Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz

Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz

Organisatoren
Prof. Dr. Klaus-Michael Bogdal (Bielefeld), Dr. Matthias N. Lorenz (Bielefeld), Dr. habil. Klaus Holz (Villigst)
Ort
Bielefeld
Land
Deutschland
Vom - Bis
31.01.2007 - 03.02.2007
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Von
Matthias Buschmeier, Fakultät für Linguistik und Literaturwissenschaft, Universität Bielefeld

Dass es einen Unterschied des literarischen Umgangs mit dem Phänomen des Antisemitismus vor und nach Auschwitz gibt, dürfte als Befund kaum überraschen. Eine Tagung im Bielefelder Zentrum für interdisziplinäre Forschung zum Thema „Literarischer Antisemitismus nach Auschwitz“ beschäftigte sich im Januar daher auch weniger mit dem ‚ob‘ als vielmehr mit dem ‚wie‘ dieses Unterschieds. Dabei setzt die Fragestellung eines bereits voraus: Es gibt ihn, den literarischen Antisemitismus nach dem Holocaust. Antisemitismus ist nicht allein ein politisches oder soziologisches Phänomen, sondern auch ein literarisches. Die Literaturwissenschaft hat sich also damit zu beschäftigen, will sie sich nicht dem Verdrängungsvorwurf aussetzen. Welche kulturelle Sprengkraft aber diese Position noch birgt, war jüngst an den Invektiven anlässlich der Dissertation von Matthias N. Lorenz, Mitinitiator der Tagung, zum Antisemitismus im Werk Martin Walsers zu beobachten. Das Programm mit Vorträgen zum Antisemitismus der Gruppe 47, bei Max Frisch, Fassbinder, Schlink, ja selbst Günter Grass, um nur die bekanntesten Namen zu nennen, ließ ein ähnliches Provokationspotential ahnen. Dass es anders kam und sich die Veranstaltung keineswegs in moralischer Anklage erschöpfte, ist vor allem der umsichtigen Konzeption der Tagungsleiter Klaus Holz, Matthias Lorenz und Klaus-Michael Bogdal geschuldet.

Im Zentrum des ersten Tagungstags stand zunächst der Versuch einer begrifflich-methodischen Klärung des Gegenstandsbereichs. Klaus-Michael Bogdal (Bielefeld) skizzierte in seiner Einleitung zwei Formen der literaturwissenschaftlichen Antisemitismusforschung – moralische Betroffenheit und ethische Appellstruktur einerseits und der Versuch einer nüchternen Analyse literarischer Figurationen jenseits der Kategorien von auktorialer Anklage andererseits. Plädierte Bodgdal explizit für diese zweite Form der Analyse gesellschaftlich-kultureller Semantiken, so zog sich die Spannung zwischen beiden Ansätzen ersichtlich durch die weiteren Beiträge der Tagung.

An Bogdals Forderung nach systematisch-methodischer Reflexion des Problems anknüpfend entwickelte Klaus Holz (Villigst) entlang der durch Ferdinand Tönnies eingeführten Kategorien von Gemeinschaft vs. Gesellschaft ein Modell antisemitischen Denkens, das ohne einen Rekurs auf Gemeinschaftsphantasien nicht auskommen kann. Familie, Dorf, Nation als Gemeinschaft des Bluts, des Ortes und des Geistes bedingen immer Exklusionsfiguren und Stigmatisierungen, Konstruktionen von Identität und Nicht-Identität, Täter-Opfer Dichotomien. Juden, so Holz, werden in diesen Dichotomien zu Repräsentanten der negativ belegten Dimensionen des Sozialsystems einer Gesellschaft und daher leicht identifizierbar etwa mit Kapitalakkumulation oder vorgeblich gemeinschaftszersetzender Pressearbeit. Auf der anderen Seite fielen die Juden aus der binären Unterscheidung von Wir-Gruppen hinaus, da sie, anders als etwa „die Franzosen“, selbst über keine nationalstaatliche Bindung verfügten. Sie sind, so Holz, eine Figur des Dritten mit einer „nicht-identischen Identität“. Die Verortung der Juden jenseits nationaler Ordnungsgefüge lässt sie erst recht als Bedrohung der eigenen nationalen Identität erscheinen und kann so zur Grundlage eines antisemitischen Nationalismus avancieren. Für eine Analyse von literarischem Antisemitismus bedeute dies aber, dass nicht allein das Judenbild, sondern parallel auch das in einem Text konfigurierte Selbstbild der Wir-Gruppe in den Blick kommen müsse. Damit verweist Holz auf einen Punkt, der in den Diskussionsbeiträgen mehrfach aufgegriffen wurde, die Beiträge selbst aber wenig prägte. Angesichts der Fokussierung der Betrachtung auf die literarischen Judenbilder ließe sich diskutieren, ob damit nicht, in Anlehnung an Werner Bergmanns Terminologie, eine Form von tertiärem Antisemitismus Einzug in die literaturwissenschaftliche Betrachtung hält – da immer nur „die Juden“ im Zentrum der Betrachtung stehen, ohne die eigene Zugehörigkeit zur deutschen Wir-Gruppe zu reflektieren.

Der Beitrag von Werner Bergmann (Berlin) beschrieb die Position der ‚Opfer als Bedrohung‘ anders als Holz. Mit Adornos Begriff des „Schuldabwehr-Antisemitismus“ ließe sich durchaus ein wichtiges Strukturmoment des Antisemitismus nach Auschwitz in seiner Täter-Opfer-Inversion beschreiben. Antisemitismus erscheint hier unter der Maske der Selbstverteidigung gegenüber einem unberechtigten individuellen Schuldvorwurf. Die Kollektivschuld wird vielmehr umgekehrt: Die Juden als Kollektiv werden nun für eine Verurteilung von individuell ‚schuldlosen‘ Bürgern verantwortlich gemacht und daher selbst für antisemitische Einstellungen verantwortlich, wie etwa im Möllemann-Friedmann-Streit und der Walser-Debatte deutlich geworden sei. Wenngleich Schuldabwehr nicht automatisch Antisemitismus bedeute, so Bergmann, dann sei es aber doch Motiv für einen sekundären Antisemitismus, der zwar nicht den Holocaust an sich leugne, jedoch über die angebliche Verweigerung ‚der Juden‘ zur Aussöhnung ein neues jüdisches Feindbild konstruiere.

Die sich anschließende Diskussion warf die Frage auf, ob man der gegenwärtigen Debatte noch über den Begriff der Schuld gerecht werden könne, da lebenszeitlich in der Tat immer seltener von moralischer Schuld gesprochen werden könne und daher der Begriff „Schuldvorwurfabwehr-Antisemitismus“ eher für die Positionen Walsers, Hohmanns oder Schlinks zutreffe. Andrea Geier (Marburg) zeigte denn auch, dass insbesondere die deutsche Linke mit ihrer Verknüpfung von Intellektualismus und Schuldzuweisung der konservativen Kulturkritik neue antisemitische Argumentationstopoi liefere, die, so in Botho Strauss’ „Bocksgesang“, in linker ‚Bevormundung‘ ein Kommunikationstabu und eine repressive Erinnerungskultur sehen, die einseitig die deutsche Opferrolle ausblende. Antisemitismus als Kulturkritik sei insbesondere dadurch gekennzeichnet, so Geiger, dass sie sich einerseits als Aufklärung bisher verborgener bzw. unterdrückter Strukturen verstehe, andererseits aber eine Mythisierung von „Verhängnis und Schicksal“ des deutschen wie des jüdischen Schicksals gegen historische Aufklärungsarbeit ausspiele.

Die zweite Sektion, „‚Wer spricht?‘ und andere Probleme der Literaturwissenschaft“, wurde von Mark H. Gelber (Beer-Sheva) mit einem intermedialen Vergleich zwischen literarischen Stereotypen des Antisemitismus und ihrer filmischen Reinszenierung eröffnet. Wird über die Frage, wer spricht, im Falle der Literatur bereits eine interne Differenzierung zwischen Figur, Erzähler und Autor nahegelegt und damit die Frage nach dem Adressaten des Antisemitismus-Vorwurfs akut, so verschärfe sich dieses Problem im Film um ein weiteres. Am Beispiel von Mel Gibsons umstrittenem Regiewerk „The Passion of Christ“ etwa stelle sich die Frage, ob literarisch eingeübte antisemitische Stereotype (zu Unrecht) auf den Film und seinen Regisseur übertragen würden. Der Film wurde gänzlich in den dem (westlichen) Publikum weitgehend unzugänglichen Sprachen Aramäisch und Hebräisch produziert. Damit verlagert sich Sinnkonstitution gänzlich auf den Untertitel als Text sowie auf die Ikonographie des Films. Gelber aber, der beide Sprachen beherrscht, kann gerade in der Bild-Text-Audio-Differenz keine Eindeutigkeit antisemitischer Haltungen ausmachen. So wären Juden und Nicht-Juden visuell nicht zu unterscheiden, Antisemitismus demnach eher ein ‚Text-‘ als ein ‚Bildeffekt‘. Daran schließt sich aber die Frage an, ob Gibson nicht bewusst mit diesem Texteffekt kalkuliert, indem er auf die jahrhundertelang kulturell eingeübten Mechanismen der Erzeugung antisemitischer Einstellungen durch Texte zurückgreift, um im Gegenzug sich selbst und sein visuelles Werk, eben den Film, von dem Antisemitismus-Vorwurf entlasten zu können.

Mona Körte (Berlin) fragte in ihrem Vortrag nach Automatismen des literarischen Antisemitismus. Durchaus in Analogie zu der von Klaus Holz in seinem Eingangsvortrag getroffenen Unterscheidung zwischen Gemeinschaft und Gesellschaft konnte Körte das ‚Maschinenmäßige‘ vieler literarischer jüdischer Figuren aufweisen. Die Assoziierung des Juden mit Denkfiguren der industriellen Entfremdung führe zu einem Bild seelen- und charakterloser Maschinen. Auf der anderen Seite ermögliche die Maschinen-Metapher die größtmögliche Projektionsfläche für bestimmte Stereotype. Die jüdische Figur funktioniere im Text selbst als Instrument für Zuschreibungen; ihr bleibt, so Körte, daher ein identifikatorisches Eigenleben verwehrt.

Florian Krobb (Maynooth) lieferte anschließend eine literarische Vorgeschichte zum Tagungsthema, indem er auf den literarischen Antisemitismus im 19. Jahrhundert, insbesondere in Wilhelm Raabes „Der Hungerpastor“ (1864), Wilhelm von Polenz’ „Der Büttnerbauer“ (1895) und das berüchtigte „Die Sünde wider das Blut“ von Arthur Dinter (1918) einging. Krobb stellte so eine in den Beiträgen bislang ausgeblendete Frage: Sind literarische Antisemitismen vor und nach Auschwitz grundsätzlich anders zu bewerten? Erfordern sie ein anderes Analyseinstrumentarium? Ist der Antisemitismus des 19. Jahrhunderts nur als ‚Vorgeschichte‘ zu lesen oder kommt ihm in der jeweiligen historischen Situation eine bestimmte Bedeutung jenseits des Fluchtpunktes ‚Auschwitz‘ zu?

Diese Fragen nahm Yahya Elsaghe (Bern) in seinem Vortrag über das Werk Thomas Manns vor und nach Auschwitz ernst. Anhand einer philologisch überaus genauen Analyse, die auch handschriftliches Material mit einbezog, kam Elsaghe zu dem Befund, dass vor dem Zweiten Weltkrieg beinahe jeder zweite Arzt in Manns Werk ein Jude ist, gegenüber einem statistischen Realwert von ungefähr zehn Prozent. In einer Mikroanalyse des „Doktor Faustus“ zeigte Elsaghe dann, dass etwa zeitgleich mit Manns Kenntnisnahme von Auschwitz, ermöglicht durch alliierte Geheimdienste, jüdische Figuren fast gänzlich verschwanden, durch Namensänderung ihre jüdische Identität ablegten bzw. diese durch Umschreibungen verdeckt wurden. Der handschriftliche Befund, so Elsaghe, weist diese Tilgungen eindeutig als bewusste Handlungen des Autors aus. Dafür diesen Befund bieten sich zwei Interpretationsmöglichkeiten an. Mann könnte, so eine Lesart, damit auf das Verschwinden und die Auslöschung der Juden in der europäischen Kultur aufmerksam machen wollen. Elsaghe hingegen interpretiert Manns Verhalten als Befangenheitsgeste gegenüber seinem eigenen Werk vor Auschwitz, als Unvermögen, über Juden weiterhin sprechen und schreiben zu können. In dieser Interpretationsperspektive aber wäre Thomas Mann ein Beispiel für die Selbstzensur und Kommunikationstabus einer von Beginn an repressiven Erinnerungskultur, wie sie Andrea Geier als Stereotype antisemitischer Kulturkritik herausgestellt hatte – eine Perspektive, die damit aber auch geeignet ist, dieser ‚neuen‘ Form des Antisemitismus in die Hände zu spielen.

In der abschließenden Diskussion der Sektion wurden noch einmal zentrale Fragen und Probleme gebündelt, die sich beim literaturwissenschaftlichen Umgang mit dem Phänomen Antisemitismus methodisch stellen. Ist etwa eine ‚Checkliste‘, wie sie Martin Gubser in seinem Buch „Literarischer Antisemitismus“ zusammenstellt, 1 abseits moralischer Bewertungen methodisch überhaupt handhabbar? Sind der Einsatz bestimmter rhetorischer Mittel, die Identifizierung semantischer Muster tatsächlich ein „Beweis“, mit dem einem Text Antisemitismus attestiert werden kann? Und wie verhalten sich diese Befunde zur Intentionalität der Autorrolle? Mona Körte betonte mit der Umdrehung der aufklärerischen Interpretationsprämisse, ein Autor sei nie der beste Ausleger seiner selbst, dass der Text seine Rezeption und damit auch die auf ihn geworfenen Projektionen nie gänzlich zu steuern vermöge. Das Feuilleton, so Körte, das sich des Themas immer gern annehme, reduziere den literaturwissenschaftlich oft differenzierten Befund allzu gerne auf eine Autorposition. Dem wurde entgegengehalten, dass eine diskurstheoretische Betonung der Eigenbewegung der Texte eben auch dazu instrumentalisiert werden könne, Autoren aus ihrer Verantwortlichkeit zu entlassen. Provokant gefragt: Muss man nicht sagen dürfen, dass der Autor von „Mein Kampf“ ganz offenbar Antisemit war? Matthias Lorenz machte darauf aufmerksam, dass mit einer solchen Identifizierung der Autorposition gleichwohl oft eine tiefer gehende Erkenntnis antisemitischer Argumentations- und Präsentationsmuster verhindert werde. Michael Hofmann (Paderborn) bezeichnete überdies die moralische Bewertung „literarischer Antisemitismus“ als höchst problematisch, da diese Zuschreibung für den Autor ein schwer zu revidierendes soziales Stigma bleibe. Dieser Ansicht widersprachen Jan Philipp Reemtsma (Hamburg) und der Schriftsteller Robert Schindel (Wien): Problematisch an den jüngst geführten Debatten sei vielmehr, dass genau dies nicht geschehe.

In der dritten Sektion standen Fallstudien zu einzelnen Autoren im Vordergrund, anhand derer die zuvor diskutierten Problematiken erneut diskutiert wurden. Hans Joachim Hahn (Leipzig) unternahm den Versuch einer Rekonstruktion von Ruth Klügers These zum literarischen Antisemitismus. Ihre Frage: „Gibt es ein Judenproblem in der deutschen Nachkriegsliteratur?“ ziele dabei, so Hahn, auch auf vordergründige „Wiedergutmachungsphantasien“, die stets Gefahr liefen, die historische Realität zu beschönigen. Anat Feinberg (Heidelberg) nahm in ihrem beeindruckenden Vortrag Inszenierungen jüdischer Bühnenfiguren in Deutschland nach 1945 in den Blick. Im Fokus standen dabei die zahlreichen Inszenierungen von Lessings „Nathan der Weise“ von und Shakespeares „Kaufmann von Venedig“. Jenseits der Textvorlage versuchten Regisseure wie Wisten, Tabori und Zadek die Stücke als Folie des deutschen Umgangs mit dem ‚Judenproblem‘ nach Auschwitz zu inszenieren. So steht der Jude Nathan bei Wisten abseits der deutschen Wiedergutmachungsphantasien, von denen Klüger spricht. Tabori hingegen spielte in seiner Regiearbeit „Improvisationen über Shylock“ mit den Freund- und Feindbildern des Juden und verlangte es dem Zuschauer ab, sowohl den Juden als auch den Antisemiten in sich selbst zu suchen. In seiner provokant antisemitischen Aufführung des „Kaufmanns von Venedig“ konfrontierte Peter Zadek den Zuschauer mit einem durch und durch hassenswerten Juden Shylock: Die Deutschen, so Zadek, müssten endlich auch den bösen Juden akzeptieren lernen. Solange sie immer weiter den ‚guten Juden‘ einforderten, hätten sie noch nicht damit begonnen, ihre Schuld aufzuarbeiten. Die Inszenierung, so Feinberg nach Zadek, ziele darauf, den bösen Menschen Shylock zu zeigen, dessen Moral aber mit seinem Judentum eben nicht zu identifizieren ist.

Heftig diskutiert wurden diese Fragen auch im Anschluss an Janusz Bodeks (Frankfurt/M.) Referat „Fassbinder ist kein Shakespeare und Shylock kein Überlebender des Holocaust“. Bodek verortete die reichen Juden aus Fassbinders umstrittenem Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“ auf einer Linie mit Shakespeares Shylock und verwies auf weitere äußerst negativ gezeichnete jüdische Figuren in weiteren Regiearbeiten Fassbinders, so dass man bei ihm in der Tat von einem ‚linken Antisemitismus‘ sprechen könne. Eine solche Einschätzung wollte Klaus-Michael Bogdal nicht gelten lassen: Fassbinder gehe es vielmehr um die Thematisierung einer Außenseitererfahrung, seine Verfahren müssten vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Kultur des „Tabubruchs“ gesehen werden. Bodek insistierte hingegen auf seiner These mit dem Hinweis, dass nicht-jüdische Minoritäten (Homosexuelle, Gastarbeiter, Prostituierte) von Fassbinder nie auf eine solche abwertende Art dargestellt wurden wie die Juden. Fassbinders Vorlage wiederum, Gerhard Zwerenz’ Roman „Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond“, war Gegenstand von Micha Brumliks (Frankfurt/M.) Beitrag. Der ‚linke‘ Autor Zwerenz bediente demnach in seiner literarischen Verarbeitung des Frankfurter Westend-Konfliktes in den 70er Jahren massiv antijüdische Ressentiments, indem er ausgerechnet die Immobilienmakler als jüdische Figuren zeichnete und deren Verhalten als ‚jüdische Rache‘ für den Holocaust darstellte.

Die anschließende Diskussion machte deutlich, dass es ganz offenbar einen Unterschied zwischen den Arbeiten jüdischer und nicht-jüdischer Autoren gibt. Diese zeigten sehr viel mehr Mut zur provokativen Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus als jene, die sich, wenn sie nicht bewusst antisemitische Stereotype bedienten, auf ein politisch korrektes Judenbild verpflichten. Daran schloss sich die Frage an, ob es einen Wirkungsunterschied mache, wenn solche Stereotype von jüdischen oder nicht-jüdischen Autoren präsentiert werden. Diese Frage müssen sich insbesondere die diskurstheoretischen Studien stellen lassen, wenn sie die Autorkategorie auszublenden vorgeben.

Michael Hofmann (Paderborn) griff in seinem Beitrag die aktuelle Diskussion um den literarischen Antisemitismus der Gruppe 47 am Beispiel H. W. Richters auf. Bei Richter fänden sich zwar keine negativ gezeichneten jüdischen Figuren oder Stereotype, aber doch, so Hofmann, eine ausgeprägte Neigung der individuellen wie kollektiven Schuldabwehr. Die Tendenz, Verantwortlichkeit der NS-Verbrechen auf deren Funktionseliten abzuwälzen, werde dabei durch die Forderung nach einem absoluten Neuanfang verstärkt. Im Anschluss an Hofmanns Beitrag wurde erneut problematisiert, ob die Kategorie des ‚literarischen Antisemitismus‘ sich tatsächlich dazu eigne, einem solchen Phänomen gerecht zu werden – zumal H. W. Richter ebenso wie andere Autoren der Gruppe 47 für sich explizit in Anspruch nahmen, den Deutschen die Schuldfrage zu stellen und ihnen ihren versteckten oder offenen Antisemitismus vorzuhalten. Dabei blendeten sie aber, wie der Umgang mit Paul Celan in der Gruppe zeigte, ihre eigene Position aus. Hofmanns Vortrag wurde von Gilad Margalits (Haifa) Darstellung zu Günter Grass‘ Verhältnis zum jüdischen Staat ergänzt, dessen Umgang mit der Palästinenser-Frage für den politischen Autor Grass mehr als eine nationalstaatliche Angelegenheit sei und mit einem Rekurs auf das ‚jüdische Schicksal‘ verknüpft werde.

Jan Philipp Reemtsma (Hamburg) stellte die Frage: „Ist Max Frischs ‚Andorra‘ antisemitisch (wie Georg Kreisler behauptet hat)?“ Wenngleich Reemtsma die Frage mit einem zögerlichen Nein beantwortete, so bleibe doch der Eindruck einer völlig missratenen Auseinandersetzung mit dem Thema Holocaust durch Frisch. Die Parabelhaftigkeit des Stücks führe zu einer gefährlichen Entkonkretisierung der Schoah. In der anschließenden Diskussion wurde zum Teil heftig über den Zusammenhang von literarischer Qualität und Antisemitismusvorwurf gestritten. Kai Kauffmann (Bielefeld) etwa verwies auf die Gattungsproblematik: Einem Parabelstück der 50er Jahre könne man seinen Parabelcharakter nicht zum Vorwurf machen, ohne ihn auf andere Parabelstücke der Zeit auszuweiten. Elsaghe merkte zudem an, dass der Einzelbefund zu „Andorra“ kaum für eine allgemeine Einschätzung der Position Frischs ausreichen dürfe und mahnte kontexualisierende Untersuchungen an.

Über Parallelen zur Handlung in „Andorra“ konnte Willi Jaspers (Potsdam) in seinem Vortrag zu „Holocaust-Travestie, falsche Identität und Grenzen der Zeugenschaft“ berichten. Der berühmte Fall Wilkomirski, dessen Erinnerungsbuch „Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939 bis 1948“ von Schweizer Journalisten als Täuschung entlarvt wurde, stelle die Frage, ob es denn wirklich einen kategorialen Unterschied zwischen fiktiver und vorgeblich authentischer Darstellung des Holocaust gebe. Die emphatische Aufnahme des Werks durch das Feuilleton im In- und Ausland aber verweise in jedem Fall auf die problematische Attraktivität der Opferrolle, die anschließende Verachtung und Verdammung des Autors wiederum auf die geringe Bereitschaft der Anerkennung der Schuld unter dem Verweis auf die Fiktionalität dieser spezifischen ‚Erinnerung‘.

Matthias N. Lorenz (Bielefeld) widmete sich anhand von drei Texten Bernhard Schlinks erneut der Frage „Wer spricht?“ bzw. „Wer darf sprechen?“ Lorenz vertrat die These, dass Fassbinder, Walser und Schlink ihre Beiträge zur „Schuld-Debatte“ bewusst auf die Aktivierung von Kritik hin konzipierten, um anschließend eine Bestätigung ihrer These von diskursiven Redetabus daraus abzuleiten. Dies sei auch das zentrale Thema Schlinks, wie Lorenz anhand der Kurzgeschichte „Die Beschneidung“, des Essays „Auf dem Eis“ und des juristischen Fachaufsatzes „Recht-Schuld-Zukunft“ eindrücklich zeigen konnte. So sind es bei Schlink weniger jüdische Figuren, die mit antisemitischen Stereotypen gezeichnet werden, als Deutsche, die ihnen gegenüber immer wieder verstummen oder denen das Rederecht abgesprochen wird. Diese Darstellungsstrategie führe letztlich zu einer Inversion der Täter-Opfer Beziehung. Heute, 50 Jahre nach dem Holocaust, so suggerierten Schlink und Walser, seien die Deutschen zum Opfer jüdischer Erinnerungspolitik geworden. Lorenz‘ beeindruckende Beweisführung anhand unterschiedlicher Textgenres ließ einmal mehr die Frage aufkommen, ob angesichts einer solchen Eindeutigkeit des Befundes dieser nicht auch auf den Autor zurückfallen müsse. Wenngleich Lorenz dies nicht gänzlich bestreiten wollte, so wies er diese Frage als nebensächlich zurück: Es müsse der literarischen Antisemitismusforschung um die diskursive Funktion der Texte gehen, nicht um mögliche Intentionen der Autoren.

Zur Abrundung der Sektion „Fallstudien“ wagte Arnold Heidsieck (Los Angeles) einen komparatistischen Ausblick auf die amerikanische Gegenwartsliteratur, in der, so Heidsieck, einerseits die jüdische Identität von Autoren überhaupt keine Rolle spiele, auf der anderen Seite aber auch in den USA ganz ähnliche literarische Antisemitismen zu finden seien wie in den präsentierten deutschen Beispielen aus Deutschland. Umrahmt wurde die Tagung von einer Lesung Robert Schindels in der Bielefelder Universitätsbibliothek, zu der mehr als 150 Zuhörer kamen, und einer Podiumsdiskussion mit Schindel und dem Berliner Antisemitismusforscher Wolfgang Benz.

Die Diskussionen wurden durchweg auf hohem Niveau geführt. Die Beiträge werden in Form eines Tagungsbandes demnächst im Metzler-Verlagerscheinen. Der Band wird Michael Zimmermann (Essen) gewidmet sein, der nach langer Krankheit unmittelbar vor der Tagung verstorben war. Bis zuletzt hatte Zimmermann noch an einem kritischen Beitrag zum Begriff des Antiziganismus als Pendant zum Antisemitismus gearbeitet. Auch dieser Beitrag wird im Sammelband enthalten sein.

Anmerkung:
1 Martin Gubser, Literarischer Antisemitismus. Untersuchungen zu Gustav Freytag und anderen bürgerlichen Schriftstellern des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1998

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Dr. Matthias N. Lorenz
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