Offene Tagung der Sektion Religionssoziologie

Offene Tagung der Sektion Religionssoziologie

Organisatoren
Kornelia Sammet / Heidemarie Winkel, Sektion Religionssoziologie in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS)
Ort
Lutherstadt Wittenberg
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.11.2013 - 24.11.2013
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Von
Susanne Lemke, Institut für Pädagogik, Carl von Ossietzky Universität Oldenburg

Die Frage nach einem soziologisch präzisen, aber dennoch so offen angelegten Religionsbegriff, der es erlaubt, unterschiedliche religiöse – oder auch ‚religioide‘ – Phänomene systematisch miteinander zu vergleichen, ist so alt wie die Religionssoziologie selbst. An ihr arbeiteten nicht nur die Klassiker dieser Disziplin, sondern sie taugt auch heute noch zum Gegenstand anregender Diskussionen und theoretischer Überlegungen. Nicht zuletzt deshalb, weil sich der Horizont für ein erweitertes Verständnis von Religiosität und Religion jenseits westlich-christlicher Wahrnehmungsweisen als Folge von Globalisierung, Transnationalisierung und zunehmender interkultureller Vielfalt empirisch bereits eingestellt hat.

Die Offene Tagung der Sektion Religionssoziologie1 vom 22. bis 24. November 2013 in Lutherstadt Wittenberg verzichtete zwar auf eine thematische Einschränkung möglicher Forschungsgegenstände, jedoch zeigte sich, dass sich die grundsätzliche Frage nach einem gehaltvollen Religionsbegriff quer durch das Programm und die verschiedenen Beiträge zog, die sich zugleich durch die Diversität theoretischer und empirischer Zugänge auszeichneten. Die Tagung, die von Kornelia Sammet und Heidemarie Winkel organisiert wurde, knüpft dabei an die Tradition der Offenen Tagungen an, die seit der Wiedergründung der Sektion im Jahr 1995 nicht nur dem wissenschaftlichen Nachwuchs, sondern auch etablierten Forschenden zum Austausch über die Grenzen eines starren thematischen Korsetts hinweg dienen. Für die nicht – wie angekündigt – erst IV., sondern bereits V. Offene Tagung der Sektion stand mit der Leucorea in Wittenberg in diesem Jahr zudem ein in religionsgeschichtlicher Hinsicht besonders interessanter Ort zur Verfügung.

Den Einstieg in das Tagungsprogramm machte HARTMANN TYRELL (Bielefeld), der mit seinen „Anmerkungen zum Religionsbegriff Max Webers“ aufzeigte, welche Entwicklungsgeschichte des Religionsbegriffs Weber in seiner „Zwischenbetrachtung“2 nachzeichnet. So ging Hartmann Tyrell dem Ursprung einer noch nicht religiös gewendeten Semantik der Bruder- und Nächstenliebe in archaischen Reziprozitätsverhältnissen von Nachbarschaft und Nothilfe nach. Er verglich dabei die von Weber genutzte theoretische Form einer dramatischen Steigerungsformel hin zur rein religiösen Semantik, mit der umgekehrt eine Distanzierung von ‚Welt‘ einhergehe, mit Simmels Überlegungen zum Konzept des Glaubens, das ebenfalls semantisch dem Alltagserleben entsprungen sei, jedoch selbstläufig als religiöser Glaube über den ‚Glauben an‘ Mitmenschen hinauswachse.

Die erste Session trug dann unter dem Titel „Biographie, Methode & Bildung“ Ergebnisse und methodologische Problemstellungen unterschiedlicher empirischer Forschungsprojekte zusammen. Den Anfang machte LENA DREIER (Halle), die eine qualitative Längsschnittstudie zur Religiosität Konvertierter vorstellte und dabei den Fokus auf die narrativen Muster und die vorgefundene strukturelle Kontinuität bei den Wiederholungsinterviews legte. ANTJE BEDNAREK (Hannover) widmete sich in ihrem Vortrag dem Einfluss einer christlichen Beobachtungsperspektive bei qualitativer ethnografischer Forschung, deren Reflexion ein unberücksichtigtes Potenzial an Datenmaterial und Erkenntnissen biete. JULIA DOHRMANN (Frankfurt am Main) und THORSTEN SCHNEIDER (Leipzig) stellten demgegenüber Ergebnisse eines quantitativen Forschungsprojekts vor, bei dem in Anlehnung an Webers These von der „Protestantischen Ethik“3 die Bedeutung der Konfession und des Kirchgangs für den Bildungserfolg getestet wurde.

Im Anschluss folgte eine Session, die sich dem Spannungsfeld von „Tradition & Modernität“ widmete. MICHAELA HEID (Bayreuth) konzeptualisierte den Rückzug ins Kloster als temporären Ausstieg, der eine neue alternative Form religiösen Erlebens und damit gewissermaßen eine spezifisch moderne Religiosität zum Ausdruck bringe. Darauf stellte ELISABETH ARWECK (Warwick) erste qualitative Ergebnisse eines Forschungsprojekts zu den Einstellungen 13- bis 16-Jähriger zu religiöser Diversität vor, die sie aus der Perspektive einer wachsenden Herausforderung moderner Gesellschaften durch religiöse Pluralisierung beleuchtete.

Parallel dazu fand eine Sitzung zum Thema „Islam und Geschlecht“ statt, in der zwei qualitative Studien zu den Herausforderungen muslimischer Frauen im Berufsleben vorgestellt wurden. Zunächst ging es bei LINDA HENNIG (Straßburg) um die Identitätskonstitutionen junger muslimischer Frauen im Bereich der Arbeit im sozialen und medizinischen Sektor. FLORIAN KREUZER (Mannheim) stellte anschließend Ergebnisse aus einem Projekt vor, das zusammen mit SÜMEYYE DEMIR (Frankfurt am Main) durchgeführt wurde. Im Mittelpunkt stand die Spannung zwischen Strategien der Anerkennung von Musliminnen mit Kopftuch auf der einen Seite und Erfahrungen rassistischer Diskriminierung auf der anderen Seite.

In einer Session mit dem Thema „Pluralisierung“ stellten GERT PICKEL und ALEXANDER YENDELL (beide Leipzig) Ergebnisse zur Wahrnehmung religiöser Pluralisierung im Spannungsfeld zwischen erlebter Bedrohung und kultureller Bereicherung auf Basis des Bertelsmann Religionsmonitors 2013 vor. ANNA KÖRS (Hamburg) widmete sich in ihrem Vortrag dem Thema „Interreligiöser Dialog“, das nicht nur in ihrem Untersuchungsgebiet Hamburg als ein neuer Hoffnungsträger mit hohen normativen Erwartungen verbunden ist. Im Anschluss daran machte SUSANNE LEMKE (Oldenburg) im Hinblick auf die Analyse der Beschneidungsdebatte in Deutschland einen sozialtheoretischen Ansatz stark, durch den der Konflikt zweier divergierender Symbolpolitiken zum Vorschein komme.

In einer parallelen Session lag der Fokus auf „Außereuropäischen Religionen“. KAY JUNGE (Konstanz) ging zunächst der Frage nach den „Elementaren Formen religiöser Kommunikation“ nach. Der zweite Beitrag dieser Sitzung kam von PHILIPP ALTMANN (Berlin), der sich in seinem Vortrag dem Aufstieg des Rats der evangelischen indigenen Völker und Organisationen Ecuadors (FEINE) widmete. Auf Basis einer Diskursanalyse zeigte er, wie Religion als eine Strategie von sozialen Bewegungen genutzt wird und welche Schwierigkeiten damit verbunden sind.

In einer Session zum Thema „Migration“ stellte FREDERICK SIXTUS (Berlin) Ergebnisse einer qualitativen Abschlussarbeit zur Interferenz religiöser und ethnischer Kategorien am Beispiel arabischer Christinnen und Christen in Deutschland vor. STEFAN KUTZNER (Siegen) widmete sich im weiteren Verlauf dem ‚ Rationalisierungsdruck‘, dem muslimische Migranten in weitgehend säkularisierten Gesellschaften unterliegen. Die Session beschloss GUDRUN PETASCH (Frankfurt am Main) mit einem Vortrag zum Thema „Aleviten in Deutschland – aus religiösen Gründen modern?“. Dabei ging sie davon aus, dass erst die extern politisch erzwungene Existenz als faktische Sekte die Alevitengemeinschaft modernisierungsbedeutsam transformiert habe.

In der parallel verlaufenden Session zu „Mitgliedschaft & Organisationsformen“ stellten zunächst INSA PRUISKEN (Heidelberg) und THOMAS KERN (Chemnitz) eine Studie zu „Megakirchen als neuer Organisationsform im Feld der Religion“ vor. HANS-DIETER GERNER und CHRISTIAN HOHENDANNER (beide Nürnberg) gingen in ihrem Vortrag dann dem Zusammenhang von Religion und subjektiver Lebenszufriedenheit nach. Auch bei Kontrolle des Effekts sozialer Teilhabe habe demnach religiöse Aktivität einen positiven Einfluss auf die subjektive Lebenszufriedenheit. In einem letzten Vortrag dieser Sitzung widmeten sich ANJA SCHÄDEL, TABEA SPIESS und ANNE ELISE LISKOWSKY (alle Hannover) den Begründungsmustern für anhaltende Kirchenmitgliedschaft bzw. Kirchenaustritt auf Basis der Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).

Eine Reihe von Vorträgen widmete sich am letzten Tag dem Thema „Transformationsgesellschaften“. UWE KRÄHNKE (Leipzig) ging im Zuge dessen der in den Machtzentren staatssozialistischer Gesellschaften institutionalisierten quasi-religiösen Disposition auf den Grund, von der zugleich eine gesellschaftlich stabilisierende Wirkung ausgegangen sei. MICHAEL HAINZ (München) widmete sich daraufhin dem Zusammenhang ökonomischer und religiöser Aktivität am Beispiel polnischer Unternehmer der Nachwendezeit. Dabei wurden vor allem Verschiebungen in Bezug auf ihre subjektive Religiosität in den Blick genommen. Schließlich ging es bei DORIT BIRKENFELD (Erfurt) um die „Sinnstabilisierung kirchlichen Handelns in einer entkirchlichten Umwelt“ am Beispiel von evangelischen und katholischen Akademieleitern in Ostdeutschland.

Die Tagung abschließend verfolgten CHRISTEL GÄRTNER (Münster) und ANDREAS FEIGE (Braunschweig) die Spur des wissenssoziologischen Religionsverständnisses von Joachim Matthes anhand dreier Fallgeschichten zur religiösen Identitätssuche christlicher und muslimischer Jugendlicher. Religion könne dabei als reflexive Deutungskategorie verwendet werden, die durch eine kulturelle Programmatik begrenzt und begründet werde. Anhand der gewählten empirischen Fälle wiesen sie unterschiedliche Modi der Anverwandlung einer je individuellen kulturellen Programmatik nach. In der Diskussion zeigte sich einmal mehr, dass sich nicht nur Religion und Religiosität erst im Diskurs konstituieren, sondern dass auch die Frage nach einem Verständnis von Religion und deren soziologische Annäherungen selbst diskursiv geworden sind.

Konferenzübersicht:

Eröffnungsvortrag
Hartmann Tyrell (Bielefeld), Anmerkungen zum Religionsbegriff Max Webers

Session 1: Biographie, Methode & Bildung

Lena Dreier (Halle), „Ich glaube jetzt nicht mehr an Gott“. Zur längsschnittlichen Rekonstruktion der Religiosität Konvertierter

Antje Bednarek (Hannover), „Because we are all Christians we have good rapport“, or: Is Christian faith a standpoint in reflexive qualitative research?

Julia Dohrmann (Frankfurt am Main) / Thorsten Schneider (Leipzig), Zur Bedeutung von Konfession und Kirchgang für Bildungserfolg

Session 2: Tradition & Modernität

Michaela Heid (Bayreuth), Klosteraufenthalt – Weltflucht als Ausdruck moderner Religiosität?

Elisabeth Arweck (Warwick), Religious Diversity in the UK: Attitudes and Views of 13-16-Year-Old Students

Session 3: Islam & Geschlecht

Linda Hennig (Straßburg), Muslimische Referenz und berufliches Erleben. Weibliche Identitäten in Paris und Berlin

Florian Kreuzer (Mannheim) / Sümeyye Demir (Frankfurt am Main), Muslima mit Kopftuch: Rassistische Diskriminierung in einer verkehrten Welt

Session 4: Pluralisierung

Gert Pickel / Alexander Yendell (Leipzig), Religiöse Pluralität als Bedrohung oder kulturelle Bereicherung? – Ergebnisse des Bertelsmann Religionsmonitors 2013 zur Bedrohungswahrnehmung von Religion im Ländervergleich

Anna Körs (Hamburg), Interreligiöser Dialog – mehr Anspruch als Wirklichkeit?

Susanne Lemke (Oldenburg), Symbolische Inklusion – Eine sozialtheoretische Analyse der Beschneidungsdebatte in Deutschland

Session 5: Außereuropäische Religionen

Kay Junge (Konstanz), Elementare Formen religiöser Kommunikation: Eine historisch-vergleichende Sichtung, Rekonstruktion und Modellierung altersgruppen-abgrenzender Geheimkulte im Ausgang vom oberen Sepik-Gebiet Neu Guineas

Philipp Altmann (Berlin), Die Indigenenbewegung als religiöse Bewegung – der sonderbare Fall der FEINE in Ecuador

Session 6: Migration

Frederick Sixtus (Berlin), Grenzziehungen entlang religiöser und ethnischer Linien. ‚Arabische Christen‘ in Deutschland zwischen Integration und Abgrenzung

Stefan Kutzner (Siegen), Traditionalistischer Islam und seine Fortentwicklung in der „Diaspora“: Fundamentalisierung und Spiritualisierung als zwei Möglichkeiten

Gudrun Petasch (Frankfurt am Main), Aleviten in Deutschland – aus religiösen Gründen modern?

Session 7: Mitgliedschaft & Organisationsformen

Insa Pruisken (Heidelberg) / Thomas Kern (Chemnitz), Megakirchen als neue Organisationsform im Feld der Religion?

Hans-Dieter Gerner / Christian Hohendanner (Nürnberg), Religion und subjektive Lebenszufriedenheit. Ist Kirche mehr als nur ein Verein?

Anja Schädel / Tabea Spieß / Anne Elise Liskowsky (Hannover), Mitglied aus Tradition – Austritt aus religiöser Indifferenz?

Session 8: Transformationsgesellschaften

Uwe Krähnke (Leipzig), Der Glaube an den Kommunismus. Quasireligiosität in den Machtzentren staatssozialistischer Gesellschaften

Michael Hainz SJ (München), Kapitalistischer Frühling – vertrocknende oder weiter blühende Religiosität? Biographische Rekonstruktion der Wechselwirkungen zwischen dem wirtschaftlichen und dem religiösen Wandel im Transformationsprozess Polens nach 1989

Dorit Birkenfeld (Erfurt), „Was draus machen“: zur Sinnstabilisierung kirchlichen Handelns in einer entkirchlichten Umwelt – Am Beispiel von Akademieleitern in Ostdeutschland

Abschlussvortrag

Christel Gärtner (Münster) / Andreas Feige (Braunschweig), Religion als reflexive Deutungskategorie. Das Religionsverständnis von Joachim Matthes, systematisch dargestellt und analysiert an drei Fallgeschichten zur religiösen Identitätssuche christlicher und muslimischer Jugendlicher

Anmerkungen:
1 Dieser Bericht erscheint in leicht geänderter Form auch in der Aprilausgabe 2014 der Zeitschrift „Soziologie“ der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.
2 Max Weber, Zwischenbetrachtung: Theorie der Stufen und Richtungen religiöser Weltablehnung, in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1972 [zuerst 1920], S. 536-573.
3 Max Weber, Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1972 [zuerst 1920], S. 17-394.


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