Vom Gegner lernen? Feindschaft und Verflechtung zwischen West und Ost

Vom Gegner lernen? Feindschaft und Verflechtung zwischen West und Ost

Organisatoren
Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.09.2005 - 01.10.2005
Url der Konferenzwebsite
Von
Ulrike v. Hirschhausen, Universität Leipzig

In ihrer von der ZEIT_Stiftung geförderten Tagung ging es den Veranstaltern, Martin Aust (Universität Kiel) und Daniel Schönpflug (Freie Universität Berlin), darum, neue Wege einer europäischen Verflechtungsgeschichte zu erproben. Denn die bisherigen Transfergeschichten seien häufig in einer Erfolgsgeschichte von europäischer Integration und deren Vorformen gemündet. Narrative von Abgrenzung, Gewalt und Feindschaft hätten dagegen meist auch jeden Austausch negiert. Doch war der Austausch paradoxerweise gerade dann besonders intensiv, wenn die Feindschaft auf die Spitze getrieben wurde. Der Tendenz einer einseitig positiv konnotierten Transfergeschichte gelte es daher, so die Veranstalter in ihrer Einführung, auch europäische Verflechtungen gegenüberzustellen, deren Akteure in einem feindlichen Verhältnis zueinander standen. Zur Überprüfung, Infragestellung und Verfeinerung ihrer These einer Verflechtungstypologie, die vom ‚Transfer trotz Feindschaft’ über den ‚Transfer aufgrund von Feindschaft’ bis zur ‚Feindschaft durch Transfer’ reichte, hatten sie eine Reihe internationaler Wissenschaftler nach Berlin eingeladen.

Zunächst standen die Beziehungen zwischen Frankreich, Russland bzw. der Sowjetunion und Deutschland im Mittelpunkt. So suchte Denis Sdvižkov (Rußländische Akademie der Wissenschaften, Moskau) zunächst die ambivalenten Beziehungen zwischen Frankreich und Russland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu skizzieren. Nicht etwa gegenseitiger Austausch, sondern die einseitige Rezeption französischer Vorbilder durch Russland habe die Beziehungen bestimmt. Der Gegnerschaft der Staaten habe keine Gegnerschaft der Gesellschaften entsprochen, die russische Rezeption französischer Muster, wie beispielsweise des Empire-Stils, habe vielmehr das Charakteristische dieses Verhältnisses zwischen „La belle et la bête“ ausgemacht. Ludmilla Pimenova (Staatliche Universität St. Petersburg) griff den Fall eines französischen Adligen, des Comte de Langeron, auf, der zunächst Befürworter der französischen Revolution gewesen war, und sich seit seiner Auswanderung nach Russland zum entschiedenen Gegner gewandelt hatte. Langerons Negativerfahrung von Revolution wie Despotismus prägte auch die intensive Auseinandersetzung mit der russischen Geschichte, die er überaus kritisch beschrieb und deutete. Offen blieb in Pimenovas Beispiel die Umsetzung der Kritik im Handeln dieses französischen Aufklärers, der um 1800 Gouverneur des neu zu Russland gekommenen Gebietes Novorossia (Neurussland) wurde und hier seine reformorientierten Theorien in bestimmtem Maße durchaus hätte praktisch anwenden können.

Andrzej Nieuwazny von der Universität Torun thematisierte die Entwicklung von Spionage vor dem Hintergrund der sich verschlechternden französisch-russischen Beziehungen um 1810. Die Berichte, welche Napoleon von seinen Ministern über Russland erhielt, waren völlig unzulänglich und noch 1812 musste er feststellen, Frankreich hätte nichts in den Händen, was Auskunft über den zivilisatorischen Weg Russlands gäbe, wisse nicht, wie dessen politisches System funktioniere. Dieses Manko führte Napoleon zur Einrichtung eines ‚Büros für Statistische Erhebungen außerhalb Frankreichs’ sowie zum Aufbau eines Spionagenetzes, das Stationierungspläne der russischen Truppen auskundschaftete. ‚Vom Gegner lernen’ führte in diesem Fall zur Entwicklung eines politischen Informationsdienstes, der in Frankreich so kein Vorläufer hatte.

Ebenso standen unterschiedliche Lernprozesse zwischen Frankreich, der Sowjetunion und Deutschland im 20. Jahrhundert zur Debatte. Olivier Dard von der Universität Metz und Dieter Gosewinkel vom Wissenschaftszentrum Berlin untersuchten die wechselseitigen Einflüsse der neuen Euphorie für Planung und Technokratie in Frankreich und Deutschland Anfang der 1930er Jahre. Die ähnliche Stoßrichtung der Zeitschriften „Plein“ und „Gegner“, beide von Vertretern der konservativen Revolution getragen, beide dafür plädierend, dass Technik erst durch Planung eine übertechnische Dimension erhalte, belegte die wechselseitige Bezogenheit, die sich hier bis zu gegenseitiger Werbung für das jeweils andere Medium steigerte. Die Konvergenz beider Ansätze, so die Referenten, verweise auf eine trotz offizieller Erbfeindschaft sehr genaue Beobachtung des vermeintlichen Gegners, welche auch die Grundlage gemeinsamer späterer Aktionen, beispielsweise der korporatistischen Neuordnung der französischen Wirtschaft im Vichy-Regime, abgegeben hätte.

Alexander Vatlin von der Staatlichen Universität St. Petersburg beleuchtete schließlich den Wandel der Beziehungen zwischen kommunistischer Internationale und europäischer Arbeiterbewegung. Der Versuch einer Bolschewisierung der KPD stieß in Deutschland zunächst auf erhebliche Widerstände. So war der Versuch, die Partei in eine paramilitärische Formation zu verwandeln, nicht erfolgreich. Auch die bolschewistische Ablehnung der Betriebsräte, denen Moskau jedes revolutionäre Potential absprach, ließ sich auf deutschen Boden zunächst nicht übertragen. Erst 1923 unterlag die KPD Moskauer Direktiven, wie Vatlin auch semantisch belegen konnte, indem das Wort ‚Räte’ jetzt durch ‚Sowjets’ ersetzt wurde. Auf der sowjetischen Seite standen ähnlich problematische Versuche, vom Westen zu lernen, die zunächst in einer Bejahung einer parteilichen Organisation des politischen Lebens mündeten. Seit Mitte der 1920er Jahre jedoch blockierten die Moskauer Bolschewiki jeden Versuch, Errungenschaften deutscher Kommunisten zu übernehmen und propagierten unter der Devise „Den Gegner ignorieren“ einen Weg in die Selbstisolation.

Den zweiten Tag der Konferenz eröffnete Andreas Daum (New York State University at Buffalo) mit einem Vortrag über politische Inszenierungen in Berlin 1950-1963. Ob die Gegner des Kalten Krieges voneinander lernten, lässt sich gerade in Berlin gut untersuchen, wo die konkurrierenden Ordnungsentwürfe so unmittelbar aufeinander prallten. So lehrte die Erfahrung der medial inszenierten Luftbrücke die DDR, dass auch sie die Arena Berlin nützen musste, um eine maximale öffentliche Wirkung zu erreichen. Auf ein riesiges Jugendtreffen der FDJ im Mai 1950 reagierten die Alliierten wiederum mit einer internationalen Automobilausstellung sowie der spektakulären Einweihung einer ‚Freiheitsglocke’ vor dem Schöneberger Rathaus. In dichter Folge entfalteten sich hier seit Beginn der 1960er Jahre öffentlichwirksame Aktionen, die oft in asymmetrischer Weise aufeinander reagierten und davon geprägt waren, aus der genauen Beobachtung des Gegner eine erfolgreiche inszenatorische Gegenstrategie zu entwickeln. Ihren Kulminationspunkt fand diese Wechselwirkung in Kennedys Berlin-Besuch 1963 und in der Gegeninszenierung des Chruschtschow-Besuchs in Ost-Berlin drei Tage später. dass die Erinnerung an ersteren erhalten blieb, letzterer hingegen vergessen wurde, begründete Daum mit dessen äußerer Formiertheit ohne breitere gesellschaftliche Akzeptanz. Trotz allen Bemühens der DDR, vom ideologischen Gegner zu lernen, entschied schließlich das Publikum, nicht die Regisseure über den Erfolg der jeweiligen Inszenierung.

In einem ähnlich anregenden Vortrag näherte sich Kiran Patel von der Humboldt-Universität Berlin der Frage nach dem Lernen vom Gegner am Beispiel des amerikanischen New Deal. Patel zeigte, wie US-Präsident Roosevelt unter dem Druck der Massenarbeitslosigkeit mehrere NS-Organisationen auf mögliche Nachahmung ihrer sozialpolitischen Instrumente in den USA prüfen ließ. So kannte Roosevelt trotz äußerer Distanzierung keine Berührungsängste mehr, als er darauf drang, die Strategien des NS-Arbeitsdiensts zur Qualitätssteigerung des 1933 gegründeten ‚Civilian Conservation Corps’ zu nützen. Plastisch wurde vermittelt, wie sehr auch die USA trotz ihrer isolationistischen Rhetorik doch in internationale Debatten eingebunden blieb, wie sehr sie auch bereit war, punktuell und zu einem gewissen Maße vom Gegner zu lernen. Patel plädierte abschließend dafür, neben den bekannten Austauschprozessen von Gegnern, für welche die Spionage das klassische Beispiel ist, auch die zahlreichen unbekannten, oft billigeren und zivileren Methoden des Lernens vom Gegner zu berücksichtigen, die zumal auch das Fiktive vieler Abwehrstrategien offen legen könnten.

Jutta Scherer von der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales in Paris stellte die Rezeption der amerikanischen Technologie aus sowjetrussischer Sicht vor. Die Devise „Einholen und Überholen“ (‚dognat’ i peredognat’’), die später von Chruschtschow wieder aufgegriffen wurde, war vor Stalin im Zusammenhang mit seinen Fünfjahresplänen lanciert worden, welche der Überflügelung der kapitalistischen Welt dienen sollten. Amerika und amerikanische Produktionstechniken wie Fordismus und Taylorismus blieben bis zum Ausbruch des zweiten Weltkriegs ein Vorbild, dem man sich durch den Austausch von Ingenieuren, Frühformen von joint ventures und der Übernahme spezifischer Arbeitsteilungen in sowjetischen Fabriken anzunähern suchte. Erst nach 1945 wich die ‚neugierige Sowjetunion’ einem isolationistischen Staat, der keine solche Adaptionen mehr öffentlich popularisieren wollte. In der sich anschließenden Diskussion gab Thomas Mergel (UniversitätBochum/Potsdam) zu bedenken, ob der Begriff der Feindschaft, der dem Tagungskonzept zugrunde lag, sich angesichts dieser so unterschiedlichen Befunde überhaupt halten lasse. Denn Feindschaft schien Lernbereitschaft tendenziell zu reduzieren, wogegen Lernen unter Gegnern, die aber nicht als Feinde apostrophiert wurden, besser zu funktionieren schien. Moniert wurde aber auch die starke Konzentration auf Institutionen als Träger von Lernprozessen, womit technologische oder sozialwissenschaftliche Errungenschaften als Transferprodukte im Vordergrund standen, wogegen kulturelle Übernahmen bisher kaum Berücksichtigung fanden.

Schließlich wurden exemplarische Lernprozesse zwischen der DDR und dem Westen vorgestellt. Hanno Hochmuth (Freie Universität Berlin) thematisierte den Einfluss des Westfernsehens in der DDR und konnte deutlich machen, dass Feindschaft gegen die Bundesrepublik aufgrund des Westfernsehens auf wenige Funktionäre beschränkt blieb, wogegen breite Teile der DDR-Gesellschaft durch das Medium des Fernsehens die Alterität des Westens eher bewunderten. Jens Niederhut, ebenfalls von der FU Berlin, zeigte am Beispiel der deutsch-deutschen Wissenschaftsbeziehungen, dass offizielle Feindbilder mit grenzüberschreitenden Gemeinschaftsvorstellungen konkurrierten. Während die 1950er und 1960er Jahre noch von einer engen Verflechtung beider Wissenschaftslandschaften geprägt waren, wurden diese Ende der 60er Jahre von der DDR zerschlagen. Staatlich regulierte Austauschabkommen lösten personelle Netzwerke ab. Die DDR erwies sich als immer weniger lernfähig, je mehr die Furcht vor dem Wertetransfer stieg. Der Beitrag von Arnd Bauerkämper (Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas) über die DDR und England rundeten diese Sektion schließlich ab. Indem die DDR von Großbritannien als „rotes Preußen“ eingestuft wurde, nahm man autoritäre Strukturen einerseits als Bedrohung, Wirtschaftsplanung und Antifaschismus andererseits aber als Vorzüge wahr, wozu nicht zuletzt das Misstrauen gegen die neue, wirtschaftlich erstarkende Bundesrepublik mit beitrug. Diese Verbindung von Abgrenzung und Verflechtung, welche für die Wahrnehmung der DDR in Großbritannien typisch war, begrenzte aber zugleich die Neigung, von diesem Gegner zu lernen.

In der Abschlussdiskussion, die Johannes Paulmann (International University Bremen) mit einem Kommentar einleitete, traten Chancen und Probleme des Versuches, Feindschaft und Transfer in Gestalt von Lernprozessen aufeinander zu beziehen, klar hervor. Paulmann griff zunächst noch einmal die normative Tendenz auf, Transfergeschichte als Integrationsgeschichte zu begreifen und zu schreiben, welche bereits zu Beginn der Tagung problematisiert worden war. Vor allem der Begriff der ‚Verflechtung’ sei bisher zu positiv konnotiert, vom Ergebnis her zu homogen gedacht. Brüche und Lücken im jeweiligen Verhältnis würden davon kaum erfasst, Ausgrenzungen und Machtbeziehungen herausgeschrieben. Die Diskussion zeigte das allgemeine Unbehagen an dieser Tendenz und legte Alternativen offen. Denn auch der Begriff der Feindschaft im Sinne einer auf Vernichtung ausgerichteten Haltung treffe auf die hier untersuchten Wechselbeziehungen nur partiell zu und sei nur wenig nützlich. Als analytisch weiterführender wurde der Begriff der ‚Gegnerschaft’ eingeschätzt, da er auch Wettbewerb und Konkurrenz beinhalte. Demgegenüber sprach sich Dieter Gosewinkel für einen Erhalt des Begriffes aus, da ‚Gegner’ primär auf innergesellschaftliche Konflikte anwendbar sei, mit Feindschaft hingegen ebenso Konflikte auf staatlicher Ebene erfasst werden könnten. Auch der Begriff des Lernen wurde problematisiert und damit ein bereits während der Tagung wiederholt angesprochener Aspekt aufgegriffen. Immer wieder war auf die Notwendigkeit hingewiesen worden, zwischen Lernprozessen in diktatorischen und in nichtdiktatorischen Systemen unterscheiden zu müssen, da offene Informationsflüsse das Lernen vom Gegner erheblich erleichterten. Man lerne indes, darauf wies Paulmann hin, nicht nur vom Gegner oder von theoretischem Wissen, sondern auch aufgrund eigener Fehler, weshalb er eine Typologie von Lernprozessen vorschlug, die zwischen adaptierendem Lernen, diskursivem Lernen und Lernen durch „Ansteckung“ differenziere. Problematisch an einer solchen Typologie erscheint indes, dass sie Kommunikationsströme nur nach ihrem Verlaufsmuster klassifiziert, nicht auf ihrem normativen Gehalt abklopft und spezifische Ausgangslagen von Verflechtung wie beispielsweise Feindschaft dann kaum mehr in den Blick geraten.

Schließlich zeigte die Abschlussdiskussion, dass auch Annahmen einer klaren Ost-West-Konfrontation zukünftig stärker in Frage gestellt werden müssen. Vielmehr handelt es sich eher um wandernde Grenzen die keine feste Grenzmarkierung zulassen und auch nicht immer als eindeutiges Gefälle zutage treten. So war Russland bis zum 19. Jahrhundert von den Zeitgenossen gemeinhin als ‚nördliches’ Land betrachtet worden und hatte seine Kartierung als ‚östliches’ Reich überhaupt erst im Laufe des 19. Jahrhunderts durch die Folgen der Aufklärung gewonnen. Deutlich wurde ebenso, dass die anfangs zur Diskussion gestellten Raster von Feindbeziehungen - ‚Transfer trotz Feindschaft’ über den ‚Transfer aufgrund von Feindschaft’ bis zur ‚Feindschaft durch Transfer’ in dieser Eindeutigkeit nicht haltbar waren. Weder ließ sich der Feindschaftsbegriff anhand der hier beobachteten Fälle so deutlich aufrecht erhalten, noch erwiesen sich die Lernprozesse als eindeutig markierbar, so dass Andreas Daum schließlich den analytischen Nutzen einer gleichzeitigen Verwendung aller vorgeschlagenen Begriffe bestritt. Die Vielfalt der Lernprozesse, die verschwimmenden Grenzen zwischen West und Ost, die Überlappung zwischen Feind, Gegner oder Vorbild und die Fragwürdigkeit wirklicher Verflechtung fordern eher zur Entschlackung der Begriffe und zur Auflösung vermeintlich eindeutiger Typologien auf. An die Stelle einer Typologie von Feindschaft und Transfer wird in der Publikation der Tagung daher eine analytische Auffächerung unterschiedlicher Lernprozesse unter den spezifischen Bedingungen von Konkurrenz, Gegnerschaft und Feindschaft treten.


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