Gesellschaft für Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung (GSU) Nachwuchstagung

Gesellschaft für Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung (GSU) Nachwuchstagung

Organisatoren
Clemens Wischermann; Clemens Zimmermann; Gesellschaft für Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung (GSU)
Ort
Konstanz
Land
Deutschland
Vom - Bis
07.10.2005 - 08.10.2005
Url der Konferenzwebsite
Von
Monica Neve, FB Geschichte und Soziologie, Universität Konstanz

Die Gesellschaft für Stadtgeschichte und Urbanisierungsforschung (GSU) ist eine Organisation, die dauerhafte Grundlagen bietet für den Informationsaustausch, die Diskussion und Kooperation aller Wissenschaftler, die in dem interdisziplinären Forschungsfeld Stadtgeschichte und Urbanität arbeiten. Eines der Ziele der GSU ist die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses auf dem Gebiet der historischen und interdisziplinären Stadt- und Urbanisierungsforschung. Vor diesem Hintergrund veranstaltete die GSU am 7. und 8. Oktober 2005 eine Tagung an der Universität Konstanz, auf der einschlägige Dissertations- und Habilitationsprojekte präsentiert und diskutiert wurden. Organisiert wurde die Tagung vom GSU Vorsitzender Clemens Zimmermann und dem örtlichen Organisator Clemens Wischermann. Die Themenfelder umfassten die Bereiche Stadt und Wissen, Stadt und soziale Segregation und Stadt und Natur. Die präsentierten Arbeiten bezogen sich dabei auf das moderne, von den Kulturwissenschaften entwickelte und weit gefasste Konzept von Kultur.

I. Zum Bereich Stadt und Wissen wurden Forschungsprojekte vorgestellt, die sich der Untersuchung des historischen Zusammenhangs von Stadt und Wissen widmen. Moderatorin des ersten Themenblocks war Adelheid von Saldern.

a. Eröffnet wurde dieser erste Themenblock mit einem Vortrag von Oliver Frey zum Thema "Loft-Working in der kreativen Stadt: Cultural worker_netzwerke_orte (sic)". Der Vortrag diskutierte die Frage nach der Bedeutung lokaler Kultur und ihrer räumlichen Verfasstheit im Kontext des Übergangs von der Industrie- zur Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft. Frey stellte die Ergebnisse eines Forschungs- und Dissertationsprojektes in Wien vor, welches an der Schnittstelle zwischen Architektur, Stadtsoziologie und Raumplanung eine mikrosoziologische Perspektive auf die Konstituierungsprozesse kreativen Handelns von jungen ‚cultural entrepreneurs' legt. Methodisch werden in der Studie qualitative Feldforschungsmethoden mit einer quantitativen Sozialraumanalyse verknüpft. Vier innerstädtische altindustrielle Fabriklofts werden als physisch-bauliche Ortsressource betrachtet, welche neue Vergemeinschaftungs- und Vergesellschaftungsprozesse der dort Arbeitenden ermöglichen. Die Analyse konzentriert sich auf vier Fallbeispiele (eine ehemalige Schraubenfabrik, eine Schokoladenfabrik, eine Milchzentrale und Gewerbehöfe), die jeweiligen räumlich-lokale Arbeitsumgebung, die Netzwerke und das soziale Kapital sowie die Kenntnisse, Wissen und Fähigkeiten der Akteure.

b. Im Rahmen des ersten Themenblocks präsentierte Kerstin Sailer ihr Dissertationsprojekt "InnovationsRäume", welches den Einfluss räumlicher Konfiguration auf die Entstehung kollektiver Intelligenz in Forschung und Entwicklung untersucht. Das Projekt konzentriert sich dabei auf den Zusammenhang zwischen wissensintensiven Arbeitsprozessen und räumlicher Konfiguration. In ihrer Präsentation stellte sie Raum als wichtige prozesserleichternde oder prozessverhindernde Ressource dar. Um Wissen zu kultivieren, zu pflegen, zu organisieren und schließlich produktiv einzusetzen, bedürfe es eines Wissensmanagements bzw. einer lernenden Organisation. Das Projekt zeigt auf und belegt, dass Wissen orts-spezifisch und über räumliche Nähe funktioniert, an Menschen gebunden ist sowie ein bestimmtes Umfeld erfordert. Wissen ist demnach als räumliches Phänomen konzeptionalisiert. Sailer präsentierte Ergebnisse einer empirischen Untersuchung verschiedener Organisationen (z.B. Universität, Forschungseinrichtung, Unternehmen) unter diesem Aspekt. Darüber hinaus wurde verglichen, inwiefern die Strukturen und Kulturen dieser Einrichtungen organisationales Lernen ermöglichen, und wie räumliche Konfiguration und Gestaltung das notwendige organisationale Lernen zu behindern oder zu begünstigen vermögen.

c. Unter dem Titel "Geschmackskulturen und Geschmacksverstärker: Kompositionen urbaner Sichtbarkeit. Zur Bedeutung von Musik im Image von Wien und Berlin", präsentierte Anita Schlögl ihr Dissertationsprojekt. Schlögl wirft dabei die Frage auf, wie urbane Events, die die kulturelle Vielfalt der Stadt aufnehmen und erweitern, generiert werden können, wie die bildorientierte Produktion und Konsumtion des städtischen Raumes in der Planung berücksichtigt und wie gleichzeitig eine umfassendere Stadterzählung in Bild und Text wieder belebt werden kann. Das Projekt untersucht diese Fragestellung anhand der beiden Großstädte Wien und Berlin und zweier urbaner Events. Beide Veranstaltungen, das Mozartjahr 2006 - The Spirit of Mozart in Wien und die Berliner Popkomm 2005 - Music meets here - bedienen sich dabei einem besonders symbolträchtigen Image mit hohem Identitätspotenzial und ökonomischer Verwertbarkeit. Der Vortrag präsentierte das Anfangsstadium eines sehr interessanten Projektes, das sich für die diametral gegenüber liegenden Basisbausteine interessiert, die auch als Orientierungshilfe in der Re-Konstruktion von Geschichte und Identität der beiden Städte dienen.

d. Den Abschluss dieses Themenblocks bildete der Vortrag von Laura Frahm zu ihrem Dissertationsprojekt mit dem Titel "Topologien. Wechselverhältnisse von Metropole und Film im 20. Jahrhundert". Anhand der Analyse unterschiedlicher filmischer Konfigurationen der Metropole im 20. Jahrhundert versucht das Projekt, Aussagen darüber zu treffen, inwiefern sich die Wechselverhältnisse von Metropole und Film verändern. Es werden ‚filmische Konfigurationen der Metropole' anhand exemplarischer Beispiele aus den Bereichen dreier genuin städtischer Genres, wie dem frühen Stadt-Film der 20er/30er Jahre, dem Kriminalfilm der 40er/50er Jahre und dem Episodenfilm der 80er/90er Jahre, analysiert. Frahm fragt danach, welche Auswahl der Film aus der Vielzahl der möglichen Ansichten der Metropole trifft, und auf welche Art und Weise der Film zwischen den unterschiedlichen Räumen und Raumebenen der Metropole Verknüpfungen herstellt. Ihr Forschungsansatz lenkt den Blick nicht allgemein auf die Darstellung der Metropole im Film, sondern auf die spezifischen räumlichen Konfigurationen der Metropole im Film.

II. Im zweiten, von Heinz Reif moderierten Themenschwerpunkt zur sozialen Segregation wurde die historische Dimension heutiger Polarisierungs- und Segregierungsprozesse beleuchtet.

a. Das erste Forschungsprojekt hierzu wurde von Lars Amanda vorgestellt und trägt den Titel "Chinesenviertel. Globale Migration und ethnische Segregation in westeuropäischen Großstädten im 20. Jahrhundert". Es beschäftigt sich mit den aufgrund der regelmäßigen Präsenz chinesischer Seeleute in den großen westeuropäischen Hafenstädten wie London, Liverpool, Rotterdam und Hamburg entstandenen "Chinesenvierteln". Während lediglich einige hundert chinesische Männer aus den südlichen Provinzen in den Hafenstädten lebten, sei es gerade diese soziale Abgeschlossenheit in Verbindung mit kulturellem Nichtverstehen gewesen, so Amenda, welche die Phantasie der westlichen Beobachter anregte. In seiner Präsentation erklärte Amenda, wie Romane, ‚Reiseberichte', Fotografien und Filme in der Folge die Inbesitznahme eines kleinen urbanen Raumes innerhalb der europäischen Großstädte seitens chinesischer Migranten thematisierten. Amenda argumentierte, dass das Beispiel der Geschichte der chinesischen Migration in Europa verdeutliche, dass ethnische Segregation eng mit gesellschaftlichen Entwicklungen verknüpft sei. Galten Chinesenviertel zu Beginn des 20. Jahrhunderts bei den Behörden noch als eine hygienische und ‚rassische' Gefahr, so gerieten diese Jahrzehnte später zum städtischen und touristischen Erlebnis. In beiden Fällen sei dafür die ethnische Absonderung maßgeblich verantwortlich gewesen.

b. Im zweiten Beitrag dieses Themenblocks präsentierte Malte Fuhrmann sein Projekt zum Thema "Die ‚Verwestlichung' der spätosmanischen Hafenstädte". Fuhrmann lieferte einen Vortrag mit dicht gepacktem Inhalt, der vom Wechselspiel der Hegemonien im urbanen Raum erzählte. Laut Fuhrmann ist es nötig, dass sich Untersuchungen, die sich dem Marginalen, Anderen oder Antiparadigmatischen widmen, zunächst der Position der Stadt im Verhältnis zu regionalen, nationalen, imperialen oder supranationalen Hegemonien vergewissern. Nur vor diesem Hintergrund werde erkenntlich, warum gewisse eigentümliche lokale urbane Phänomene zu bestimmten Zeiten Konjunktur hatten und zu anderen Zeiten bekämpft, unsichtbar gemacht oder zerstört wurden. Zu diesem Zweck skizzierte Fuhrmann eine kurze Geschichte der Hegemonien in drei osmanischen Hafenstädten und ihre Bedeutung für das Verhältnis zum Europäischen - Galata, Smyrna und Saloniki. Die Skizze beschränkte sich für den Rahmen der Tagung auf das Erscheinungsbild der Stadt, obwohl Fuhrmann deutlich machte, dass sich dieses Verhältnis auch in alltäglichen Praktiken, Lebensgeschichten oder Institutionen verfolgen lasse. Eine solche Geschichte der Hegemonien müsse nicht auf das Osmanische oder Außereuropäische beschränkt sein, sondern lasse sich an jeder Stadt mit wechselhafter politischer Geschichte, beispielsweise Berlin, skizzieren.

c. Einen interessanten Kontrast zu den bisherigen Beiträgen bot Katja Schmidtpott mit ihrem Projekt "Nachbarschaftskulturen in Tokio in den 1920er Jahren". In der japanischen Sozialwissenschaft werde üblicherweise das Dorfmodell zur Beschreibung des sozialen Lebens, speziell in Tokio, verwendet. Japanische Sozialwissenschaftler würden die Ansicht vertreten, dass sich die nachbarlichen Beziehungen in den Städten nicht - wie in den euro-amerikanischen Gesellschaften - abschwächten, sondern intensivierten. In Japan hätten zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Bewohner je eines Stadtviertels in harmonischen, dorfähnlichen Stadtviertelgemeinschaften zusammengelebt, die sie nur selten verließen. Japan wäre demnach ein Sonderfall unter den modernen Industriegesellschaften und hätte somit - anders als in den euro-amerikanischen Gesellschaften, die stets als Vergleichsfolie für Japans Modernisierung dienen - gewissermaßen eine Verstädterung ohne Urbanisierung stattgefunden.
Diese These lässt sich laut Schmidtpott jedoch nicht aufrechterhalten. Schaue man genauer hin, so entbehrten fast alle Aussagen über die angeblichen dorfähnlichen Stadtviertelgemeinschaften einer empirischen Grundlage. Schmidtpott hat vor diesem Hintergrund ein neues Modell zur Erklärung der Nachtbarschaftsverhältnisse in Japan entwickelt. Vor allem anhand von subjektiven Quellen wie Tagebüchern, aber auch Beschwerdeschreiben von Vorständen von Stadtviertelvereinigungen und Sozialreportagen hat sie versucht, die besonderen Merkmale der Nachbarschaftsbeziehungen herauszustellen. Laut Schmidtpott zeige sich, dass die Mitgliedschaft in einer Stadtviertelvereinigung für die Mehrheit der Stadtbewohner im Alltag kaum von Bedeutung gewesen sei, und dass unterhalb des Daches der Stadtviertelvereinigungen die Angehörigen der unterschiedlichen sozialen Schichten jeweils eigene, räumlich stark begrenzte Nachbarschaften mit spezifischen Nachbarschaftskulturen gebildet hätten. Japan sei daher kein Sonderfall, in dem sich besonders lange lokale Gemeinschaften gehalten hätten.

d. Immer mehr in der Metropole Hamburg lebende Menschen entschieden sich in den fünfziger und sechziger Jahren, in den trotz der beständig dichter werdenden Besiedlung noch überwiegend agrarisch geprägten Norden der Stadt zu ziehen. Vor diesem Hintergrund stellte Meik Woyke sein Forschungsprojekt "Siedlungsbau und suburbane Lebensstile im nördlichen Umland von Hamburg von den fünfziger bis zu den siebziger Jahren" vor. Dabei stellte er drei Siedlungsbauprojekte im Norden von Hamburg exemplarisch näher vor, und zwar mit Blick auf die signifikanten Unterschiede beim Wohnklima und in der Lebensqualität. Es handelte sich um die ab 1954 entstandene Gartenstadt Elbhochufer in Wedel, die beinahe dörflich anmutende Oelting-Siedlung in Quickborn (1959) und schließlich um die seit Ende der sechziger Jahre existierende Hochhaussiedlung in Thesdorf, einem bis dahin agrarisch geprägten Stadtteil von Pinneberg.
Im Projekt wird nach den Sozialstrukturen, Verhaltensmustern und normativen Orientierungen im suburbanisierten Umland von Hamburg gefragt. Es wurde anhand verschiedener Anwohnergruppen gezeigt, wie durch einen mehr oder weniger bewusst gewählten Lebensstil nicht bloß Werthaltungen und Leitbilder zum Ausdruck kommen, sondern wie sich auch Einflüsse auf Konsummuster, die Wahl der Freizeitaktivitäten, kulturelle Präferenzen oder die Nutzung von Medien erkennen lassen. Dadurch lassen sich unterschiedliche suburbane Lebensstile schärfer konturieren. Das Projekt stützt sich auf eine Materialgrundlage aus archivarischen Quellen, vor allem jedoch die Erinnerungen von Zeitzeugen und Ortschroniken.

III. Zum Bereich Stadt und Natur kamen einerseits Projekte, die den materiellen Stoffwechsel zwischen Stadt und Natur in historischer Perspektive thematisierten und zum anderen Arbeiten, die kulturelle Wahrnehmungsweisen und Aneignungsprozesse von Natur seitens der städtischen Bevölkerung untersuchten. Clemens Wischermann moderierte den dritten Themenblock.
a. Nils Freytag eröffnete den dritten Themenschwerpunkt mit seinem Vortrag zur städtischen Holzversorgung vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Vorgestellt wurden vier grundlegende Erkenntnisebenen, auf denen die Beschäftigung mit dem Themenfeld ‚städtische Holzversorgung' über stadtbiographische Details hinaus neue Perspektiven eröffnet. Als Beispiele dienten Nürnberg (als Typus für Nahversorgungswälder) und München (als Typus für Fernversorgungswälder). Von besonderem Interesse war die kultur- und mentalitätsgeschichtliche Ebene der Holzversorgung. Der vielerorts anzutreffende Widerstand, Brennholz durch Torf oder Kohle zu ersetzen, verweise auf bisher wenig erforschte althergebrachte Vorbehalte gegenüber dem epochalen Umbruch in der Energieversorgung. Der Holzverbrauch sei untrennbar mit dem Wandel von Werten und Normen verbunden gewesen: Denn der "reinliche Bürger" habe mehr Brennholz für seine Körperpflege verbraucht als zuvor, und für den Bildungsbürger hätten zusätzlich Theater, Kaffeehäuser und Leseclubs beheizt werden müssen; dies, so Freytag, hätten bereits aufmerksame Zeitgenossen erkannt und zu einem Leitthema der Holznotdebatten des 18. und 19. Jahrhunderts gemacht, die zu einem wesentlichen Teil stadtbürgerliche Debatten waren. Auf der umweltgeschichtliche Ebene galt schließlich das Interesse auch der Frage, wie Städter sich ihre Umwelt vorstellten, wie sie diese konstruierten und wie sich das konkret in ihrem Umgang mit der stadtnahen Natur niederschlug. Laut Freytag, entdeckte das Stadtbürgertum den stadtnahen Wald nicht nur als Ort ästhetischer Genüsse, sondern es erkundete den durch Städte- und Industriewachstum bedrohten, reduzierten und romantisierten Wald zugleich als Ort von Naturdenkmälern.

b. Mit Titel "Badekur und Sommerplaisir. Die Entdeckung der stadtnahen Landschaft als Erholungsraum im 18. und frühen 19. Jahrhundert am Beispiel Dresdens" präsentierte Ulrich Rosseaux den zentralen Bestandteil seines Habilitationsvorhabens. Im Laufe der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vollzog sich ein grundlegender Wandel in der Natur- und Landschaftsauffassung, der zu einer ästhetischen und therapeutischen Um- und Aufwertung des Ländlichen und des Lebens auf dem Lande führte. Wie sich dieser Prozess vollzog, welche Phänomene für ihn charakteristisch waren und welche Folgen er für das Verhältnis von (Groß-)stadt und Umland hatte, wurde von Ulrich Rosseaux am Beispiel Dresdens dargestellt. Es standen laut Rosseaux zwei miteinander verflochtene Vorgänge im Mittelpunkt: Zum einen die bereits im frühen 18. Jahrhundert zu beobachtende Entstehung eines auf die Stadt bezogenen Netzes regionaler Badekurorte und zum anderen das seit den 1770er Jahren feststellbare Aufkommen des so genannten Sommerplaisirs, d.h. längerer sommerlicher Aufenthalte ganzer Familien im zumeist näheren Umland Dresdens. Hierbei zeigte Rosseaux, dass diese frühe Spielart der bürgerlichen Sommerfrische des 19. Jahrhunderts eine verallgemeinerte Variante der Badekur darstellte. Die Neubewertung der ländlichen Umgebung als ästhetisch und therapeutisch wertvoll habe die Ausdehnung der ursprünglich an die Existenz heilender Quellen gebundene Gesundheits- und Erholungsfunktion der Badekur auf neue Bereiche des städtischen Umlands ermöglicht. Diese Entwicklung habe eine wesentliche Etappe auf dem Weg zur modernen Naherholung dargestellt und sei darüber hinaus von grundlegender Bedeutung für die Entstehung des kommerziellen Tourismus im 19. Jahrhundert gewesen.

c. Der dritte Vortrag dieses Themenblocks wurde von Marcus Stippak zum Thema "Von Mangel und Überfluss. Wasserversorgung und Abwasserentsorgung in Darmstadt und Dessau 1869-1989" gehalten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts artikulierte sich in Darmstadt und Dessau ein reges Unbehagen über die lokale Wasserversorgungssituation. Der Mangel an qualitativ einwandfreiem oder zumindest unbedenklichem Trink- und Brauchwasser mündete allmählich in eine breite, die lokalpolitische Auseinandersetzung mehrere Jahre beherrschende Diskussion. Verstärkt durch Überlegungen und Argumente der Hygienebewegung in Deutschland stilisierten die örtlichen Protagonisten die Überwindung des angesprochenen Mangels zu einem die Zukunft des jeweiligen städtischen Gemeinwesens entscheidenden Kriterium. Der Überfluss an Wasser wurde somit zu einer Zielvorstellung, während die Erfahrung des Mangels gefälligst der Vergangenheit anzugehören hatte.
Rückblickend lasse sich auf Seiten der Versorger und der Konsumenten bis wenigstens in die 1970er Jahre hinein eine mentale, intellektuelle Kontinuität erkennen: eine sich im 19. Jahrhundert herausbildende, am Überflussideal ausgerichtete Geisteshaltung habe somit die bis dahin aufgetretenen verfassungsrechtlichen, politischen, ökonomischen und sozialen Veränderungen überdauert. Diese Kontinuität habe eine mentale, intellektuelle Pfadabhängigkeit begründet, die dazu beigetragen habe, die auf städtischer Ebene bereits um 1900 ausgeprägte Wahrnehmung der Natur als einen den gesellschaftlichen Bedürfnissen dienlich zu machenden Wasserlieferanten ebenso aufrechtzuerhalten wie die Art des gesellschaftlichen Umgangs mit der Natur.

d. In seinem Dissertationsvorhaben "Politik, Planung, Protest. Die Auseinandersetzungen um die Bundesstraße 31 in Südbaden, ca. 1950-2000" untersucht Carsten Vogelpohl die Auswirkungen innerstädtischer Straßenbauprojekte auf das Raumgefüge sowie die Wahrnehmung und die Reaktionen der Betroffenen vor Ort. Vogelpohl stellte das Konzept seiner Dissertation vor, das dort ansetzen soll, wo sich Verkehr konkretisiert: auf der Mikroebene des städtischen Raumes. Am Beispiel der Planungen und des Baus einer Schnellstraße durch die östlichen Wohngebiete Freiburgs im Rahmen des Ausbaus der Bundesstraße 31 in Südbaden im Zeitraum von ca. 1950 bis 2000 wird untersucht, wie Bewohner, lokale Politiker und Interessengruppen die geplanten Veränderungen wahrnahmen, ob sie eigene Vorstellungen und Konzepte zur Gestaltung des städtischen Raumes entwickelten oder ob sie in ihrer Argumentation der zeitgenössischen "Meta-Debatte" in Politik und Planung folgten. Vogelpohl erklärte, wie zwei scheinbar abgegrenzte Aktionsbereiche ausgemacht werden könnten, die von unterschiedlichen Akteuren dominiert seien: die öffentliche Debatte um das Projekt B 31 und seine Wahrnehmung sowie andererseits seine Realisierung. Die Arbeit greift Fragen auf, die über den engen verkehrshistorischen Kontext hinausweisen. Sie analysiert die sich wandelnde Beziehung von Mensch und Umwelt im städtischen Raum und kann im weiteren Sinn als Beitrag zur Erforschung lokaler politischer Kultur in der Bundesrepublik Deutschland verstanden werden.

Die Tagung machte deutlich, wie breit das Spektrum der Themen reicht, mit welchen sich das Forschungsgebiet Stadtgeschichte und Urbanisation beschäftigt. Die vorgestellten Projekte umfassten eine Vielzahl an Aspekten wie die unterschiedlichen Raumkonzepte, Raumgestaltung, Raumnutzung durch die Bewohner und räumliche Abgrenzung und Miteinbeziehung. In fast allen Beiträgen spielte die Beziehung von Mensch, Raum und Raumwahrnehmung eine entscheidende Rolle. Die Vielfalt der angesprochenen Themen zeigt das Potenzial dieses Forschungsfeldes und verspricht eine Vielzahl an spannenden zukünftigen Ergebnissen.