L’histoire du temps présent et ses défis au XXIe siècle/Zeitgeschichte und ihre Herausforderungen im 21. Jahrhundert

L’histoire du temps présent et ses défis au XXIe siècle/Zeitgeschichte und ihre Herausforderungen im 21. Jahrhundert

Organisatoren
Hèlène Miard-Delacroix, Paris; Frank Reichherzer, Berlin; Emmanuel Droit, Rennes
Ort
Paris
Land
France
Vom - Bis
17.10.2013 - 19.10.2013
Url der Konferenzwebsite
Von
Wiebke Glässer, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

„Eins –zwei – drei im Sauseschritt läuft die Zeit, wir laufen mit.“ Der Mensch und seine Zeit – ein spannungsreiches Verhältnis, wie es Wilhelm Busch 1877 so schön beschrieb. Für das historische Arbeiten hat die Zeit an sich eine besondere Relevanz, so dient sie nicht zuletzt zum Einteilen von Dekaden – ja ganzer Epochen, so werden mit ihr nachträglich historische Wendepunkte und Umbrüche bestimmt. Dies geschieht nicht nur mit der Zeit, die Jahrhunderte zurück liegt, sondern auch die erst gestern erlebte Zeit kann für den Historiker zum Untersuchungsgegenstand werden. Aber wie schreibt man Zeitgeschichte? Ist es überhaupt möglich, Phänomene zu analysieren und interpretieren, die „noch qualmen“1? Welche theoretischen und methodischen Zugänge gibt es? Und welche Herausforderungen und Chancen aber auch neuen Perspektiven birgt die Zeitgeschichtsforschung? Diesen und anderen Fragen stellten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Konferenz „L’histoire du temps présent et ses défis au XXI siécle“ (Zeitgeschichte und ihre Herausforderungen im 21. Jahrhundert) vom 17. Bis 19. Oktober 2014. Die Konferenz stellte die dritte Etappe im Rahmen des deutsch-französischen Projekts zur Zeitgeschichte dar, das von Hèlène Miard-Delacroix (Paris), Frank Reichherzer (Berlin) und Emmanuel Droit (Rennes) initiiert und organisiert wurde. Nach einem spannenden Auftakt in Rennes im November 2012 und einer weiteren Konferenz im Austausch mit den Nachbardisziplinen der Zeitgeschichte im Juni 2013 in Berlin traf die deutsch-französische Historikergruppe dieses Mal am Deutschen Historischen Institut in Paris zusammen.

Die Konferenz wurde mit einem Begrüßungsvortag zum Thema „Temps et relations internationales“ von ROBERT FRANK (Paris) eingeleitet. Frank plädierte für eine chronopolitische Herangehensweise in der Zeitgeschichte. Bei der Analyse von Entscheidungen sollte der Zeithistoriker versuchen, sich in die Akteure hinein zu versetzen. Dabei sei die Frage, wie Akteure ihre eigene Zeit, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wahrgenommen haben, zentral. Zeit kann immer auch von den Akteuren selbst instrumentalisiert worden sein, was es zu berücksichtigen gilt, so Frank.

Nachdem in den beiden vorangegangenen Treffen theoretische und methodische Zugänge der Zeitgeschichte thematisiert wurden, bestand der Hauptteil dieser Konferenz in der Diskussion um die praktische Anwendung der Zeitgeschichtsforschung. Als Grundlage dafür diente die Vorstellung der zeithistorischen Forschungsprojekte der teilnehmenden Doktoranden. Hierbei wurden nicht nur praktische Probleme, sondern auch neue Forschungsperspektiven für die Zeitgeschichte aufgezeigt. Darüber hinaus zeigten sich auch Unterschiede in der Herangehensweise in der deutschen und französischen Zeitgeschichte, was erneut das Potential des Austausches unterstrich.

CLAIRE TROJAN, HUGO MELCHIOR und CAROLINE GARRIDO (alle Rennes) berichteten aus ihren Erfahrungen mit der Zeitzeugenbefragung. Wichtig sei dabei vor allem, dass Zeitzeugenaussagen nur eine begrenzte Gültigkeit hätten und immer mehrere Wahrheiten neben einander bestehen könnten. Die Erinnerung und das Gedächtnis von Zeitzeugen veränderten sich im Laufe der Zeit und würden von vielfältigen Faktoren beeinflusst. Dies gilt es zu berücksichtigen, so Melchior. Trojan betonte in diesem Zusammenhang auch den Unterschied zwischen individuellem und kollektivem Gedächtnis. Darüber hinaus wurde deutlich, dass die Befragung von Zeitzeugen intensiver Vorbereitung bedarf. Der Historiker tritt mit dem Zeitzeugen in eine Interaktion, die ebenfalls von unterschiedlichen Dimensionen beeinflusst werden kann. So berichtete Garrido, die über die emotionale Wahrnehmung der Mauer von DDR-Bürgern forscht, dass sie die Interviews im Gehen und an bestimmten Orten geführt hat, um neben der zeitlichen auch eine räumliche Verbindung zu den innerdeutschen Grenzen herzustellen. Einigkeit unter den Teilnehmern herrschte darüber, dass Zeitzeugenbefragungen durchaus ein fruchtbares Instrument für die Zeitgeschichte sind, das es allerdings mit Bedacht einzusetzen gilt. Darüber hinaus wurde deutlich, dass der Zeitzeuge an sich – auch ohne Interviews – eine zentrale Rolle einnehmen kann. Zeitgeschichte wird zumeist unter den Augen von Zeitzeugen geschrieben – hier steht der Historiker immer auch unter einer besonderen Art der Kontrolle.

Ein weiteres Diskussionsthema der Konferenz betraf die Quellen in der Zeitgeschichte. Hier ergab sich ein ambivalentes Bild. Auf der einen Seite haben Zeithistoriker mit einer kaum überwindbaren Masse an Quellen zu tun, wie man sie kaum in den anderen Epochen finden kann. Auf der anderen Seite wird der Zugang zu diesen Quellen oft durch Sperrfristen erschwert. So berichteten NATALIE POHL (Paris/Saarbrücken), die zur Anti-Atomkraftbewegung in den 1970er- und 1980er-Jahren forscht, und JULIA FROMMHOLD (Berlin) die sich mit der UN-Verwaltung und Unabhängigkeit Osttimors (1999-2002) beschäftigt, von großen Schwierigkeiten mit dem Zugang zu relevanten Dokumenten. Dies ist eine besondere Herausforderung für die Zeitgeschichte, die sich allerdings mit Einfallsreichtum und oft über Umwege meistern lässt, so Pohl. FLORIAN SPRUNG (Berlin) betonte die Relevanz von Zeitungen für die zeithistorische Forschung, da es vor allem die Medien wären, die Dinge zu Zäsuren oder Ereignissen machen würden.

Neben der Quellenfrage wurde auch darüber diskutiert, in welchem Verhältnis die Zeitgeschichte zu ihren Nachbardisziplinen steht. WIEBKE GLÄSSER (Berlin) plädierte für eine Öffnung der Zeitgeschichte für Methoden und Theorien anderer Fächer. Wirtschaftshistorische Phänomene ließen sich beispielsweise kaum ohne die Berücksichtigung wirtschaftswissenschaftlicher Konzepte analysieren, so Glässer. Auch FANNY LE BONHOMME (Berlin), die ihr Projekt zu psychiatrischen Räumen in der DDR vorstellte, betonte die Notwendigkeit der Anwendung von Theorien anderer Disziplinen. Die Soziologie dient in ihrem Projekt als Hilfsmittel, um gesellschaftliche Mechanismen und Logiken auszumachen. Pohl erwähnte in diesem Zusammenhang, dass die Konzepte und Theorien anderer Wissenschaften nicht nur als Methodenhilfe, sondern auch als Quelle eingesetzt werden können. MATHIEU DUBOIS (Paris) diskutierte auf der Basis seines Forschungsprojekts zur Politisierung, Mobilisierung und Beteiligung in den Jugendorganisationen der politischen Parteien in Frankreich und der BRD, inwieweit der historische Vergleich einen Mehrwert für die Zeitgeschichte bringen kann. Dabei betonte er den Zeithistoriker in seiner Rolle als erster Prüfer eines Untersuchungsgegenstands, der allerdings zeitlich und zumeist auch räumlich mit dem Gegenstand verbunden ist. Ein Vergleich könne die dadurch resultierenden Problematiken aufheben, da er die Distanz des Historikers erhöhe.

Eine weitere zentrale Frage der Konferenz betraf die Zeitlichkeit in der Zeitgeschichte. ARIANE D’ANGELO (Paris) machte in diesem Zusammenhang drei zeitliche Dimensionen – Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft – aus, die sowohl für den Untersuchungsgegenstand als auch für den Zeithistoriker selbst eine einflussreiche Rolle spielten. ETIENNE DUBSLAFF (Paris) berichtete, dass die verschiedenen Zeitlichkeiten auch an der Sprache von Zeitzeugen und dem eigenen Vokabular des Zeithistorikers selbst abgelesen werden könnten. Anhand von VALÉRIE DUBSLAFFs (Paris) Projekt, das die Rolle von Frauen in der NPD seit 1963 analysiert, wurde darüber hinaus diskutiert, inwieweit Zeitlichkeit auch anderen Kategorien zugeordnet werden kann. Dubslaff plädierte in diesem Zusammenhang für eine Genderperspektive und die Unterscheidung von männlichen und weiblichen Zeitlichkeiten. Ein Gesamtergebnis der Diskussion um die Zeitlichkeit in der Zeitgeschichte war, dass die verschiedenen Temporalitäten stets reflektiert und berücksichtigt werden müssten, da die Interpretation der Quellen sonst schnell verzerrt wäre.

Ein intensiver Austausch fand auch über die Frage statt, wie der Zeithistoriker sich selbst wahrnimmt und welche Rolle er einnehmen kann und sollte. Frommhold betonte den gegebenen Anwendungsbezug der Zeitgeschichte. Die Analyse von Phänomen, die für die Gegenwart relevant sind, berechtigte den Zeithistoriker sich auch an aktuellen Debatten zu beteiligen – oder sogar in relevanten Feldern wie der Politikberatung tätig zu werden. KRISTINA KÜTT (Berlin), die ihr Projekt zum Umgang der US-Regierung mit der Black-Power-Bewegung vorstellte, wies darauf hin, dass es beispielsweise in den USA keine Seltenheit wäre, dass Zeithistoriker in einer Doppelrolle agierten – beispielsweise als Aktivisten und Historiker zugleich. Zeithistoriker gestalten die Gegenwart mit, so Kütt. Objektivität habe auch in der historischen Forschung ihre Grenzen und der persönliche Einfluss spiele immer auch eine Rolle – in der Zeitgeschichte vielleicht sogar mehr denn je. Der eigene Standpunkt sollte daher immer kritisch reflektiert und dargelegt werden, so könne die Wissenschaftlichkeit in der Zeitgeschichte erhalten bleiben.

Im Abschlussvortrag der Konferenz bilanzierte LUTZ RAPHAEL (Trier) die disziplinären „turns“ in der Zeitgeschichtsforschung und fragte nach den Perspektiven der Zeitgeschichte im 21. Jahrhundert. Zu den Herausforderungen zähle zunächst die Tendenz zur Internationalisierung, die sich nicht nur in westeuropäischen und nordatlantischen Netzwerken, sondern auch in der Zunahme des tatsächlich als multi-kulturell zu bezeichnenden Austauschs und der steigenden grenzüberschreitenden Mobilität ausdrücke. Daneben ließe sich die Pluralisierung theoretischer Zugänge beobachten, die an der gleichzeitigen Präsenz der verschiedenen disziplinären „turns“ bei gleicher Gültigkeit abzulesen sei. Die Störanfälligkeit, die unter anderem aus dem Mangel an gemeinsamen Begrifflichkeiten resultiere, sieht Raphael als eines der intellektuellen Probleme der Zeitgeschichtsforschung von heute. Aufgrund der Überfülle der zur Verfügung stehenden Theorien erlebe die Disziplin aktuell eine „Zeit des Rauschens“. In forschungspraktischer Hinsicht sei zu klären, mit welchem Bezugspunkt Global History einen „unvermeidlichen Horizont“ bilde – hinsichtlich der Synthese von Forschungserkenntnissen oder für die Genese originaler Forschungsthemen.

Insgesamt hat die Konferenz weitreichende Einblicke in aktuelle zeithistorische Forschungsprojekte gebracht. Hierbei zeigte sich, dass vor allem Nachwuchshistoriker bereit sind, neue Wege der zeithistorischen Forschung einzuschlagen und diese auch zur Diskussion zu stellen. Neben den Problematiken und Chancen in Bezug auf Quellen sowie methodische und theoretische Zugänge zeigte die Konferenz, dass die kritische Reflexion mit der eigenen Zeit, mit der wir mitlaufen, aber auch die Zeit der Zeitgenossen unserer Forschungen notwendig ist. Eine weitere Konferenz, die einen Austausch zwischen etablierten Zeithistorikern und Nachwuchswissenschaftlern ermöglich soll, ist für Oktober 2014 geplant.

Konferenzübersicht:

Eröffnungsvortrag:
Robert Frank (Paris), Temps et relations internationales

1. Panel: Les sources de l’histoire du temps present

Claire Trojan (Rennes), Mémoire officielle, mémoire collective et mémoire individuelle des expulses intégrés en Allemagne orientale (1945-2013): pour une etude des discours et des states mémorielles

Hugo Melchior (Rennes), La validité du témoignage strictement limité dans le temps

Caroline Garrido (Rennes), Émotions et subjectivité dans la construction d’un savoir scientifique

Etienne Dubslaff (Paris), Les entretiens ou la creation de sources historiques

Natalie Pohl (Paris / Saarbrücken), Reconstruction d’un movement – L’accès aux sources de l’histoire du temps present à l’example du movement antinucléaire au Rhin supérieur

Florian Sprung (Berlin), Zeitgeschichte und die Zeitungen von gestern. Möglichkeiten, Grenzen und Probleme der Presseanalyse

2. Panel: L’histoire du temps présent dans le monde des sciences sociales

Fanny le Bonhomme (Berlin), Aborder une réalité historique autrement. L’apport de la sociologie dans l’étude de la „société socialist“ (RDA, 1960-1968)

Wiebke Glässer (Berlin), Der Homo Oeconomicus und die Vergangenheit. Zeitgeschichte im Spannungsfeld wirtschaftswissenschaftlicher Konzepte

Julia Frommhold (Berlin), Wie viel Zeit braucht Geschichte? Zur Historizität der Gegenwart

3. Panel: Temps et temporalité de l’histoire du temps present

Gildas Bregain (Rennes), Cerner les temporalités des politiques publiques nationales au prisme des modernités globales

Ariane d’Angelo (Paris), „Germania est omnis divisa in partes sex“: rapport au temps et communication politique en Allgemagne fédérale

Valerie Dubslaff (Paris), Les temporalités au prisme du genre: l’exemple du Parti national-démocrate d’Allemagne (NPD)

Mathieu Dubois (Paris), Histoire comparative et histoire du temps présent: un rapport spécifique?

Kristina Kütt (Berlin), „Ich bin Konstruktivist und das ist gut so!“ Gedanken zur Position des Historikers in der Zeitgeschichte

Abschlussvortrag:
Lutz Raphael (Trier), Bilan provisoire aprés les différent turns. Quelles perspectives pour l’histoire du XXIe?

Anmerkung:
1 Ein Ausdruck, den Barbara Tuchman zur metaphorischen Definition des Gegenstands der neuesten Zeitgeschichte nutzte (Barbara Tuchmann, Geschichte denken. Essays, Düsseldorf 1982, S. 32).


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Französisch, Deutsch
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