10 Jahre Leipziger Buchwissenschaft

10 Jahre Leipziger Buchwissenschaft

Organisatoren
Universität Leipzig, Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft Fachbereich Buchwissenschaft und Buchwirtschaft, Leipzig
Ort
Leipzig
Land
Deutschland
Vom - Bis
02.12.2005 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Reimar Riese, Leipzig

Unmittelbarer Anlass dieser akademischen Veranstaltung war das zehnjährige Jubiläum der am Institut für Kommunikations- und Medienwissenschaft der Universität Leipzig verankerten Buchwissenschaft. Es handelt sich um einen dynamischen wie praxisbetonten Studiengang, den Dietrich Kerlen bis zu seinem frühen Tod im Jahre 2004 aufbaute. Somit stand das Kolloquium auch im Zeichen des Gedenkens an seine Gründerleistung.
Thematisch war der Bogen aber viel weiter als nur auf „10 Jahre Leipziger Buchwissenschaft“ gespannt. Er bezog die gesamte mit Leipzig verbundene Bildungstradition im Buchhandel ein, die von der 1853 in Leipzig eröffneten Deutschen Buchhändler Lehranstalt über die weltweit erste Professur für Buchhandelsbetriebslehre an der Handelshochschule bis zur Professur Buchwissenschaft und Buchwirtschaft an der Universität Leipzig reicht.
Ob mit der durch Dietrich Kerlen auch theoretisch begründeten1 und immer wieder verfochtenen Integration der Buchwissenschaft in die Kommunikations- und Medienwissenschaften wieder ein „Leipziger Modell“ geschaffen wurde, das war eine der zentralen Fragen, der von Thomas Keiderling und Erdmann Weyrauch ausgerichteten und moderierten Tagung, an der neben Mitarbeitern und Lehrbeauftragten des Instituts für Kommunikations- und Medienwissenschaft weitere Fachvertreter der Buchwissenschaft beteiligt waren.

Der synchrone Rückblick im ersten Teil der Tagung verdeutlichte zwei einander ergänzende direkte Traditionslinien. Deren eine führt von der Deutschen Buchhändler Lehranstalt, der ältesten noch bestehenden Berufsfachschule im dualen System der Berufsbildung, über die Fachschulen für Buchhändler 1920/30 und 1957 zum Studiengang Buchhandel/Verlagswirtschaft an der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur (HTWK) Leipzig; die andere von der 1925 zum 100-jährigen Jubiläum des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels gestifteten Professur für Buchhandelsbetriebslehre an der Handelshochschule Leipzig über das Institut für Verlagswesen und Buchhandel zu DDR-Zeiten an der damaligen Karl-Marx-Universität zur Professur für Buchwissenschaft/ Buchwirtschaft, die 1995 durch eine neuerliche Stiftungsinitiative des Buchhandels an der heutigen Universität Leipzig eingerichtet werden konnte.

Die erstgenannte Traditionslinie zeichneten Christian Uhlig und Ernst-Peter Biesalski (HTWK Leipzig)2 nach, die zweite Linie zogen Hans Altenhein (Darmstadt), Reimar Riese (HTWK Leipzig) und Thomas Keiderling, (Universität Leipzig) bis in die Gegenwart.
Hans Altenhein unterzog Gerhard Menz und die Leipziger Buchwissenschaft seit 1925 einer Nachprüfung. Menz gilt seit seiner Berufung zum außerordentlichen Professor für Buchhandelsbetriebslehre 1925 noch immer als Vordenker einer branchenorientierten und praxisbezogenen Buchwissenschaft. Doch wie sah es – so fragt Altenhein – um die von Menz so bezeichnete „Buchhandelsbetriebslehre“ wirklich aus? War sie eine spezielle Betriebswirtschaftslehre oder eher eine Sonderdisziplin mit eigener Theoriegrundlage? Wie verträgt sich die Innenperspektive buchhändlerischer Professionalisierung mit der Außenperspektive öffentlicher Kulturpolitik? Und schließlich: Was sind die Varianten einer akademischen Existenz, die durch vier Regierungssysteme hindurch Bestand hatte? Antworten auf diese kritischen Fragen suchte Altenhein einerseits in den Veröffentlichungen von Gerhard Menz, andererseits anhand einer Rekonstruktion seines akademischen Lebenslaufs.3 Eine interessante Diskussion entspann sich um die widerspruchvolle Rolle von Menz in der NS-Zeit und nach 1945 sowie im Hinblick auf den vor allem von seinen Schülern gepflegten „Mythos Menz“ in der Bundesrepublik.
Anders als dort fand der Name Menz in der DDR keine Erwähnung, auch nicht als 1968 auf Betreiben des Ministeriums für Kultur an der damaligen Karl-Marx-Universität ein „Institut für Verlagswesen und Buchhandel“ (IVB) gegründet wurde. Das hatte mit der anderen, der proletarischen Kulturtradition zu tun, der sich diese „staatsparteiliche Erziehungseinrichtung“ zuordnete. Dennoch kann trotz des Traditionsbruchs aus heutiger Sicht das IVB, das von 1968 bis 1992 und damit vier Jahre länger als die Menz-Professur bestand, nicht einfach übergangen werden, wenn von der Etablierung der Buchwissenschaft an der Leipziger Universität die Rede ist, betonte Reimar Riese. Wie der Staat DDR waren das IVB und die Entwicklung einer sozialistischen Buchwissenschaft an der Leipziger Universität widersprüchliche Zwischenspiele, auf die er in seinem so überschriebenen Beitrag detailliert einging.

Christian Uhlig schilderte frühe Bemühungen zur buchhändlerischen Aus- und Fortbildung, insbesondere den Weg der Deutschen Buchhändler-Lehranstalt (DBL), die zu DDR-Zeiten als Betriebsberufsschule dem Volksbuchhandel eingegliedert wurde und heute dem beruflichen Ausbildungszentrum in Leipzig zugehört. In den 1920er- und 1930er-Jahren entwickelte die DBL Fachschulstudiengänge, die bis 1952 fortgeführt wurden. Nach deren Wegfall wurde 1957 vom Ministerium für Kultur der DDR in Leipzig eine neue „Fachschule für Buchhändler“ gegründet. Daraus ging nach der politischen Wende 1992 der Studiengang Buchhandel/Verlagswirtschaft am Fachbereich Buch und Museum der HTWK Leipzig hervor. Dieser habe sich seither durch Praxisorientierung und betriebswirtschaftliche Ausrichtung erfolgreich auf dem gesamtdeutschen Markt „Studium rund ums Buch“ etablieren können und erfreue sich regen Zuspruchs, erläuterte Ernst-Peter Biesalski, der in seinem Beitrag „Buchwissenschaft und Buchwirtschaft für die Praxis“ das Ausbildungskonzept an der Leipziger Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur vorstellte. Gegenwärtig werde ein Bachelor- und zusammen mit europäischen Partnereinrichtungen auch ein internationaler Master-Studiengang vorbereitet. Wie sich im Hinblick auf den Bologna-Prozess künftig die Studiengänge der eher forschungsorientierten Universität von denen der eher praxisorientierten Fachhochschule unterscheiden könnten, das – so betonte Biesalski – seien Fragen, die nur im Gespräch miteinander vernünftig zu lösen sind.

Thomas Keiderling leitete mit seiner Bilanz die Etablierung der Buchwissenschaft an der Universität Leipzig zum zweiten Teil der Tagung über, in dem die Binnenperspektive im Vordergrund stand. Vom Sommersemester 1996 bis zum Wintersemester 2005/2006 wurden 180 Lehrveranstaltungen von insgesamt 20 Lehrkräften angeboten, wobei Gastdozenten – unter anderem von der HTWK Leipzig – einen wesentlichen Beitrag zur Abrundung des Lehrangebots leisteten.
Dietrich Kerlen habe in den letzten zehn Jahren ganz wesentlich das „Leipziger Profil“ der Buchwissenschaft unter dem Dach des Instituts für Kommunikations- und Medienwissenschaft bestimmt und die daraus erwachsenden Verbundvorteile, insbesondere den medienübergreifenden Vergleich zu nutzen gewusst. Dieses Modell umfasst drei Hauptgebiete: Buchökonomie als Medienökonomie, Buchgeschichte als Mediengeschichte und Buchtheorie im Rahmen einer vergleichenden Medientheorie. Vom Wintersemester 2006/2007 an werde es einen Bachelorstudiengang, später einen Masterstudiengang KMW mit integrierten buchwissenschaftlichen Lehrbestandteilen geben, deren Konturen gerade debattiert würden. Die für deren Praxisanteile notwendigen Lehrbeauftragten müssen künftig auch über einen neu gegründeten Förderverein finanziert werden.

Siegfried Lokatis (Berlin), der sich am Potsdamer Zentrum für Zeithistorische Forschung wie auch als Lehrbeauftragter an der Universität Leipzig um die Aufarbeitung der DDR-Verlagsgeschichte verdient gemacht hat, erinnerte in seinem Beitrag über die Moderne Buchhandelsgeschichte als Diktaturforschung in der ihm eigenen launigen Weise an Bahnhofstreffen mit Dietrich Kerlen, aus denen eine enge Zusammenarbeit im Hinblick auf die Berücksichtigung der neuesten Buchhandelsgeschichte im Seminarangebot erwuchs. Daraus sind über ein Dutzend Magisterarbeiten hervorgegangen, von denen einige im „Leipziger Jahrbuch zur Buchgeschichte“ veröffentlicht wurden.

Alexandra Fritzsch (Leipzig) reflektierte Nutzen und Nachteil der Buchgeschichte für die Praxis. Seit 1997 seien an der Leipziger Universität 86 Magisterarbeiten im Bereich Buchwissenschaft/Buchwirtschaft entstanden, von denen sich 52 (60 %) mit einem buchgeschichtlichen Thema beschäftigten. Dem stehe das Ergebnis einer Befragung gegenüber, wonach eine Mehrheit der Leipziger Universitätsabsolventen praktische Studieninhalte vermissten. Sie stellte daher die provokative Frage: „Brauchen wir die Buchgeschichte?“ Anhand ihrer Dissertation zum wissenschaftlichen Buchhandel in Leipzig um 1900 gab sie selbst eine Antwort darauf. Buchgeschichte sei und bleibe ein unverzichtbarer Teil der buchwissenschaftlichen Hochschulausbildung, doch sollte sie Forschung und Lehre nicht dominieren, stärker über nationale Grenzen hinweg vergleichend arbeiten und den Bezug zur Gegenwart betonen.

Volker Titel (Erlangen), zuvor wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Leipzig, sprach über Konzepte und Strategien des digitalen Buchmarkts und folgerte, dass sich sowohl mit Blick auf die theoretische Grundlegung als auch hinsichtlich der unternehmerischen Strategien in der Buchwirtschaft die Digitalisierung nicht als Bedrohung, sondern als Stärkung und Erweiterung des buchwissenschaftlichen Gegenstandbereiches erweise.

Zu einem ähnlichen Schluss kam Annegret Grimm (Leipzig). Ausgehend von praktischen Erfahrungen in der Evangelischen Verlagsanstalt betonte sie in ihrem Beitrag „Im Banne der Buchstaben. Texte, Typographie und Trägermedien im Zeitalter medialer Konkurrenz“, dass die „Ware“ der Verlage längst nicht mehr „Bücher“, sondern „Inhalte“ seien. Das Verlagsgeschäft bestünde folglich heute darin, für unterschiedliche Texte im Hinblick auf ihre Nutzung die jeweils geeignete „Verpackung“ in Typographie und auf Trägermedien zu wählen. Deshalb müssten künftige „Büchermacher“ im Zeitalter medialer Vielfalt über einen „gesamtmedialen Hintergrund“ verfügen, die buchwissenschaftliche Universitätsausbildung aber auch buchwissenschaftliche und medientheoretische Inhalte stärker auf Anforderungen der Verlagspraxis „zuschneiden“.

Erdmann Weyrauch, bis zur Neubesetzung der Leipziger Professur mit deren Wahrnehmung betraut, entwarf zum Schluss eine vorläufig (noch) nicht eben strahlende Vision für die Buchwissenschaft in Leipzig, was er ausdrücklich auf die derzeitige Umbruchsituation an der Universität bezog. Sein Fazit: Man sollte umgehend ein Konzept aus den frühen 1990er-Jahren aufgreifen und im Hinblick auf die Gestaltung von Bachelor- und Masterstudiengängen mit allen Medienbildungseinrichtungen, insbesondere mit der HTWK Leipzig und der Hochschule für Graphik und Buchkunst, ins Gespräch kommen und die Chancen einer sinnvollen Koordinierung der Lehrangebote im Interesse des Studienstandorts Leipzig nutzen.

Dies war, neben vielen Anregungen, das wohl wichtigste Ergebnis dieses gut organisierten Kolloquiums, an das sich ein abendlicher Höhepunkt in der Villa Ida anschloss. In einer Feierstunde am Sitz der Medienstiftung der Sparkasse Leipzig wurde erstmals der von ihr zum Gedenken an Dietrich Kerlen gestiftete Förderpreis Buchwissenschaft in Höhe von 2.500 € vergeben. Er ging an die Erlanger Studentin Claudia Halbmeier für ihre Magisterarbeit „Der Verleger-Ausschuss des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels (westliche Besatzungszonen und BRD): Konstituierung, Organisationsstrukturen und Haupttätigkeitsfelder in den 1950er und 1960er Jahren“. In seiner Laudatio hob der Geschäftsführende Direktor des Instituts für Medien- und Kommunikationswissenschaft, Günter Bentele, Umfang und Gründlichkeit der Archivrecherchen hervor, womit die Verfasserin buchhandelsgeschichtliche Grundlagenforschung im besten Sinne geleistet habe, auf die sich die Historische Kommission des Börsenvereins und die Bearbeiter des entsprechenden Bandes der Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert stützen können.
Die Beiträge dieses insgesamt gelungenen Kolloquiums werden 2006 im Erlanger Filos-Verlag erscheinen und in ausführlicher Form nachzulesen sein.

Anmerkungen:
1 Kerlen, D.: Buchwissenschaft als Medienwissenschaft.- In: Buchwissenschaft – Medienwissenschaft. Ein Symposion. Hrsg. von Dietrich Kerlen. – Wiesbaden: Harrassowitz 2004, S. 25–38 (Buchwissenschaftliche Forschungen; 4).
2 Dr. Christian Uhlig, 1992–1996 Gründungsprofessor des HTWK-Studiengangs Buchhandel/Verlagswirtschaft, Dr. Ernst-Peter Biesalski, Dekan des Fachbereichs Buch und Museum der HTWK Leipzig
3 Von Hans Altenhein erscheint dazu ein ausführlicher Beitrag im Leipziger Jahrbuch für Buchgeschichte 2006.


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