„Psychiatrie in der Gesellschaft: Historische Anamnese und aktueller Befund“: Fachtagung des LWL-PsychiatrieVerbunds und des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte

„Psychiatrie in der Gesellschaft: Historische Anamnese und aktueller Befund“: Fachtagung des LWL-PsychiatrieVerbunds und des LWL-Instituts für westfälische Regionalgeschichte

Organisatoren
Landschaftsverband Westfalen-Lippe
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.05.2014 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Korbinian Böck, LWL-Institut für Westfälische Regionalgeschichte

Ein doppeltes Jubiläum im Jahr 2014 war für den Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) als größter Träger psychiatrischer Einrichtungen in Westfalen-Lippe Anlass, einen kritischen Blick zurück auf die 200 Jahre Psychiatriegeschichte zu werfen und zugleich den Stand des Faches heute zu beleuchten. 1814 wurde in Marsberg das erste psychiatrische Krankenhaus in der Region gegründet. 50 Jahre später folgte die Errichtung der Klinik Lengerich. Aus diesem Grund lud der LWL HistorikerInnen und VertreterInnen der Psychiatrie zu einer interdisziplinär angelegten Tagung ein, die den direkten Dialog zwischen den beiden Fächern ermöglichen sollte. In drei Panels wurde zunächst jeweils der Blick auf die Geschichte der Psychiatrie geworfen. Dabei standen unter anderem Fragen nach dem Wandel des Verständnisses von Kranksein, die Wissensgeschichte der genetischen und neurobiologischen Grundlagen der Psychiatrie sowie die jeweiligen Ansätze zur Behandlung von Menschen mit seelischen Handycaps im Mittelpunkt. Auf die historisch angelegten Vorträge folgte jeweils ein aktueller Befund zum Stand der Forschung in der Psychiatrie heute. In den anschließenden Podiumsdiskussionen kamen weitere Gäste zu Wort, darunter sowohl Vertreter der beiden wissenschaftlichen Disziplinen als auch Menschen mit eigenen Erfahrungen als Psychiatriepatienten oder Angehörige.

Nach der Begrüßung durch LWL-Direktor Wolfgang Kirsch hob Martina Hoffmann-Badache, Staatssekretärin im Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter des Landes Nordrhein-Westfalen, in ihrer Festrede die Bedeutung der 1970er-Jahre als psychiatriegeschichtliche Zäsur hervor. Die 1971 berufene Psychiatrieenquete zielte auf eine umfassende Verbesserung der psychiatrischen Versorgung durch Humanisierung der Verhältnisse in den Einrichtungen, größere Wohnortnähe und eine größtmögliche Orientierung am individuellen Behandlungsbedarf der Patienten. Damit verhalf die Enquete der Sozial- und Gemeindepsychiatrie gegenüber der früheren Anstaltspsychiatrie zum Durchbruch.

Die Vorträge des ersten Panels – „Psychische Krankheit: Antworten der Sozialpsychiatrie“ – bestritten CORNELIA BRINK (Freiburg) und THOMAS BECKER (Ulm). Brink lenkte den Blick zunächst auf die Geschichte der Psychiatrie im 19. Jahrhundert, die sie als Krisengeschichte und eine Geschichte verpasster Chancen beschrieb. Dabei stand die „Anstalt“ als Institution zur räumlichen Segregation kranker Menschen im Mittelpunkt. Sie fungierte in erster Linie als Bewahranstalt. Einzelne Reformer wie der von Brink beispielhaft behandelte Wilhelm Griesinger (1817-1868) vermochten sich mit ihren Vorschlägen gegen eine massenhafte Unterbringung der Kranken in zentralen Einrichtungen zugunsten einer mehr gemeindenahen Versorgung in „Stadt-„ und „Landasylen“ nicht durchzusetzen. Das Paradigma der „Anstalt“ blieb bis in die Bundesrepublik dominierend. Selbst angesichts der sehr begrenzten Therapieerfolge und der unhaltbaren Zustände in den großen Einrichtungen wurde die deutsche Anstaltspsychiatrie bis in die Nachkriegszeit kaum je in Frage gestellt. Es dominierten die Kontinuitäten. Selbst „Euthanasie“-belastete Anstalten wurden nach 1945 weitergeführt. Ein gesamtgesellschaftlicher Grundkonsens zur Reform der Psychiatrie in Deutschland bildete sich in den 1970er-Jahren heraus und erst in Folge der Psychiatrieenquete setzten sich sozialpsychiatrische Ansätze durch, wie sie schon 100 Jahre früher von Griesinger angeregt worden waren. Seither ging die Entwicklung hin zu kleineren, dezentralen Einrichtungen. Ambulante und komplementäre Dienste flexibilisierten die Behandlung und sorgten gemeinsam mit den Fortschritten auf dem Gebiet der Psychopharmaka für Behandlungserfolge und enorm verkürzte Aufenthaltszeiten in den Kliniken. Die Frage, warum dieser Wandel erst so spät erfolgte, beantwortete Brink mit Verweis auf die notwendigen sozioökonomischen und gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen, neben den medizinischen Fortschritten. Mit dem linken Randgruppendiskurs und der Antipsychiatriedebatte der 1960er/70er-Jahre wurden in dieser Hinsicht wichtige Anstöße gegeben.

Becker knüpfte mit seinem Vortrag über die Bedeutung sozialer Faktoren im Zusammenhang mit psychischer Krankheit und psychiatrischer Behandlung thematisch an die von Brink eröffneten Perspektiven an. Er verwies eingangs auf den Zusammenhang von sozialem Umfeld und Gesundheit, den man bereits in empirischen Untersuchungen der 1930er-Jahre erkannt hatte. Studien unter anderem in Bristol hatten gezeigt, dass die Bewohner von Hafenvierteln und anderen Stadtteilen mit schlechtem Wohnumfeld einem verstärkten Risiko für eine psychische Erkrankung ausgesetzt waren. Dieser Schichteffekt wurde in der Folge verschiedentlich bestätigt. Dabei wurden bestimmte Risikogruppen identifiziert, die sowohl von Armut als auch, damit zusammenhängend, besonders stark von psychischen Krankheiten bedroht waren/sind. Beispielhaft nannte Becker die zweite Generation von Einwanderern, bei denen je nach soziokulturellem und ethnischem Hintergrund besondere soziale, psychische Belastungen und damit einhergehend besondere Risiken zu konstatieren seien.

Im Rahmen des ersten Podiums blickte FRANZ-WERNER KERSTING (Münster) nochmals zurück auf die Psychiatriereformen der 1970er-Jahre. Bis dato habe unter dem Paradigma der „Institutionalisierung“ eine strikte Trennung zwischen dem Außen und Innen, der Gesellschaft und der Anstalt geherrscht. Nach ersten Ansätzen seit den 1950er-Jahren, die Kersting als „Reform vor der Reform“ beschrieb, sei das Anstaltsparadigma des 19. Jahrhunderts erst durch die Öffnung der alten Landeskrankenhäuser in den 1970er-Jahren abgelöst worden. Man könne durchaus, so Kersting, von einem „atemverschlagenden Wandel“ sprechen, der – wie Brink zurecht betont habe – das Ergebnis eines Zusammenwirkens vieler Faktoren war, nicht zuletzt des spezifischen „Zeitklimas“ seit 1968.

Das zweite Panel „Psychische Krankheit: Modelle der Neurobiologie und Genetik“ wurde von HANS-WALTER SCHMUHL (Bielefeld) eröffnet, der auf die Geschichte der psychiatrischen Genetik in Deutschland seit den 1920er-Jahren einging. Das bis heute weithin verbreitete Bild dieser Teildisziplin als methodisch unreflektierte „Pseudowissenschaft“ sei besonders durch das Wissen um die nationalsozialistische Erbgesundheitspolitik und ihre Betonung des Erbfaktors geprägt. Gleichwohl sei eine solche, an den heute verbindlichen Standards wissenschaftlicher Forschung gemessene Sichtweise unangemessen. Um dies zu verdeutlichen ging Schmuhl in drei Schritten zunächst auf den Forschungsstand der Humangenetik der späten 1920er- und 1930er-Jahren ein, stellte daraufhin die Frage, inwieweit die psychiatrische Genetik diesen Forschungsstand rezipierte und ihre Konzepte entsprechend anpasste und wie sich dies schließlich an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik auswirkte.

Die bis in die 1920er-Jahre weithin gültige Vorstellung, dass sich jedes Merkmal nach den Mendelschen Gesetzen dominant oder rezessiv vererbe, hielt den Ergebnissen der Mutationsforschung, der Populationsgenetik und der Entwicklungsphysiologie nicht stand und machte einem „höheren Mendelismus“ Platz. Dabei gerieten auch Umwelteinflüsse und das komplexe Zusammenspiel von Genen innerhalb des Gesamtgenoms in den Blick. Als Beispiel für die Rezeption dieser Erkenntnisse in der Psychiatrie führte Schmuhl die Forschungen Hans Luxenburgers (1894-1976) aus den 1930er-Jahren an. Dieser gelangte zu der Erkenntnis, dass die simple Unterscheidung zwischen „Erbleiden“ und „Nichterbleiden“ angesichts des komplexen Zusammenwirkens von Genom und äußeren Einflüssen verschiedenster Art nicht aufrechtzuerhalten sei. Psychische Krankheit sei immer das Ergebnis verschiedener Wechselwirkungen und Ursachenkomplexe. Was bedeutete diese Erkenntnis für die Psychiatrie und speziell für die verbreiteten Ansichten über den Nutzen „eugenischer Prophylaxe“?

Die neuen Erkenntnisse über die vielfältigen Ursachen psychischer Krankheit räumten, so Luxenburger, mit dem Irrtum auf, „dass den Erbleiden gegenüber grundsätzlich nur eine eugenische Prophylaxe möglich sei. Prophylaxe und Therapie machten in dieser Perspektive auch bei vermeintlichen „Erbleiden“ Sinn, wenn sie bei den mit verursachenden Umwelteinflüssen ansetzten. Die wissenschaftlichen Grundlagen des NS-„Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ mussten aus Sicht der Lehre vom höheren Mendelismus als durchaus fragwürdig erscheinen. Dennoch wurden Forschungsanstrengungen forciert, um das diagnostische Instrumentarium zu verfeinern und zu erweitern und kranke Erblinien zuverlässig aufspüren und wirkungsvoll „ausmerzen“ zu können. Hinzu kam das Selbstverständnis der psychiatrischen Genetik als „angewandte Wissenschaft“, die in zunehmendem Maße nicht mehr nur der Logik der Wissenschaft sondern auch der Logik der (Bio-)Politik folgte, in der der Volksgesundheit die höchste Priorität eingeräumt wurde. In dieser Konstellation zwischen Wissenschaft und Politik plädierten viele Forscher wie auch Luxenburger zu Beginn des „Dritten Reiches“ für eugenische Sterilisierungen in großem Maßstab – wohlwissend, dass sie sich dabei wissenschaftlich auf schwankendem Boden bewegten. Folglich beruhten die NS-Medizinverbrechen keineswegs auf einer wissenschaftlichen Anschauung, die einseitig den Faktor der Vererbung verabsolutierte. Der „Sündenfall“ der psychiatrischen Genetiker und Rassenhygieniker bestand vielmehr darin, „dass sie Forschung und therapeutische Praxis in einen biopolitischen Kontext stellten.“

Die aktuelle Psychiatrie war im zweiten Panel durch ANDREAS MEYER-LINDENBERG (Mannheim) vertreten. Auch er betonte nochmals die Zusammenhänge zwischen sozialer Umgebung, Krankheitsrisiken und Lebensdauer und identifizierte bestimmte Stressfaktoren wie die Stadtumgebung, den sozialen Status oder einen möglichen Migrationshintergrund, die die Vulnerabilität für psychische Krankheiten erhöhen können, also pathogen wirken. Am anschließenden Podium warf BERND WALTER (Münster) nochmals einen Blick auf die Geschichte der Psychiatrie in der Zwischenkriegszeit. Diese folgte angesichts zusammenbrechender Versorgungssysteme und unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise seit den späten 1920er-Jahren zunehmend einer auf die bloße Vererbung fokussierten eugenischen Sichtweise – allen schon damals vorliegenden Erkenntnissen über die Bedeutung von Umweltfaktoren für die Entstehung psychischer Krankheit zum Trotz. Aus dem Plenum wurde auf die erst jüngst begonnene Auseinandersetzung der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) mit ihrer eigenen Geschichte hingewiesen.

Das dritte und letzte Panel „Psychisches Kranksein: Die subjektive Innensicht des Patienten“ eröffnete PAUL HOFF (Zürich). Er spannte den großen historischen Bogen von vormodernen Ansichten über das Wesen seelischer Krankheit über die Verwissenschaftlichung der Psychiatrie im 19. Jahrhundert bis zur jüngsten Vergangenheit der Disziplin, die sich durch eine immer stärkere Ausdifferenzierung der Behandlungsmethoden auszeichne. Seinen Vortrag schloss Hoff mit der Formulierung zweier Thesen: Erstens werde mit Blick auf die Geschichte deutlich, dass psychiatrische Aussagen deutlich stärker von theoretischen Vorannahmen (beispielsweise dem vorherrschenden Krankheitsmodell) sowie vom kulturellen Kontext abhängig seien als Aussagen in anderen medizinischen Disziplinen. Daraus folge, so Hoffs zweite These, dass eine Begriffsgeschichte der Psychiatrie keine l`art pour l`art, sondern eine wesentliche Erkenntnisquelle für die heutige Psychiatrie darstelle. Auf Hoffs Vortrag folgte mit THOMAS BOCK (Hamburg) ein Verfechter trialogischer Behandlungsansätze, die er in seinem Vortrag als eine den Bedürfnissen von Kranken und Angehörigen entsprechende Form der Therapie beleuchtete. Das darauffolgende letzte Podium stand ganz im Zeichen sozialpsychiatrischer Praxis.

Die dialogische Form der Veranstaltung und die Struktur der Panels, die auf einen Austausch zwischen Geschichtswissenschaft und Psychiatrie gesetzt hatte, wurden von den Anwesenden als sehr gelungen bewertet. Von verschiedenen Seiten wurde abschließend der Wunsch geäußert, diese Form des interdisziplinären Austauschs zwischen Geschichtswissenschaft und Psychiatrie in Form regelmäßiger Veranstaltungen unter dem Dach des LWL fortzusetzen.

Konferenzübersicht:

Wolfgang Kirsch (Münster), Begrüßung

Martina Hoffmann-Badache (Düsseldorf), Festrede

Cornelia Brink (Freiburg), Psychische Krankheit: Antworten der Sozialpsychiatrie (Historische Sichtweise)

Thomas Becker (Ulm), Psychische Krankheit: Antworten der Sozialpsychiatrie (Psychiatrische Sichtweise)

Hans-Walter Schmuhl (Bielefeld), Psychische Krankheit: Modelle der Neurobiologie und Genetik (Historische Sichtweise)

Andreas Meyer-Lindenberg (Mannheim), Psychische Krankheit: Modelle der Neurobiologie und Genetik (Psychiatrische Sichtweise)

Paul Hoff (Zürich), Psychisches Kranksein: Die subjektive Innensicht des Patienten (Historische Sichtweise)

Thomas Bock (Hamburg), Psychisches Kranksein: Die subjektive Innensicht des Patienten (Psychiatrische Sichtweise)


Redaktion
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