Vortrages, Prof. Dr. Loit, zum Ausgangspunkt seiner Ausführungen. Er stellte die wirtschaftliche, soziale und politische Entwicklung in den ländlichen Regionen des Baltikums dar. Die schwedische Herrschaft veränderte kaum die rechtliche Stellung der ländlichen Bevölkerung, geriet jedoch in den Gegensatz zu den deutschsprachigen Gutsherren, als es gegen Ende des Jahrhunderts zur Reduktion der adligen Güter kam und große Teile des adligen Grundbesitzes auf Grund älterer Rechtstitel in den Besitz der Landesherrschaft, i. e. der schwedischen Krone, zurückgeführt wurden. Auch diese zumindest partielle Enteignung der adligen Gutsherren war eine zukunftsweisende Maßnahme, zu der es, neben der Einrichtung von Elementarschulen, unter der schwedischen Herrschaft kam.

Die lettisch- und estnischsprachige ländliche Bevölkerung blieb noch bis weit in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts hinein, der Abhängigkeit ihres Arbeitslebens vom Rhythmus der Natur entsprechend, in naturreligiösen Vorstellungen verhaftet und pflegte entsprechende Kultformen. Erst mit der Errichtung des Absolutismus in Schweden unter König Karl XI. setzten Bestrebungen ein, die lutherische Lehre gezielt und systematisch unter der Landbevölkerung zu verbreiten (Übersetzung der Bibel in die beiden Landessprachen usw.).

Prof. Dr. Schindling hob in seiner Zusammenfassung der Tagung das differenzierte Bild hervor, das sich aus den Vorträgen ergeben hatte. Die "Einführung der Reformation" dürfe nicht als ein einmaliges, punktuelles "Ereignis" gesehen wurde, wie es von der späteren protestantisch geprägten Geschichtsschreibung retrospektiv dargestellt wurde. Vielmehr habe es sich um einen gedehnten Prozess gehandelt, der sich über mehrere Generationen erstreckte. Das mittelalterliche Christentum in den baltischen Ländern habe noch viele naturreligiöse Elemente in der Volksfrömmigkeit enthalten, die jedoch nicht einfach als "fortlebendes Heidentum" qualifiziert werden sollten. Die Christianisierung heidnischer religiöser Bräuche und Stätten habe vielmehr zum Missionskonzept der mittelalterlichen Kirche bei der Germanen- und Slawenmission gehört und sei entsprechend auch bei den Balten zur Anwendung gekommen. Eine Dichotomie zwischen dem Christentum der Deutschordensritter auf den Ordensburgen und dem als "getaufte Heiden" weiterlebenden baltischen Bauern sei zwar vielleicht in der Nationalromantik des 19. Jahrhunderts als Vorstellung aufgekommen, aber dieses Bild entspreche nicht den Differenzierungen der mittelalterlichen Frömmigkeitsgeschichte, so wie diese sich in der modernen Forschung darstelle. Wie tief greifend und substantiell die Christianisierung der ländlichen Bevölkerung real gewesen sei, müsse nach den jeweiligen Kontexten der Epoche beschrieben werden und könne nicht nach einem zurückprojizierten Maßstab der entwickelten protestantischen Vorstellungen der späteren Neuzeit beurteilt werden. Dieses Problem stellt sich in der Kirchen- und Frömmigkeitsgeschichte der baltischen Länder ebenso wie in derjenigen des deutschsprachigen Mitteleuropas und Skandinaviens. Für künftige Forschung stellen sich hier noch sehr fruchtbare Fragen für eine komparative Betrachtung.

Die vielfältigen, manchmal auch überraschenden Erkenntnisse der Tagung rücken das Baltikum der Frühen Neuzeit in einen europäischen Kontext, aus dem es lange Zeit hinauszufallen drohte und zeigen so neue Forschungsperspektiven auf. Die Notwendigkeit und die Chance, sich von der lange vorherrschenden baltendeutschen Perspektive auf die Geschichte des Baltikums zu lösen und die einheimischen Sprachgemeinschaften und Kulturen in die Darstellung zu integrieren, werden dazu beitragen, die historische Wirklichkeit umfassender als bisher zu rekonstruieren. Die Tagung hat einen deutlichen Schritt in diese Richtung getan.


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