Historikertag 2002: Der Markt als historische Institution

Historikertag 2002: Der Markt als historische Institution

Organisatoren
44. Deutscher Historikertag Sektion 1.5. Der Markt als historische Institution Leitung: Prof. Dr. Werner Plumpe
Ort
Halle (Saale)
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.09.2002 -
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Von
Jan-Otmar Hesse, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt

Den Markt als Gegenstand einer epochenübergreifenden Sektion zu machen, die vom späten Mittelalter bis zum Neuen Markt reichte, erwies sich als eine ausgesprochen produktive thematische Klammer. Während ganz unterschiedliche Akteure (Unternehmer, Klassen, Staat und Verbände) von der Wirtschafts- und Sozialgeschichte in der Vergangenheit immer wieder untersucht wurden, blieb die Arena ihres Handelns bislang vergleichsweise blaß. Und so war es Zweck der Einleitung von Sektionsleiter Werner Plumpe (Frankfurt am Main), zunächst auf die Bedeutung der historischen Institution Markt aufmerksam zu machen. Vor allem - so Plumpe - komme es darauf an, den Markt selbst zu historisieren und ihn nicht etwa, wie es in ökonomischen Theorien bis hin zur modernen Neuen Institutionenökonomie ebenso wie in vielen Gesellschaftstheorien üblich ist, als naturnotwendige und immer schon vorhandene Institutionalisierungsform von ökonomischen Transaktionen aufzufassen. Der Markt ist ein seinerseits historisches Produkt und seine Untersuchung als historische Institution soll daher auch einen Beitrag zur Entstehung moderner ökonomischer Systeme leisten, in denen der Markt die zentrale Allokationsleistung nur scheinbar voraussetzungslos vollbringt.
Nach diesen einleitenden Bemerkungen über theoretischen Anspruch und historiographische Möglichkeiten eines so verstandenen Marktbegriffs schilderte Michael Rothmann (Köln) unterschiedliche Formen von Märkten im mittelalterlichen Deutschen Reich. Sein Hauptaugenmerk galt dabei nicht den permanenten städtischen Wochenmärkten, sondern den Jahrmärkten die bereits im 13. Jh. grundlegende Funktionen der überregionalen Güterversorgung übernommen hatten. Die regionalen Beispiele aus der Hochrhön und dem Neckarraum brachten eine erstaunliche Zahl solcher Jahrmärkte auch in sehr kleinen Städten zutage, die teils in Konkurrenz zu den eher lokalen Wochenmärkten standen, teils aber auch eine Ergänzung dieser Märkte darstellten, waren doch die überregionalen Händler der Jahrmärkte regelrecht spezialisiert und nicht deckungsgleich mit den Anbietern der Wochenmärkte.
Mit einen größeren zeitlichen Sprung setzte Wilfried Forstmann (Frankfurt am Main) diese historischen Ausführungen zu unterschiedlichen Formen von Märkten fort. Am Beispiel des Finanzmarktes in Frankfurt am Main im 18. Jahrhundert und den Möglichkeiten des Privatbankhauses Bethmann überprüfte Forstmann die Leistungsfähigkeit der zeitgenössischen Finanzmärkte für größere ‚Finanzierungsprojekte' in diesem Fall insbesondere dem Staatsbudget der Habsburger, zu deren wichtigen Finanzier die Bethmann aufgestiegen waren. In einer Mikroanalyse der ökonomischen Beziehungen zwischen Herrscher- und Bankhaus wurde sehr deutlich, daß auch auf den bereits komplett funktionsfähigen internationalen Finanzmärkten des 18 Jh. insbesondere die Vertrauensbildung zwischen Kreditnehmer und Gläubiger die entscheidende Rolle für das Zustandekommen des Geschäfts bildete; die kulturelle Einbettung war damit eine Voraussetzung für das Funktionieren des Marktes.
Thomas Welskopp (Göttingen) brachte mit seinem Vortrag über den Marktbegriff der Arbeiterbewegung in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine weitere Perspektive in die Diskussion. Während er in der Marxlektüre der frühen Sozialdemokratie die Verengung zeigen konnte, daß eine Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit faktisch auf den Innenraum der Fabrik, die betriebliche Hierarchie reduziert wurde, führte ihn die soziale Analyse seiner Klientel zu einem anderen Schluß: Die häufig als kleine Unternehmer - idealtypisch am Beispiel des Daseins als Schuhmachermeister August Bebel erläutert - selbst von Markterfahrungen geplagten Sozialdemokraten trugen auf diese Weise ihre persönliche Erfahrung einer übermächtigen Konkurrenz der Verlage und Großunternehmer in die Gesellschaftstheorie. Während der Markt in diesem Denken als Institution kaum erwähnt wurde, zielte die Kritik in häufig pathetischer Weise auf die Auswüchse der Konkurrenz und den Mißbrauch von Marktmacht.
Ebenfalls auf der Ebene der Wahrnehmung des Marktes bewegte sich Jan-Otmar Hesse (Frankfurt am Main) in seinem Vortrag über den Marktbegriff der bundesdeutschen Volkswirtschaftslehre in den 1950er und 1960er Jahren. Die Sprache, der sich die Volkswirte bei ihren Definitionen des Marktes und in der Kartelldebatte bei der Beschreibung des Marktes bedienten, weise auf ein mechanistisches Weltbild hin, in dem gleich der Physik naturgesetzliche Kräfte wirken, die die Märkte zum Ausgleich bringen. Diese erstaunliche Einfachheit in der Beschreibung des "Marktmechanismus" - so Hesse - überträgt sich auf die nationalökonomischen Modelle auch in anderen Bereichen und erst seit den 1960er Jahren verbindet sich der Marktbegriff mit dem "Wettbewerb"-Begriff zu einer Dynamik, dem "Marktprozeß", wie Ludwig von Mises es bezeichnet, der dann zu einer inneren Triebfeder der Marktwirtschaft insgesamt stilisiert wird. Ob die Volkswirtschaftslehre und ihre Modelle in der Bundesrepublik nur eine abgeleitete Funktion dieser Semantik ist, läßt sich nicht zuletzt deshalb schwer beantworten, weil die Wirtschaftswissenschaft sich insgesamt bislang sehr erfolgreich vor einem linguistic turn in ihrer Dogmengeschichte behütet hat.
Mit den Ausführungen von Helge Peukert (Erfurt) wurde das bislang jüngste Kapitel in der Geschichte des Marktes als historischer Institution in der Sektion beleuchtet. Der Deutsche Neue Markt wurde von der Deutsche Börse AG in den 1990er Jahren als neues Börsensegement durch die Festlegung bestimmter Regeln aus der Taufe gehoben. Es wurde damit zur Kapitalisierung von Unternehmen hauptsächlich aus dem Bereich der neuen Medien und der Biotechnologie ein Markt geschaffen, der im Grunde nur auf der optimistischen Erwartung in die Potenz des Sektors beruhte. Über die Funktionsweise und Risiken eines solchen "Produktes" waren sich weder die Gründer noch die Anleger während der gesamten Geschichte des Neuen Marktes im Klaren. Aufgrund der unprognostizierbaren Tendenzen erlebten während der mittlerweile abgeschlossenen kurzen Geschichte des Neuen Marktes die unterschiedlichsten und vor allem vollständig unvereinbaren Theorien über die Entwicklung von Aktienmärkten und Anlegerverhalten zeitgleich Konjunkturen. Wenn auch kaum Wohlstand für die Anleger, hat der Neue Markt doch immerhin zu einer verstärkten Konjunktur bei den Finanzmarkttheorien geführt -so könnte man seine Geschichte zynisch zusammenfassen.
Die Sektion hat eines zweifelsfrei gezeigt, nämlich das ungewöhnliche Erkenntnispotential, das in einer konsequenten Untersuchung des Marktes als historischer Institution für die wirtschafts- und sozialhistorische Forschung steckt. Viele Phasen der Entwicklung des Marktes sind empirisch noch genauer zu untersuchen. Gewinnbringend hierbei dürfte sich die Erkenntnis erweisen, die auch in den Diskussionen in der Sektion immer wieder aufgenommen wurde, daß der Markt kein Automatismus zu einer je zeitgenössisch optimalen Güterallokation ist, sondern ein gesellschaftlich konstruierter ökonomischer Zusammenhang, der mit jedem Akt seiner Thematisierung immer wieder von neuem entsteht.

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