Staatswissen (,savoirs d’État‘) klassifizieren und benennen (1750-1850)

Staatswissen (,savoirs d’État‘) klassifizieren und benennen (1750-1850)

Organisatoren
Forschungsgruppe „Euroscientia“; Isabelle Laboulais, Straßburg; Petra Overath, Köln
Ort
Straßburg
Land
France
Vom - Bis
27.11.2013 - 28.11.2013
Url der Konferenzwebsite
Von
Alexander van Wickeren, a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne, Universität zu Köln; Manuel Manhard, Lehrstuhl für Geschichte der Frühen Neuzeit, Universität Augsburg

Der von der deutsch-französischen Forschungsgruppe „Euroscientia“ veranstaltete Workshop nahm es sich zum Ziel, Praktiken der Klassifizierung und Kategorisierung der savoirs d'État zu untersuchen. Unter savoir d'État oder staatsbezogenem Wissen verstanden die Organisatorinnen jene praktischen sowie disziplinär geordneten Wissensbestände, die in der „Sattelzeit“ (Reinhart Koselleck) unter dem Paradigma der Nützlichkeit für den Staat aufgebaut und weitergegeben wurden. Der Workshop sollte nun genauer beleuchten, wie bestimmte Domänen und Disziplinen des staatsbezogenen Wissens abgegrenzt wurden, welche Rolle dabei Repräsentationen in Bibliothekskatalogen, Wissensbäumen oder Begriffssystemen spielten und inwieweit solche Klassifizierungsprozesse aus einer transnationalen Perspektive untersucht werden können.

Die erste Sektion („La fabrique des savoirs d’État“) war den Bedingungen und Modalitäten der Produktion staatsbezogenen Wissens gewidmet. ANNA KARLA (Köln) machte den Auftakt und fragte nach der Relevanz der Geschichtsschreibung für den französischen Staat der Restaurationszeit. Karla richtete den Blick auf den populärwissenschaftlichen Geschichtsmarkt und analysierte am Beispiel der Vielzahl von Memoireneditionen der 1820er-Jahre nicht nur die von ihnen ausgehenden Impulse für die Entwicklung einer historischen Methode, sondern gleichzeitig auch ihre staatliche oder politische Verwertbarkeit. Die neue massenmediale Verbreitung von Geschichtswissen erhöhte nämlich auch den Erwartungsdruck ultraroyalistischer Kreise gegenüber Verwaltungsbeamten, Staatsmännern und Abgeordneten, von denen nun eine vertiefte Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte als nützlichem Wissen und „Heilmittel im Kampf gegen die Revolutionsdynamik“ verlangt wurde.

Im zweiten Vortrag der Sektion untersuchte PIERRE-YVES LACOUR (Montpellier) mit Blick auf Frankreich die zur begrifflichen und institutionellen Ordnung des landwirtschaftlichen Wissens um 1800 bemühten Klassifikationen. Er interessierte sich dabei zunächst für Aufkommen sowie Verwendung von Landwirtschaft und landwirtschaftliches Wissen bezeichnenden Begriffen wie „Agriculture“, „Agronomie“ oder „Économie rurale“, deren zeitgenössische Definitionen jedoch äußerst instabil blieben. Am Beispiel der ab 1790 in der Abteilungsstruktur des Institut National von der Landwirtschaft unterschiedenen Botanik, zeichnete Lacour Tendenzen zur institutionellen Ausdifferenzierung im Bereich des landwirtschaftlichen Wissens nach, die durch die Unterscheidung von Botanik und Landwirtschaft in Bibliothekskatalogen wiederum gefestigt wurden. Er betonte abschließend aber, dass innerhalb der landwirtschaftlichen Disziplin nur sehr langsam eine Spezialisierung des Wissens eingesetzt habe und Landwirtschaftsexperten auf den interdisziplinären Austausch mit Botanik oder Anatomie angewiesen geblieben seien.

VIRGINIE MARTIN (Paris) stellte den vielschichtigen Wandel der französischen Diplomatie unter dem Direktorium (1795-99) vor. An die Stelle der Kunst zu Verhandeln sei ab 1795 eine Wissenschaft (science diplomatique) getreten, die unter Einbeziehung auswärtiger Wissensbestände den eigenen zivilisatorischen Fortschritt beschleunigen sollte. Das gesammelte, heterogene Material wurde behördlich klassifiziert und gezielt bestimmten Institutionen, Gelehrten oder, im Rahmen der instruction publique, einer breiteren Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Obwohl die diplomatische Wissenschaft ihren politischen Einfluss unter Napoleon einbüßte, stellte sie unter den ansonsten meist kurzlebigen Reformen der Thermidorianer einen bemerkenswerten Sonderfall mit Modellcharakter dar.

Aus gesundheitlichen Gründen konnte MARIE-CÉCILE THORAL (Sheffield) leider nicht an der Tagung teilnehmen. Ihr paper wurde daher vorgetragen. Die Sektion abschließend zeigte der Vortrag, welcher Nutzen Büchern für das Militär im Frankreich des 19. Jahrhundert zugeschrieben wurde. Bereits in der ersten Hälfte des Jahrhunderts erschien in Frankreich ein breites Spektrum militärischer Spezialliteratur. Anders als beispielsweise in Preußen förderte der Staat jedoch kaum deren Lektüre. Erst als der öffentliche Diskurs in Frankreich die Niederlage im Deutsch-Französischen Krieg auf die vermeintliche intellektuelle Unterlegenheit seiner Truppen zurückführte, stiegen die Investitionen in Militärbibliotheken deutlich an. Verschiedenartige Militärliteratur wurde vom Kriegsministerium beschafft, von Experten kommentiert, in Bibliographien erfasst und zur Lektüre, Ausleihe bzw. Weitergabe an Offiziere und untergeordnete Militärbibliotheken bereitgestellt. Auch fremdsprachige Bücher wurden aufgenommen oder übersetzt – nicht zuletzt, um das Militär der Nachbarländer zu verstehen.

Die daran anschließende zweite Sektion („Savoirs d'État et action publique“) fragte nach den Wechselwirkungen zwischen gelehrten oder wissenschaftlichen savoirs d'État und den Praktiken staatlicher Verwaltungen. Zum Einstieg analysierte ERIC SZULMAN (Paris) am Beispiel der 1763 gegründeten Binnenschifffahrtsverwaltung in Frankreich die Genese eines administrativen Wissens-archivs am Ende des Ancien Régime. Grundlegend für dessen Entstehen waren die zahlreichen, aber eher situativen Interaktionen und Transfers zwischen Verwaltung und Gelehrten bei großen Kanalbauprojekten. Szulman unterstrich am Beispiel des zwischen 1783 und 1791 erbauten Canal du Charolais außerdem, dass für die Bauprojekte eine Vielfalt von Expertisen aus juristischen, ökonomisch-statistischen sowie finanzpolitischen Bereichen mobilisiert wurden und technische Ingenieure keineswegs allein die Entscheidungsprozesse beim Kanalbau bestimmten. Schließlich sei, so Szulmans These, das in den Archivdokumenten der Binnenschifffahrtsverwaltung gespeicherte Wissenskorpus von der Verwaltung für nachfolgende Bauprojekte herangezogen worden.

Im zweiten Vortrag beschäftigte sich PETER JONES (Birmingham) aus vergleichender Perspektive mit der Entwicklung agronomischer Disziplinen in Großbritannien, Frankreich und den deutschen Ländern zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert. Jones zeigte, ähnlich wie zuvor Lacour, dass landwirtschaftliches Wissen begrifflich erst ab etwa 1760 aus den Kameralwissenschaften ausgegliedert wurde. Seitdem hätten sich, parallel zu den begrifflichen Differenzierungen, langsam wissenschaftliche Methoden in der Landwirtschaftsforschung herausgebildet, die Jones insbesondere in der stärkeren Hinwendung zur Chemie im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausmachte. Abschließend analysierte der Vortrag die mit Modellfarmen und Forschungsstationen einsetzenden Institutionalisierungsprozesse und betonte, dass die von dort ausgehende Forschung lediglich in Frankreich und den deutschen Ländern einen besonderen Einfluss auf die Verwaltung ausübte, während Agronomen in Großbritannien deutlich weniger Gehör in der Regierung fanden.

ANDRÉ HOLENSTEIN (Bern) führte aus, wie Enqueten in der Helvetischen Republik (1798-1803) eingesetzt wurden. Sie galten vor allem dem Innenministerium sowie dem Ministerium der Wissenschaften und Künste im ersten Jahr als wichtige Orientierungshilfe für die Etablierung der neuen Staatsform. Aus dem Wissen der Staatsbürger sollten genauere Kenntnisse der aktuellen Lage der Nation und der diversen örtlichen Gegebenheiten ermitteln werden. Die Befragungen folgten dabei dem Muster reformabsolutistischer Monarchien. Sie sollten nicht den politischen Einfluss der Staatsbürger befördern, denen die Amtsträger wegen mangelnder Kooperation und drohender Unruhen eher misstrauisch gegenüberstanden. Das Wissen der Bevölkerung sollte vielmehr die Staatsgewalt in die Lage versetzen, rationale Politik zu praktizieren, zudem aber auch die heterogene Menge der Untertanen zu aufgeklärten Staatsbürgern einer einheitlichen Nation formen.

Im Vortrag von HJALMAR FORS (Uppsala) wurde deutlich, dass die Aufsicht über den Bergbau sich in Schweden schon ab Mitte des 17. Jahrhunderts den später von den Kameralwissenschaften des 18. Jahrhunderts formulierten Grundsätzen annäherte. Zielsetzung der Bergbauverwaltung war es, den Wohlstand des Staates zu mehren. Letztendlich, so Fors, beeinflusste die Orientierung an Gewinnung und Verkauf von Metallen das grundlegende Verständnis der im Bergbau relevanten Materialien. Alchemie, Astrologie und Feenwesen wurden als für den Marktwert unbedeutende Aspekte marginalisiert. Stattdessen galten zunehmend chemische und mineralogische Betrachtungsweisen als essentiell. Eine zentrale Rolle bei diesen Transformationen des Bergbaus spielten die vom schwedischen Staat ausgebildeten und eingesetzten Aufseher, die Produkte, Verfahren, Arbeiter und Strukturen kontrollieren, verbessern und dabei gewonnene Informationen weitergeben sollten.

In der dritten Sektion („Savoirs d’État et réformes administratives“) wurde speziell dem Zusammenhang von staatsbezogenem Wissen und administrativen Reformen nachgegangen. In diesem Rahmen stellte zunächst FRÉDÉRIC AUDREN (Paris) das Selbstverständnis der französischen Rechtswissenschaft unter der Julimonarchie vor, die sich als Sozialwissenschaft verstanden habe. Durch sie sollten gute Gesetze gemäß den Bedürfnissen der gewandelten Gesellschaft einer einzigartigen Nation zustande gebracht werden. Daher war zum einen der Austausch mit ausländischen Juristen willkommen, um die eigene Rechtskultur besser zu konturieren. Zum anderen wurden traditionelle französische Rechtsquellen herangezogen, um den „Nationalgeist“ zu ermitteln. Dabei wurde letztendlich nicht nur der nationalen Kultur, sondern auch lokalen Eigenheiten Rechnung getragen. Insgesamt, so Audren, emanzipierten sich französische Juristen der Julimonarchie vom traditionellen Gesetzgebungsverständnis und begünstigen juristische Reformen und Experimente.

PETER BECKER (Wien) arbeitete am Beispiel der Habsburgermonarchie die Rolle von Enqueten für die Mobilisierung von Wissen in der staatlichen Verwaltungsreform heraus. Er konzentrierte sich dabei auf eine 1912 neu entwickelte Form der Enquete, die es dem Habsburger Staat ermöglicht habe, durch die Befragung seiner Bürger Aufschluss über die Verkehrsformen zwischen Verwaltung und Bürgern zu gewinnen. Die Befragten lieferten der Verwaltung dabei Anhaltspunkte für die „Dysfunktionalität“ bei der Interaktion lokaler Beamter mit Wirtschaftsunternehmen oder schlugen der Verwaltung vor dem Hintergrund der Forderung nach rechtsstaatlicher Ordnung als nachahmenswertes Beispiel die Gemeindeautonomieordnung des Königreichs Preußen vor. Die Enquete zeige damit eindrücklich, wie der Staat das praktische Wissen lokaler und regionaler Netzwerke registrierte. Schließlich, so deutete Becker an, schuf sich die Habsburgermonarchie mit Hilfe der Enqueten eine Orientierungshilfe zur Reform ihrer Verwaltungsorgane.

Bei dem insgesamt sehr abwechslungsreichen Workshop konnte leider nicht wie erhofft in jeder der drei Tagungssprachen (Französisch, Englisch, Deutsch) gleichermaßen kommentiert und diskutiert werden. Die Notwendigkeit, die deutschen Beiträge noch einmal auf Französisch zusammenzufassen oder zu übersetzen, beeinträchtigte an manchen Stellen die Diskussion. Dies ist sicherlich nicht den Veranstaltern vorzuwerfen, weist aber auf die weiterhin bestehenden Hindernisse in deutsch-französischen Kooperationsprojekten hin.

Auch die von den Organisatorinnen auf inhaltlicher Ebene geforderte Transnationalität wurde von den Vortragenden nicht durchgehend berücksichtigt. Es war in dieser Hinsicht deshalb aufschlussreich, dass in den Kommentaren und Diskussionen Beispiele für transnationale Wissenszirkulation angedeutet und Vergleichsfälle eingebracht wurden. Die meisten Vorträge machten hingegen deutlich, welche Bedeutung der enzyklopädischen oder institutionellen Klassifizierung von Wissensbeständen innerhalb einzelner Staaten oder Herrschaften zukam. In vielen Gegenden Europas stellte gerade die Ausdifferenzierung von Wissensbeständen um 1800 einen wichtigen Zwischenschritt im Rahmen der Bestrebungen dar, staatsbezogenes Wissen zentral zu sammeln und ausgewählten Akteuren zur praktischen Anwendung zur Verfügung zu stellen.

Schließlich gaben die Vorträge generell Anlass, Reichweite und Grenzen des Konzepts der savoirs d'État zu reflektieren. Offenbar kann darunter nämlich nicht einfach eine Aufzählung von Fächerkategorien verstanden werden, da in der Geschichte oft nur Teile einer Disziplin oder auch nicht-disziplinäre Wissensbestände als staatsrelevant erachtet wurden. Dies erschwert einerseits den Umgang mit dem Konzept staatsbezogenen Wissens und zwingt zu einer Forschung, die von konkreten Wissensbeständen und Akteuren in bestimmten Zeiträumen ausgeht. Eben hier liegt aber auch die Stärke des Konzepts, das dazu beitragen kann, bestehende Kategorien und Ansätze der traditionellen Wissenschaftsgeschichte zu hinterfragen und zu neuen Ergebnissen zu führen.

Konferenzübersicht:

Isabelle Laboulais (Straßburg) / Petra Overath (Köln), Einleitung

Sektion 1 "La fabrique des savoirs d’État"

Anna Karla (Berlin), Staatswissen und Geschichtspraxis in der Restaurationszeit
Kommentar: Lothar Schilling (Augsburg)

Pierre-Yves Lacour (Montpellier), Les savoirs agronomiques dans la Révolution. France, 1780-1810
Kommentar: Marcus Popplow (Heidelberg)

Virginie Martin (Paris), La diplomatie comme véhicule des savoirs savants et laboratoire des savoirs d’État: la transformation de « l’art de négocier » en une « science diplomatique » (1795-1799)
Kommentar: Hillard von Thiessen (Rostock)

Marie-Cécile Thoral (Sheffield), Des livres au service de l’action: la bibliothèque militaire et les sciences de la guerre au XIX siècle (c. 1800-c. 1900)
Kommentar: Ulrich Johannes Schneider (Leipzig)

Sektion 2 "Savoirs d’État et action publique"

Eric Szulman (Paris), Les savoirs au service d’une action publique: mobilisation, circulation et usages des savoirs sur la navigation intérieure en France à la fin de l’Ancien Régime
Kommentar: Vincent Dubois (Strasbourg)

Peter Jones (Birmingham), Agronomy: the Construction of a Science of Agriculture at the Turn of the Eighteenth and Nineteenth Centuries
Kommentar: Marie-Noëlle Bourguet (Paris)

André Holenstein (Bern), Die Enquêten der Helvetischen Republik (1798-1802/03)
Kommentar: Ségolène Plyer (Straßburg)

Hjalmar Fors (Uppsala), Expertise, training, and conceptions of knowledge in the Swedish state
Kommentar: Jakob Vogel (Paris/Köln)

Sektion 3 "Savoirs d’État et réformes administratives"

Julien Vincent (Paris), L'essor de l'État libéral et l'institutionnalisation de la "moral science" en Angleterre dans la première moitié du XIXe siècle
Kommentar: Pascale Laborier (Paris)

Frédéric Audren (Paris), Le tournant spatial de la science du droit sous la Monarchie de Juillet
Kommentar: Catherine Maurer (Straßburg)

Peter Becker (Wien), Staatswissen und Verwaltungsreformen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Kommentar: Christine Lebeau (Paris)

Sektion 4 "Conclusions"

Dominique Margairaz / Daniel Roche (beide Paris)


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